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Fische sind cool: Eine Just-so-Story über die Konsequenzen der Warmblütigkeit

Vor gut 120 Jahren, im Jahr 1902, veröffentlichte der britische Autor Rudyard Kipling eine Geschichtensammlung mit dem Titel „Just So Stories for Little Children“: logisch klingende, aber frei erfundene Erklärungen dafür, wie Tiere zu ihren auffälligsten Merkmalen gekommen sind, etwa das Kamel zu seinem Höcker oder der Elefant zu seinem Rüssel. Ihren Titel verdankt die Sammlung der Forderung seiner jungen Tochter, dass er die Geschichten „genau so“ erzählen oder vorlesen müsse, jeden Abend exakt gleich. In Anlehnung an Kipling bezeichnen Evolutionsbiologen schwer überprüfbare (oder zumindest noch nicht überprüfte), aber verführerisch einleuchtend klingende Erklärungen für die evolutionäre Herausbildung von tierischen Merkmalen oder menschlichen Eigenschaften als Just-so-Stories.

Die roten Blutkörperchen oder Erythrozyten der Säugetiere sind scheibenförmig und in der Mitte dünner als am Rand, denn sie enthalten keinen Zellkern und keine Organellen, dafür aber viel Hämoglobin, um Sauerstoff aus den Lungen über die Blutbahn in die Organe zu transportieren:

In Fischen, Amphibien und Reptilien haben die Erythrozyten dagegen einen Kern, und sie übernehmen wichtige Aufgaben im Immunsystem. So helfen sie bei der Bekämpfung von Viren-, Bakterien- und Pilz-Infektionen, etwa durch die Ausschüttung von Botenstoffen und reaktiven Sauerstoffspezies oder durch die Bindung, Aufnahme, Verarbeitung und Präsentation von Antigenen. Zwar enthalten sie auch Hämoglobin und dienen dem Sauerstofftransport, aber daneben sind sie vollwertige, wehrhafte Immunzellen:

Dass die roten Blutkörperchen der Säugetiere ihre Kerne kurz nach der Entstehung im Knochenmark abstoßen, klingt zunächst nach einem Rückschritt. Denn da sie ohne Kerne und Organelle keine Proteine mehr produzieren können, spielen sie im Immunsystem der Säuger eine so untergeordnete Rolle, dass sie in Listen der Zelltypen des Immunsystems meist gar nicht aufgeführt werden. Stattdessen konzentrieren sich die abgeflachten Zellen ganz auf den Sauerstofftransport; das Hämoglobin macht 90 Prozent ihres Trockengewichts aus.

Über den Grund für den Verlust des Zellkerns der Säugetier-Erythrozyten kursiert eine Just-so-Story: Fische, Amphibien und Reptilien sind wechselwarme (poikilotherme oder ektotherme) Tiere, deren Körpertemperatur von der Umgebungstemperatur abhängt. Säugetiere sind dagegen gleichwarme (homoiotherme oder endotherme) Tiere, umgangssprachlich auch Warmblüter genannt. In dem meisten Lebenslagen müssen sie viel Energie aufwenden, um ihren Körper aufzuheizen. Dadurch sind sie weniger abhängig vom Wetter, können beispielsweise ihre Jungen im Leib austragen und vielfach auch im Winter aktiv bleiben. Um die Wärme zu generieren, braucht ihr Gewebe viel Energie, und um Energieträgermoleküle wie ATP aufzubauen, braucht es sehr viel Sauerstoff. Den schaffen die roten Blutkörperchen herbei. Also weg mit deren Zellkernen, her mit Unmengen an Hämoglobin, um den Körper mit Sauerstoff zu versorgen!

Klingt logisch – zumal Säugetiere ja zumeist an Land leben und nicht ständig in einer Bakterien- und Virensuppe herumschwimmen, während Fische und auch Amphibienlarven das Wasser sogar durch ihre Kiemen filtern, also ständig sehr eng mit vielen Krankheitserregern in Berührung kommen.

Aber … Moment mal! Was ist denn mit den Vögeln? Auch sie sind gleichwarm, brauchen also meistens viel Energie, um sich gegenüber der Umgebung aufzuheizen. Und ihre roten Blutkörperchen?

Tja: Die haben trotzdem Zellkerne. Damit fällt die einleuchtende Erklärung für den Kernverlust der Säugetier-Erythrozyten in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Nicht immer sind Just-so-Stories so leicht zu erkennen. Wir Menschen haben das Bedürfnis, Dinge zu begreifen, und verspüren oft eine tiefe Befriedigung, wenn wir auf eine nachvollziehbare Erklärung für ein Phänomen stoßen. Im Autoimmunbuch und im Friendly-Fire-Blog bin ich besonders anfällig für Just-so-Stories, denn ich schreibe dies alles ja in erster Linie, um mir selbst und anderen Interessierten unser Immunsystem und die Entstehung von Autoimmunerkrankungen begreiflich zu machen. Denn je besser ich die unheimlichen Entgleisungen meines Immunsystems verstehe, desto weniger ängstigen sie mich. Auch wenn ich skeptisch und wachsam zu bleiben versuche, wird bestimmt die eine oder andere evolutionsbiologische oder ökologische Herleitung im Buch und im Blog schlecht altern. Aber das nehme ich in Kauf.

Schreiben in Zeiten multipler Krisen

Eigentlich habe ich heute keine Zeit zum Bloggen – und außerdem sehr schlechte Laune. Gerade deshalb muss es raus:

Es fällt mir oft schwer, mich zur Arbeit an Band 2 zu motivieren. Nicht, dass es keinen Spaß machen würde, neue Facharbeiten zu lesen und zusammenzufassen oder Ideen für Zeichnungen und für die Buchgestaltung festzuhalten, und das habe ich in den letzten Tagen auch ab und zu getan. Aber die multiplen Krisen nagen an mir: Pandemie, Krieg und vor allem die Klima- und die Biodiversitätskrise.

