Die wandelnde Wasserwaage

postoperativer Schmuck

Oft heißt es, man könne im Leben nicht alles haben, aber wie ich in letzter Zeit feststellen durfte, kann man durchaus ziemlich viel auf einmal haben. Zum Beispiel Hashimoto-Thyreoiditis, Uterus-Myome und eine Netzhaut-Ablösung. Nachdem mein linkes Auge vorletzte Woche unten rechts kein Bild mehr lieferte, bin ich am Montag zu einem Augenarzt gegangen, der mich nach einem Blick auf die Netzhaut als Notfall in die Augenklinik der Kölner Universitätskliniken überwiesen hat.  

Dort wurde ich selbigen Tags unter lokaler Betäubung operiert: Man verpasste meinem Auge eine Cerclage, eine Art starkes Gummiband rings um den Äquator, das den Augapfel länglich deformiert. (Beim Thema Silikon-Implantate kann ich jetzt mitreden.) Dadurch wird man zwar extrem kurzsichtig, aber der Augapfel drückt die Netzhaut wieder an das darunter liegende Pigmentepithel an, das sie mit Nährstoffen versorgt. Außerdem wurden die Löcher in meiner Netzhaut durch eine Kältebehandlung verschlossen, damit keine weitere Flüssigkeit in den gefährlichen Hohlraum zwischen Netzhaut und Pigmentepithel eindringen kann.

In den meisten Fällen reicht diese Maßnahme aus: Die Flüssigkeit wird langsam durch das Pigmentepithel gedrückt und vom Gewebe resorbiert. Bei mir war das leider nicht der Fall – vielleicht, weil die Flüssigkeit unbemerkt schon vor längerer Zeit eingedrungen war und sich verfestigt hatte. Daher wurde ich am Donnerstag erneut operiert: Wiederum bei örtlicher Betäubung injizierte man mir eine Blase Schwefelhexafluorid ins Auge. Diese Gasblase drückt seither, wenn ich den Kopf aufrecht und leicht nach rechts geneigt halte, auf die abgelöste Netzhaut und die dahinter versammelte Flüssigkeit. Das scheint gut zu wirken; jedenfalls wurde ich gestern aus der Klinik entlassen.

Ich komme mir vor wie eine wandelnde Wasserwaage. Die Gasblase, die ich als dunkelgraues Oval mit dunkelroten Rand am unteren Sichtfeldrand wahrnehme, schwappt bei der kleinsten Bewegung hin und her. (Zähneputzen ist ein besonderer Spaß!) Außerdem hat sie eine schwache Lupenwirkung: Was ich ganz dicht vor mein Auge halte und durch sie hindurch betrachte, erscheint mir vergrößert.

Das Gas wird sich in den nächsten Wochen allmählich verflüchtigen. Danach geht es zur Kontrolluntersuchung, und eine neue Brille brauche ich auch. Bis dahin muss das rechte Auge doppelte Arbeit leisten; es ermüdet rasch, sodass ich möglichst wenig lese. Übrigens ist Schwefelhexafluorid eines der übelsten Klimagase überhaupt. Insofern ist es nur fair, dass ich derzeit keine Flugreisen unternehmen darf: Meine persönliche Kohlendioxidbilanz dürfte durch die OP ziemlich in die Miesen geraten sein.

Ob die Netzhaut ihre Arbeit wieder aufnimmt, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen. Jedenfalls kann ich derzeit wenig am Autoimmunbuch tun. Auch die beiden Übersetzungen, an denen ich arbeite, verzögern sich, da ich auf keinen Fall acht Stunden am Tag lesen und/oder am Bildschirm arbeiten kann. Einen dritten kleinen Auftrag (den lukrativsten seit Jahren!)  musste ich absagen.

Kunst am Bau: Augenklinik, Uni Köln

Um nicht ganz so miesepetrig zu schließen: Ein Gutes hatte der Klinikaufenthalt. Ich bin in meinem Dreibettzimmer insgesamt vier Leidensgenossinnen begegnet, die wohl alle schwerere Päckchen zu tragen haben als ich und die alle das Beste aus ihrem Los machen.

Da war die 86-jährige, nahezu taube Dame mit Diabetes, die ihren Blutzuckerwert selbst bestimmt, sich ihr Insulin selbst spritzt und auch alle anderen alters- und krankheitsbedingten Schwierigkeiten klaglos meistert.

Die Frau ohne Kehlkopf, die regelmäßig ohne Assistenz ihr Absauggerät bediente, um ihre Lungen zu befreien, und sich lächelnd mit einfachen Gesten verständigte.

Die künstlerisch aktive Dame im Bett neben meinem, die immer wieder vergaß, warum sie überhaupt dort war, wen sie anrufen wollte, wo der Lichtschalter war oder wie die Klinik hieß: Ihre Vergesslichkeit war ihr peinlich, aber ansonsten war sie aufgeweckt, äußerst liebenswürdig und an allem interessiert. Sie freute sich darauf, nach der Entlassung ihren Garten wiederzusehen und endlich wieder in ihrem Atelier malen zu können.

Und kurz vor meiner Entlassung das vielleicht 14-jährige Mädchen mit der sehr, sehr dicken Brille und dem astronomischen Augendruck, mit dem ich außer „Hallo“ und „Auf Wiedersehen“ kein Wort wechseln konnte, das aber ebenfalls einen äußerst gefassten und autonomen Eindruck machte.

Mitzuerleben, wie diese vier ihr Leben meistern, hat mir jeden Anflug von Selbstmitleid gründlich ausgetrieben. Insofern bin ich froh, dass ich keine Zusatzversicherung für eine Einzelzimmerunterbringung habe: Allein hätte ich in diesen fünf, sechs Tagen ruhiger geschlafen, mich aber auch öfter hilflos gefühlt als in der Gesellschaft dieser freundlichen und unverzagten Frauen.

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