Seit am Montag der „Synthesis Report“ des 6. IPCC-Sachstandsbericht veröffentlicht wurde, brodelt es besonders stark in mir. Ich bin pessimistisch, was die Fähigkeit unserer Gesellschaft angeht, das Ruder herumzureißen, und frage mich, was so ein Buch über die Evolution der Immunsysteme und die Zunahme der Autoimmunerkrankungen überhaupt soll in jener Welt, auf die wir zusteuern.

Noch eindringlicher stellt sich mir diese Frage in Sachen Brotberuf. Ich erlebe eine starke Dissonanz zwischen dem, was eigentlich geboten wäre, und dem, was wir jeden Tag tun oder für die kommenden Jahre planen. Zugleich scheint mir, dass Institutionen und Organisationen der evidenzbasierten Medizin viel aus dem lernen könnten, was die Klimawissenschaften in den letzten Jahren durchmachen: Sie forschen wie blöde, verfassen eindringliche Warnungen – und werden im Grunde ignoriert. Auch für die evidenzbasierte Medizin hat die Politik nicht viel mehr übrig als Lippenbekenntnisse. Dazu folgt in Kürze ein gesonderter Blogbeitrag. [Nachtrag am 20.04.23: Den habe ich nicht geschafft. Vielleicht später einmal.]

Was das Buch angeht: Ja, natürlich mache ich weiter. Ich muss mich auch nicht vor der Welt da draußen rechtfertigen für mein Schneckentempo – auch wenn es mir für diejenigen Leser*innen von Band 1 leid tut, die ab und zu nach Band 2 fragen. Aber für mich selbst muss ich das hier einmal zu Protokoll geben und mir auch Dispens erteilen: Es ist ja völlig logisch, dass globale Krisen Störfaktoren sind – auch im eigenen Leben und Schaffen.

Ich versuche das ins Konstruktive zu wenden, indem ich die Zusammenhänge zwischen meinen Themen und diesen Krisen stärker herausarbeite. Wie auch Richard Lucius in seinem lesenswerten Buch „Die Kraft unseres inneren Ökosystems“ konstatiert, ist die deutliche Zunahme von chronischen Entzündungen und Autoimmunerkrankungen im 20. und 21. Jahrhundert in der „entwickelten“ Welt im Grunde nichts anderes als eine Biodiversitätskrise, Folge eines Artensterbens in unserem Inneren, das wiederum auf unintendierte und allzu lang heruntergespielte Folgen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise zurückzuführen ist.

Auch die Migration von Menschen und anderen Lebewesen, die durch Klimawandel und Klimakatastrophen ausgelöst wird, führt zu einem ökologischen Mismatch zwischen ihren Mikrobiomen und Immunsystemen einerseits und den Lebensumständen in ihren neuen Lebensräumen andererseits, was massive gesundheitliche Folgen haben kann. Wenn wir also das Klima und die Biosphäre stabilisieren, tun wir auch der eigenen Gesundheit etwas Gutes.

Also: Es geht vorwärts, aber sehr langsam. Es ruckelt und klemmt des öfteren. Such is life.

Schübe

Seit einer halben Ewigkeit habe ich hier nichts mehr geschrieben. Die Corona-Krise hat ihren Teil dazu beigetragen, außerdem Ablenkungen wie die Website der Scientists-for-Future-Regionalgruppe Köln/Bonn und die Baumkolumne im Principia-Magazin. Zurzeit beschäftige ich mich mit der Entstehung von Pflanzengallen, und das ist tatsächlich ein Thema, das ebenso gut hierher passen würde wie in die Baumkolumne, denn es hat viel mit Abwehrreaktionen auf Pathogene zu tun. Es steht auch noch ein längerer Artikel über das Immunsystem der Fledertiere aus, ausgelöst durch die Corona-Krise, aber auch eine hervorragende Basis für ein Kapitel über die Evolution des Immunsystems der Säugetiere im zweiten Band des Autoimmunbuchs – der aber noch eine Weile auf sich warten lässt.

Im und nach dem Urlaub (den wir notgedrungen zu Hause verbracht haben, da an eine Reise durch Schweden und auf die finnischen Aland-Inseln nicht zu denken war) habe ich außerdem einen Hashimoto-Schub (oder zwei?) durchgemacht. Auch nach neun Jahren brauche ich meistens zwei Tage, um zu realisieren, dass ich gerade einen Schub habe, denn die Symptome sind vielfältig und manchmal irreführend, und erst nach einer Weile fängt die Schilddrüse selbst an zu schmerzen. Dann fällt der Groschen.

In der Zeit vor und kurz nach meiner Hashimoto-Diagnose, als ich hormonell noch nicht gut eingestellt war, ist mein Blutzuckerwert ab und zu heftig entgleist; ich hatte beängstigende Unterzuckerungserscheinungen wie abrupt einsetzende Kraftlosigkeit beim Radfahren oder auch beim Gehen. Damals habe ich mir Traubenzucker besorgt und in all meine Taschen verteilt, um im Notfall zumindest noch genug Energie aufzubringen, um mich nach Hause zu schleppen. Dann war jahrelang Ruhe; die Blutwerte deuteten nicht auf Diabetes hin, und die Traubenzucker-Plättchen zerbröselten oder setzten Staub an. Ich räumte sie wieder aus den Taschen. Jetzt aber habe ich sie wieder jederzeit griffbereit, denn es ging plötzlich wieder los: vor einigen Wochen totale Entkräftung bei einem harmlosen Spaziergang, letzten Freitag Durst-Attacken und entsprechende Rennerei …

Manchmal schwellen die Lymphknoten am Hals bei einem Schub an; ein wenig dick sind sie seit Jahren ständig. Oft juckt die Haut, teils am ganzen Körper, teils nur am Hals. Das Halsjucken geht dem Schilddrüsen-Druckschmerz oft voraus; ich vermute, dass es ein Zeichen für die Infiltration der entzündeten Schilddrüse durch Immunzellen und die Ausschüttung von Botenstoffen wie Histamin ist. Weitere körperliche Symptome können Verdauungsprobleme oder Schwindelgefühle sein. Die leichte chronische Entzündung, die während eines Schubs aufflammt, macht sich auch an den Ohrläppchen bemerkbar, die plötzlich selbst nickelfreie Ohrringe nicht mehr vertragen, heiß werden, anschwellen und nässen, und an einem allgemeinen Krankheitsgefühl wie bei einer Erkältung: Die Schwerkraft scheint sich verdoppelt zu haben, und die Gelenke ziehen.

Am unangenehmsten aber sind die psychischen Symptome, die teils nur durch die Länge von einer Depression zu unterscheiden sind: Steckt ein Schub dahinter, klingen sie nach wenigen Tagen ab. Typische Begleiter eines Schubs sind schlechte Laune, Unleidlichkeit, Ungeduld mit mir selbst und anderen sowie eine durch und durch negative Sicht auf die Welt und meine Situation, die objektiv in vieler Hinsicht sehr gut ist.

Noch schlimmer sind die Tage, an denen ich völlig unbeteiligt durch die Welt schlafwandle, gewissermaßen als Zuschauerin meines Lebens. Es ist, als wäre ich von der Umwelt durch eine Doppel- oder Dreifachverglasung isoliert. Nur durch ständige bewusste Anstrengung kann ich den Reizen aus der Außenwelt genug Aufmerksamkeit widmen, um zu Fuß oder auf dem Rad sicher am Straßenverkehr teilzunehmen. Keine Ahnung, ob man mir das anmerkt; ich gehe normal zur Arbeit oder zum Einkaufen und „funktioniere“ offenbar halbwegs, aber es gelingt mir in solchen Phasen nicht, innerlich mit der Welt in Verbindung zu treten.

Hashimoto-Thyreoiditis: Wenn das Immunsystem ein lebenswichtiges Organ angreift

Ich habe kürzlich einen Vortrag gehalten, auf dessen Folien neben Zeichnungen aus Band 1 und für Band 2 auch einige neue Zeichnungen vorkommen. Der Vortrag dauert etwa 45-60 Minuten, ist also für eine 90-minütige Veranstaltung geeignet, etwa bei Selbsthilfegruppen oder in Bildungseinrichtungen oder Kliniken. (Anfragen bitte an die im Impressum genannte Mailadresse!)


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Die Schleimpilz-Methode: Wie ich Fachliteratur suche

Gestern und heute habe ich wieder zahllose Browser-Tabs gesichtet und geschlossen, neue Tabs geöffnet, PDFs heruntergeladen, Artikel ausgedruckt, andere nicht ausgedruckt, aber abgespeichert, die neue Literatur in Kurznotation in meine Scrivener-Datei für Band 2 eingetragen, einen zum Bersten vollen Aktenordner auf zwei verteilt und einen der Ordner alphabetisch durchsortiert.

Dabei habe ich über meine Recherche-„Methode“ nachgedacht, die im größtmöglichen Kontrast zu den systematischen Literatursuchen steht, wie sie in dem Institut praktiziert werden, in dessen Kommunikationsressort ich arbeite. Das ist in Ordnung so, denn ich schreibe Sachbücher und keine wissenschaftlichen Gutachten oder Metaanalysen. Kostenpflichtige, nicht allgemein zugängliche Datenbanken spielen bei mir keine Rolle. Ich besorge mir vor allem Open-Access-Literatur und Artikel, die jemand ungeschickter- oder frecherweise in einem frei zugänglichen Repository abgelegt hat, obwohl sie nicht frei zugänglich sein sollten – ergänzt um die eine oder andere Arbeit, die mir nette Menschen hinter der jeweiligen Bezahlschranke hervorzaubern. An Schattenbibliotheken wie Sci-Hub traue ich mich nicht heran. Mein wichtigstes Recherche-Tool ist tatsächlich Google, und zwar meist sowohl Google Scholar als auch die allgemeine Suche, denn die beiden ergänzen sich prächtig.

Meine Suchvorgänge sind kreative Prozesse, bei denen die Zahl der geöffneten Suchfenster und Fundstellen-Tabs an- und wieder abschwillt, manchmal im Minuten- oder Stundentakt, manchmal über Tage und Wochen hinweg. Diese Recherchen kommen mir oft vor wie lebende Wesen, die pulsieren und atmen, die ihre Pseudopodien in alle möglichen Richtungen und Winkel ausstrecken und dann wieder einziehen, die Jahresringe bilden, die ab und zu Äste absterben lassen und neue Triebe bilden … Sie erinnern mich an Dictyostelium discoideum, jene soziale Amöbe, die sich durch totes Laub und Humus vorantastet und die auch Labyrinthe durchwandern kann.

Ob mich eine Arbeit so weit interessiert, dass ich mir den Volltext besorge und sie abspeichere, hängt nicht vom Impact Factor der Fachzeitschrift ab, in der sie publiziert wurde. In meinen Dateiordnern und Aktenordnern liegen durchaus einige Artikel aus den Frontiers-Journals, die keinen guten Ruf genießen, und ein paar Arbeiten aus stark bullshit-kontaminierten Feldern wie den Ernährungswissenschaften (mit freundlicher Unterstützung von Danone & Co.). Ausschlusskriterien sind eher eine völlig krude Schreibe (oft von Asiaten), die es unmöglich macht, die Aussagen nachzuvollziehen, oder ein hoher „Laberfaktor“. Bei einigen sehr renommierten Autoren winke ich inzwischen ab, weil sie ihre Namen offenbar auf alles schreiben, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, und alle paar Monate eine neue Sau durchs Dorf treiben.

Reviews sind mir willkommen, aber es müssen keine systematischen Reviews sein, und ich lese auch viele Einzelstudien. Hoch erfreut reagiere ich auf aussagekräftige grafische Abstracts und überhaupt auf gute Grafiken, die mir Ideen für meine Strichzeichnungen liefern. Die Arbeiten sollten möglichst nicht älter als drei, vier Jahre sein – es sei denn, ich bin durch eine Rückwärtssuche zur „Mutter aller Probleme“ vorgedrungen, zu einer älteren Arbeit, in der etwa ein heute noch relevantes Konzept vorgestellt wurde. Da ich mittlerweile sieben Jahre an meinem Projekt sitze, ist ein erheblicher Teil meiner Funde schon wieder überholt: Die Immunologie und die Mikrobiom-Forschung sind hochdynamische Forschungsfelder. Deshalb kann ich mich auch nicht auf die Lektüre und allgemein verständliche Zusammenfassung von Fach- und Lehrbüchern beschränken: Die Bücher, die ich bräuchte, gibt es nicht. Darum schreibe ich sie ja.

Der Stempel, den ich gerne hätte: „in mice, not humans!“

Mitte August habe ich den reichweitestärksten Tweet meiner bisherigen Social-Media-„Karriere“ und zugleich den erfolgreichsten deutschsprachigen Wissenschaftskommunikations-Tweet der Woche geschrieben. Verrückterweise wurde er wohl auch wegen des süßen Babyfotos so oft geliket und retweetet, dessen Verwendung ich gerade kritisierte:

Längst nicht jeder wird den ernsten Hintergrund dieses Tweets verstanden haben oder nachvollziehen können – aber es waren auch viele WissenschaftlerInnen und WissenschaftskommunikatorInnen dabei, und einige Rückmeldungen haben mir gezeigt, dass ich mit meinem Frust nicht alleine bin: Seit Jahren werden uns sowohl in der Fachpresse als auch in der Laienpresse Ergebnisse von Mikrobiom-Sudien an Tiermodellen so verkauft, als gälten sie eins zu eins auch für Menschen. Mal sind es die Studienpublikationen selbst, die das in der Überschrift suggerieren und erst irgendwo in der Einleitung oder gar im Methodenteil klarstellen, dass man an einem bestimmten Mäusestamm gearbeitet hat. Mal sind es die Pressemitteilungen der Forschungseinrichtung, die diesen Umstand erst gegen Ende beiläufig erwähnen und zugleich durch das mitgelieferte Bildmaterial falsche Erwartungen wecken, wie in diesem Fall. Und mal fallen die Mäuse und Ratten erst beim Transfer der Nachricht in die Tagespresse unter den Tisch.

Es sind nicht nur Provinzblätter und Werbeseiten, die falsche Erwartungen wecken: Ich habe mich hier schon einmal über eine krasse Text-Bild-Schere im News-Teil des renommierten Wissenschaftsjournals Science mokiert, in dem eine Studie zu Unterschieden zwischen der Darmflora männlicher und weiblicher Mäuse und damit einhergehenden Neigungen zu Autoimmunerkrankungen mit einer Illustration aufgehübscht wurde, in der eine Frau und ein Mann zu sehen sind.

Bei Twitter hat mich dann prompt jemand belehrt: Mäuse und Menschen seien als Säugetiere so eng verwandt und einander physiologisch so ähnlich, dass man an Mäusen gewonnene Erkenntnisse über irgendwelche Mechanismen und Signalwege an der Darmwand durchaus auf Menschen übertragen könne. I beg to differ, und das möchte ich hier anhand zweier aktueller Übersichtsarbeiten näher ausführen – in Ergänzung dessen, was ich bereits vor drei Jahren über Mäuse schrieb (Live fast, Love hard, Die young):

Nguyen, T. L. A., Vieira-Silva, S., Liston, A., & Raes, J. (2015). How informative is the mouse for human gut microbiota research? Disease Models & Mechanisms8(1), 1–16. http://doi.org/10.1242/dmm.017400

Hugenholtz, F., & de Vos, W. M. (2018). Mouse models for human intestinal microbiota research: a critical evaluation. Cellular and Molecular Life Sciences75(1), 149–160. http://doi.org/10.1007/s00018-017-2693-8

Ja, anatomisch und physiologisch haben Mäuse und wir vieles gemeinsam. Aber es gibt auch biologische Unterschiede: im Genom, in der Ernährung, in der Anatomie und Physiologie des Verdauungstrakts und seiner Teile (einschließlich des örtlichen Immunsystems), in der Zusammensetzung der Magen- und Darmflora und in den krankhaften Veränderungen dieses Mikrobioms.

Genom

Mit Mäusen meine ich im Folgenden Stämme der Art Mus musculus, die zum Teil seit über 100 Jahren als Versuchstiere gezüchtet werden. (Als Haustiere werden sogenannte Farbmäuse schon seit 1200 v. Chr. kultiviert, anfangs in China.) Es gibt über 400 Zuchtstämme.

Der letzte gemeinsame Vorfahr von Maus und Mensch lebte vor über 90 Millionen Jahren. Dennoch stimmen wegen einer starken Konservierung (also Selektionsvorteilen der alten Sequenzen gegenüber neuen Varianten, die durch Mutation entstehen) über 85 Prozent ihres Genoms noch überein. Die größten Unterschiede finden sich nicht in DNA-Abschnitten, die Proteine codieren, sondern in Steuerungssequenzen wie den Bindungsstellen von Transkriptionsfaktoren.

Insbesondere das Immunsystem und seine Regulierung haben sich zwischen Maus und Mensch stark auseinander entwickelt. Die Unterschiede im lokalen Immunsystem des Verdauungstrakts dürften einer der Gründe dafür sein, dass die Ergebnisse vieler an Mäusen durchgeführten Studien zu Entzündungen und Erkrankungen mit Beteiligung des Immunsystems bei Menschen nicht reproduziert werden konnten.

Das Gen für TLR5, jenen Rezeptor der angeborenen Abwehr, um den es in der Nature-Veröffentlichung von Fulde et al. geht, die mit dem süßen Baby „beworben“ wurde, gibt es sowohl bei Menschen als auch bei Mäusen. Überhaupt ähneln sich die TLR-Repertoires beider Arten – identisch aber sind sie nicht. Es ist auch nicht sicher, dass die einander genetisch entsprechenden Rezeptoren in Maus und Mensch exakt dieselben Funktionen ausüben, in denselben Zelltypen zu denselben Zeiten exprimiert werden, dieselben Signalketten auslösen und so weiter.

Ernährung, Energie- und Vitamin-Gewinnung

Mäuse sind Allesfresser, wobei der Großteil ihrer Kost pflanzlich ist. Ihre Nahrung enthält wesentlich mehr schwer aufzuschließende Kohlenhydrate als unsere. Menschen sind im Prinzip ebenfalls Omnivoren, die aber weniger schwer verdauliche Pflanzenbestandteile zu sich nehmen. Auch der Aufbau des Verdauungstrakts strikter Veganer ist evolutionär an die gemischte, fleischhaltige Kost ihrer Urahnen angepasst. Unsere Darmflora reagiert dagegen zügig (wenn auch mit recht subtilen Anpassungen) auf eine Ernährungsumstellung.

Ein Problem bei Mäuse-Studien: Die Zusammensetzung des Trockenfutters wird von den Herstellern nicht offengelegt und schwankt offenbar je nach Agrarmarktlage. Manchmal enthält es beispielsweise Luzerne, die wiederum Phytoestrogene enthalten kann. Diese Substanzen können im Körper wie Estrogen wirken und damit etwa Immunreaktionen oder auch die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflussen.

Die Transitzeit einer Mahlzeit beträgt beim Menschen 14-76 Stunden – je schwerer verdaulich, desto länger. Resistente Stärke ist zum Beispiel fast 20 Stunden länger in uns unterwegs als leicht verdauliche Stärke. Bei Mäusen ist die Transitzeit mit 6-7 Stunden deutlich kürzer: Wie alle kleinen Warmblüter haben sie eine viel höhere Stoffwechselrate und daher einen (relativ zum Körpergewicht) viel größeren Stoffumsatz als wir. Sie müssen fast rund um die Uhr fressen, um ihren Energiebedarf zu stillen – und haben daher nur wenige Stunden Zeit, ihre schwer verdauliche Nahrung aufzuschließen. Sie lösen dieses Problem mit einem Trick, den wir Menschen (zum Glück!) nicht beherrschen.

Im vorderen Bereich des Mäuse-Dickdarms gibt es eine „Schleimfalle“: Falten und Furchen, in denen mit Darmbakterien durchmischter Nahrungsbrei hängen bleibt. Von dort wird er ein Stück „stromaufwärts“ in den Blinddarm geschoben. In dieser Fermentierkammer gewinnen die Bakterien Fettsäuren, Vitamin K und einige B-Vitamine aus der Kost. Die Nährstoffe und Vitamine können im Dickdarm nicht resorbiert werden und werden mit dem Kot ausgeschieden. Aber Mäuse fressen ihren Kot (sogenannte Koprophagie) und nehmen die wertvollen Stoffe beim zweiten Durchlauf im Dünndarm ins Blut auf. Auch ein Teil der wertvollen Darmflora wird so recycelt.

Aufbau des Verdauungstrakts

Mäuse haben – anders als wir – einen großen drüsenfreien Vormagen, der als reiner Nahrungsspeicher dient und mit einem pH-Wert von 3 bis 4 weniger sauer ist als der menschliche Magen mit seinem pH-Wert von etwa 1. In diesem weniger aggressiven Milieu gedeihen Bakterien: Die Wand des Vormagens ist mit einem Biofilm aus Lactobacillus-Arten ausgekleidet. Auch der Drüsenmagen, der sich an diese Kammer anschließt, ist weniger sauer als der menschliche Magen, da sich in ihm ständig frische Kost mit den Magensäften und der älteren Kost vermischt. Im menschlichen Magen überleben nur wenige Bakterien, die sich an die starke Säure angepasst haben: Streptokokken, Prevotella und Helicobacter pylori.

Der Dünndarm ist bei beiden Arten der längste Teil des Verdauungstrakts. Mit 33 cm ist er bei der Maus 2,5-mal so lang wie der Dickdarm, beim Menschen mit 700 cm 7-mal so lang. Noch deutlicher werden die Verhältnisse bei der Betrachtung der Flächen: In der Maus hat der Dünndarm eine 18-mal größere Oberfläche als der Dickdarm, beim Menschen beträgt der Faktor sogar 400. Durch diese riesige Grenzschicht wird ein Großteil der Nährstoffe in den Körper aufgenommen.

Die Schleimhaut des Dünndarms ist bei der Maus glatt, beim Menschen wirft sie ringförmige Falten, die die Oberfläche vergrößern und den im Schleim lebenden Bakterien Nischen bieten. Die Zotten oder Villi, die ebenfalls die Oberfläche vergrößern, sind dafür bei der Maus länger als beim Menschen.

Der Dickdarm einer Maus ist bis zu 14 cm lang, der eines Menschen etwa 105 cm – relativ zur Körpermasse also viel kürzer als bei dem kleinen, leichten Nager. Man unterscheidet Blinddarm (Caecum – nicht zu verwechseln mit dem Wurmfortsatz, der von Laien oft als Blinddarm bezeichnet wird) und Grimmdarm (Colon). Der Mäuse-Blinddarm dient, wie im vorigen Abschnitt erwähnt, als Fermentationskammer und ist mit 3 bis 4 cm ziemlich lang. Beim Menschen findet die Fermentation dagegen nur im Colon statt; der etwa 6 cm kurze Blinddarm hat keine wichtige Funktion. Der Wurmfortsatz ist bei Mäusen nicht so klar vom Blinddarm abgegrenzt wie wie bei uns. Der Grimmdarm ist bei der Maus glattwandig, beim Menschen hat er Ausbuchtungen (Hausten genannt).

Die Becherzellen, die den Darmschleim produzieren, konzentrieren sich bei der Maus auf den Dünndarm und den Anfang des Dickdarms, während sie sich beim Menschen bis hinunter zum Rektum über die ganze Länge verteilen. Die Paneth-Zellen, die antibakterielle Produkte wie die Defensine ausschütten, fehlen bei der Maus im Colon; es gibt sie nur im Blinddarm. Beim Menschen finden sich dagegen auch einige im Anfang des Colons. Auch die Menge, die Speicherung und die Ausschüttung von Defensinen unterscheiden sich zwischen den Arten; das wiederum kann über die Regulierung der örtlichen Immunreaktionen die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflussen.

Die Colon-Schleimhaut des Menschen produziert den Schleim schneller (etwa 240 µm/h) als die der Maus (etwa 100 µm/h). Die Colon-Schleimschicht wird beim Menschen etwa 480 µm dick und bei der Maus etwa 190 µm. Der Schleim hat eine ähnliche Zähigkeit und Porosität und besteht aus ähnlichen Schleimproteinen, die allerdings in beiden Arten anders glykosyliert werden. Die unterschiedlichen Glykane, die dabei seitlich an das Protein-Grundgerüst angehängt werden, sodass das Makromolekül schließlich wie eine Flaschenbürste aussieht, beeinflussen wiederum die Selektion der Darmflora.

Zusammensetzung des Mikrobioms

Die Darmflora von Maus und Mensch wird von zwei Bakterienstämmen (Stämmen im Sinne von phyla, nicht strains) dominiert, den Bacteroidetes und den Firmicutes. Das gilt auch für viele andere Säugetiere, egal ob Pflanzen- oder Fleischfresser. Dennoch gibt es beträchtliche Unterschiede.

Um diese Unterschiede zu entdecken, muss man sich auf Bakterien konzentrieren, die bei der Mehrheit der untersuchten Mäuse bzw. Menschen vorkommen, und die „Ferner-liefen-Bakterien“ ausklammern, die zwar zur Diversität des Mikrobioms einer der Art beitragen, aber nur in einem Bruchteil der untersuchten Individuen nachzuweisen sind. Sogenannte metagenomische Analysen haben gezeigt: Von den 60 Gattungen der Kern-Darmflora von Mäusen gehören 25 auch zum Kernbestand im menschlichen Darm. Allerdings haben nur 4 Prozent der Mäuse-Bakteriengene mehr oder weniger identische Entsprechungen im Pool der Menschen-Bakteriengene. Ein Beispiel: Lactobacillus reuteri kommt sowohl in Mäusen als auch in Menschen vor, aber die Stämme in den Mäusen (jetzt im Sinne von strains – verdammte terminologische Ambivalenz!) haben andere Urease-Gene, die diese Enzyme befähigen, in einem sauren Milieu zu leben. Auf der funktionellen Ebene sind die Unterschiede kleiner: 80 Prozent der in den Metagenomik-Datenbanken verzeichneten Gen- bzw. Protein-Funktionen sind sowohl bei der Maus als auch beim Menschen vertreten.

Auch wenn eine Bakterien-Gattung bei Mensch und Maus vertreten ist, kann sie in einer der Arten dominieren und in der anderen eine Randerscheinung bleiben. Im Mäuse-Dünndarm sind FaecalibacteriumPrevotella und Ruminococcus viel seltener als im menschlichen Dünndarm. Dafür sind TuricibacterAlistipes und Lactobacillus bei Mäusen viel dominanter als bei uns. Die Gattungen Clostridium, Bacteroides und Blautia sind in beiden Arten etwa gleich stark vertreten.

Wie hier im Blog schon mehrfach besprochen, prägen die sogenannten segmentierten filamentösen Bakterien (SFB) im Darm von Mäusen die Reifung des Immunsystems – vor allem, indem sie in der Schleimhaut junger Mäuse die Bildung von entzündungsfördernden Th17-Helferzellen auslösen. Das prägt nicht nur die „Stimmung“ des örtlichen Immunsystems, sondern sogar die Entwicklung des Gehirns. Bis vor wenigen Jahren dachte man, im menschlichen Darm gebe es gar keine SFB. Inzwischen wurden diese Bakterien, die zu den Firmicutes zählen und auch als Candidatus arthromitus bezeichnet werden, im Mikrobiom einiger (aber längst nicht aller) Kleinkinder unter drei Jahren entdeckt. Ob sie dort eine ähnlich prägende Rolle spielen wie in jungen Mäusen und so womöglich die Neigung bestimmter Erwachsener zu chronischen Entzündungen fördern, ist noch unklar.

Erschwert werden Vergleiche zwischen Mensch und Maus durch die enormen Mikrobiom-Unterschiede zwischen den untersuchten Mäusen. Nicht nur der Zuchtstamm, sondern auch ihr Futter, die Einrichtung, in der sie gehalten werden, und der Käfig, in dem sie mit anderen Mäusen zusammenleben, prägen die Zusammensetzung. (Man denke an die Koprophagie!)

Enterotypen

Auch beim Menschen unterscheidet sich die Mikrobiom-Zusammensetzung zwischen den Individuen. Seit einigen Jahren kennt man drei Enterotypen: Gruppen, deren Darmflora von jeweils anderen Bakterien dominiert wird. Wie klar und stabil diese Gruppen voneinander abgegrenzt sind, ist allerdings umstritten, und wie sie zustande kommen, ist unbekannt.

Bei Labormäusen wurden bislang zwei Enterotypen identifiziert: Wenn Lachnospiraceae und Ruminococcaceae dominieren, entspricht dies dem menschlichen Enterotyp 3; wenn Bacteroidaceae und Enterobacteriaceae vorherrschen, ähnelt dies dem menschlichen Enterotyp 1. Auch bei Wildmäusen lassen sich zwei Enterotypen unterscheiden, die von Bacteroides oder Robinsoniella dominiert werden.

Bei den Labormäusen korreliert die Einteilung mit dem Artenreichtum des Mikrobioms und mit der Neigung zu Entzündungen. Der Bacteroidaceae/Enterobacteriaceae-Enterotyp ist artenärmer und weist mehr Calciprotectin auf, das als Entzündungsmarker fungiert. Das entspricht den Verhältnissen bei Menschen mit starkem Übergewicht, deren Darmflora ebenfalls verarmt und durch ähnliche Bakteriengruppen (Bacteroidetes und Proteobacteria) dominiert ist und die ebenfalls stärker zu Entzündungen neigen.

Krankhafte Veränderungen

Während sich das Mikrobiom in Maus-Modellen für Fettleibigkeit auf ähnliche Weise verschiebt wie beim Menschen, sind die Parallelen bei anderen Erkrankungen längst nicht so stark. So kann zum Beispiel nach wie vor kein Modell für Colitis ulcerosa alle wichtigen Eigenschaften des Erkrankungsprozesses und der Darmflora-Veränderung rekapitulieren.

Das führt auch zum Scheitern von Therapie-Ansätzen. So hatte man nach Studien an IL-10-Knockout-Mäusen große Hoffnungen, dass das Zytokin IL-10 chronisch-entzündliche Darmerkrankungen eindämmen könne. In klinischen Studien an Menschen ließ sich der Effekt aber nicht reproduzieren – vermutlich, weil Menschen einen großen Pool recht unterschiedlicher IL-10-Rezeptoren haben.

Mäuse mit humanisierter Darmflora: keine Patentlösung

Angesichts der Unterschiede zwischen den Darmfloren von Maus und Mensch und der Unvollkommenheit, mit der viele Tiermodelle menschliche Erkrankungen imitieren, liegt es nahe, das Mikrobiom der Mäuse menschenähnlicher zu machen. Dazu kann man keimfreie, also ohne eigenes Mikrobiom geborene und gehaltene junge Mäuse mit menschlicher Darmflora animpfen. Man spricht dann von humanisierten gnotobiotischen Mäusen – „gnotobiotisch“, weil man dann weiß, welche Bakterien in ihnen leben (griechisch gnosis = Wissen).

Dabei können sich alle der in der menschlichen Darmflora vorkommenden Stämme (Phyla), 11 von 12 der Klassen und etwa 88 Prozent der Gattungen aus dem humanen Mikrobiom im Mäusedarm ansiedeln: gar keine schlechte Annäherung. Aber dieses aus dem Menschen stammende Mikrobiom und die Maus haben keine gemeinsame Evolution durchlaufen, sie haben sich nicht über Jahrmillionen aneinander anpassen können. Und wie sich zeigt, reifen humanisierte gnotobiotische Mäuse nicht normal; sie reagieren zum Beispiel nicht normal auf Infektionen. Vielleicht liegt es daran, dass Bakterien und Mäusezellen nicht genau dieselbe Sprache sprechen, ihre Botenstoffe und Signalketten also wegen der 90 Millionen Jahre getrennter Evolution von Maus und Mensch nicht mehr zueinander passen. Oder bei der Ansiedlung gehen einige seltene, aber für die Entwicklung essentielle Bakterien verloren.

An Mäusen führt kein Weg vorbei

All das heißt nicht, dass man keine Mikrobiom-Forschung oder keine immunologischen Studien an Mäusen betreiben sollte. Mäuse sind klein, haben eine kurze Generationsdauer und sind günstig in der Anschaffung und im Unterhalt. Man kann sie auch genetisch verändern, um z. B. bestimmte Gene „auf Knopfdruck“ auszuschalten (sog. Knockout-Mäuse). Für viele Versuche müssen sie getötet werden, etwa um ihnen Gewebeproben zu entnehmen – und zwar in großer Zahl, um statistisch belastbare Ergebnisse zu erhalten. Dieselben Untersuchungen etwa an Schweinen oder Affen durchzuführen, wäre ethisch und praktisch problematisch. Grundlegende Mechanismen oder Signalwege lassen sich an Mäusen durchaus ermitteln – aber sie müssen gründlich am Menschen überprüft werden.

Forscherinnen und Wissenschaftskommunikatoren sollten der Versuchung eigener vorschneller Extrapolationen und erst recht mutwillig evozierter Missverständnisse widerstehen: Wer an Mäusen geforscht hat, sollte das bereits in der Überschrift und im Abstract deutlich machen. Und die Menschen in den PR-Abteilungen der Forschungseinrichtungen sollten wirklich die Finger von süßen Babyfotos und Formulierungen wie „Kindheit“ lassen, wenn es um junge Mäuse geht. Auch der inflationäre Gebrauch von Superlativen, mit denen die jeweilige Studie aus dem medialen Grundrauschen herausgehoben werden soll, geht letzten Endes nach hinten los: Wenn ich innerhalb einer Woche lese, dank der bahnbrechenden Studie A sei nun endlich bewiesen, dass die Darmflora in einem kleinen Zeitfenster nach der Geburt fürs ganze Leben geprägt werde, und die bahnbrechende Studie B habe endlich gezeigt, dass anhaltender Durchfall bei Erwachsenen die Darmflora nachhaltig verändern könne, dann werde ich nächste Woche die bahnbrechenden Studien C, D und E mit einem Achselzucken an mir vorüberziehen lassen.

Kein Lektorat und keine Übersetzungen mehr

Fürs Protokoll: Mit dem 1. August hat sich meine Arbeitszeit in Festanstellung von 50 auf 80 Prozent erhöht. Damit bleibt mir neben der Arbeit an Band 2 nun definitiv keine Zeit mehr, freiberuflich Aufträge zu bearbeiten.

De facto mache ich das seit Jahren nicht mehr, aber es hat sich offenbar noch nicht überall herumgesprochen. Es freut mich, dass meine Arbeit einigen Kolleginnen und Kollegen in so guter Erinnerung geblieben ist, dass sie mich immer noch empfehlen – aber ich kann wirklich keine Manuskripte mehr bearbeiten und keine Autoren mehr betreuen. Dafür bitte ich um Euer/Ihr Verständnis.

Facebook-Seite „Friendly Fire – das Autoimmunbuch“ schließt

Vor 12 Tagen habe ich die Löschung angestoßen, übermorgen wird sie endgültig vollzogen: Facebook drängt Menschen, die ihre Seiten löschen wollen, nämlich eine 14-tägige Bedenkzeit auf. Das mag sinnvoll sein, um Affekt-Taten zu verhindern. Bei mir ist es aber keine Laune und auch keine Reaktion auf die Datenschutz-Grundverordnung oder gar (in paranormaler Weitsicht) auf das heutige Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Datenschutz-Mitverantwortung der Betreiber von Facebook-Fanseiten.

Vielmehr ist auf der Seite all die Jahre herzlich wenig passiert: Sie hat über NetworkedBlogs (einen Dienst, der gerade ebenfalls seine Pforten schließt) halbwegs zuverlässig auf die Beiträge hier im Blog hingewiesen – halbwegs, denn manchmal wurden Abbildungen nicht in die Vorschau übernommen. Originäre Facebook-Seiten-Beiträge habe ich nur selten verfasst, und Interaktion gab es auch kaum.

Ich glaube, das war für alle langweilig und für mich ein Klotz am Bein – denn irgendwie nagte es immer an mir, dass ich aus der Seite so wenig machte. Niemand wird sie vermissen. Rest in peace, „Friendly Fire“ bei Facebook!

Vortrag: Die Abwehr steht! Immunzellen als Teamplayer

Im Lauf der nächsten Monate extrahiere ich aus Band 1 einige Vortragsthemen – das ist wegen der Zeichnungen sinnvoller als reine Lesungen. Den Anfang macht eine etwa 40 Minuten lange, allgemein verständliche und angstfreie Einführung in die Arbeit unserer unterschiedlichen Immunzellen – angstfrei, weil nicht Krankheiten, sondern die normalen Tätigkeiten der Zellen im Fokus stehen.

Der Vortrag hangelt sich an 15 Karikaturen entlang, die ich in kleinerer Runde als A2-Blätter an eine Tafel hängen und in größerer Runde auf eine Leinwand projizieren kann. Vortragsanfragen (etwa von Selbsthilfegruppen) schicken Sie bitte an kontakt@immunbuch.de.

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Seminar am 13. Juni: Schilddrüsenfunktionsstörungen und Psychosomatik

Am 13. Juni findet im Haus der Brandenburgischen Ärzteschaft in Potsdam ein dreistündiges Seminar mit dem Titel „Schilddrüsenfunktionsstörungen – Brücken von der Psychosomatik zur Allgemeinmedizin“ statt. Referent ist der Facharzt Dr. Thomas Lintzen, der sich seit vielen Jahren insbesondere mit der Wechselbeziehung von Morbus Basedow und psychischen Belastungen beschäftigt. Die Kosten betragen 55 Euro, und noch sind offenbar Plätze frei. Hier geht es zur Anmeldung.

Dr. Lintzen machte mich auch auf Studien von Atsushi Fukao aufmerksam, etwa die 2011 erschienene Arbeit „The thyroid function of Graves‘ disease patients is aggravated by depressive personality during antithyroid drug treatment„. Demnach können eine begleitende Psychotherapie oder die Gabe von Antidepressiva die Remission bestimmter, nämlich depressiver und daher mehr negative Belastungen erlebender Patienten mit Morbus Basedow die Chancen auf eine Remission durch die medikamentöse Behandlung verbessern. Das ist jetzt eine stark verknappte und sehr oberflächliche Zusammenfassung meinerseits. Ich hoffe, ich finde demnächst Zeit, mich näher damit zu beschäftigen.