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Wenn die Müllabfuhr streikt: Autophagie und Autoimmunerkrankungen

Kaum ein halbes Jahr nach der Verleihung des Nobelpreises an Yoshinori Ōsumi, der diesen zellulären Schutzmechanismus an Hefen erforscht hat, schreibe ich nun auch was zur Autophagie. Den Schwerpunkt lege ich dabei auf die Berührungspunkte zu meinem eigentlichen Thema, den Autoimmunerkrankungen.

Regelmäßige Müllabfuhr

In unseren Zellen ist ständig Müll zu entsorgen, auch wenn sie bei bester Gesundheit sind: Überraschend viele frisch hergestellte Proteine sind falsch zusammengefaltet, und wenn das nicht sofort korrigiert werden kann, müssen sie wieder abgebaut werden. Andere Makromoleküle werden mit der Zeit beschädigt oder einfach nicht mehr benötigt. Sogar ganze Organellen wie Mitochondrien müssen zerlegt werden, um nicht die Zelle zu verstopfen, leck zu schlagen oder schädliche biochemische Reaktionen in Gang zu setzen. Nicht nur, dass das alte Material schaden kann: Es besteht auch aus wertvollen Bausteinen wie Aminosäuren, die die Zelle recyceln muss, um mit ihrem begrenzten Energievorrat auszukommen.

Schienentransport

Proteine können auf zwei Wegen abgebaut werden. Etwa 80 Prozent werden in tonnenförmigen Strukturen zerlegt, den Proteasomen. Große Proteinkomplexe und Organellen passen allerdings nicht in diese Abfalltonnen hinein. Sie werden stattdessen von Lysosomen verdaut, von Membranbläschen, die mit Enzymen gefüllt sind: den sauren Hydrolasen. Die Lysosomen halten sich in der Nähe des Zellkerns auf und verschmelzen dort mit sogenannten Autophagosomen. Diese sind von einer doppelten Membranschicht umgeben und enthalten den abzubauenden Zellmüll. Sie entstehen überall in der Zelle, wo es etwas zu entsorgen gibt: Dort bilden sich zunächst Doppelmembran-Lappen, die Phagophoren, die sich dann um den Schrott herumschmiegen und zu einem Müllsack verschmelzen.

Die verschlossenen Müllsäcke (die Autophagosomen) werden dann an Schienen – den röhrenförmigen Mikrotubuli, die zum sogenannten Zellskelett gehören – zu den Lysosomen transportiert. Die kleinen Lysosomen vereinigen sich mit den größeren Autophagosomen zu Autolysosomen, sodass die Enzyme den Zellmüll zu kleinen Bausteinen zerlegen können. Diese verlassen die Autolysosomen und stehen im Zytoplasma zum Aufbau neuer Makromoleküle zur Verfügung.

Neben dem allgemeinen Recycling gibt es auch eine selektive Sondermüllabfuhr: Bei Bedarf werden zum Beispiel Mitochondrien, Fetttröpfchen, Ribosomen oder in die Zelle eingedrungene Pathogene mit speziellen Markern (sozusagen Abholzetteln) gekennzeichnet und daraufhin gezielt entsorgt.

Bedarfsgesteuerter Abfuhrtakt

Den ganzen Vorgang nennt man Makroautophagie oder kurz Autophagie, weil die Zelle Teile ihrer selbst (griechisch auto) vertilgt (griechisch phagein = essen). Die daran beteiligten Proteine sind in den Atg-Genen codiert (autophagy-related genes), von denen man in der Hefe allein 36 identifiziert hat. Bei Säugetieren wie dem Menschen sind von vielen der Proteine zudem mehrere Varianten bekannt, sogenannte Isoformen.

Wenn der Prozess gestört ist, beispielsweise weil eines dieser Gene einen Defekt hat, gerät die Zelle aus dem Gleichgewicht, aus der Homöostase: Sowohl überzogenes Reinemachen als auch ein Streik der Müllabfuhr können zu Funktionsstörungen oder zum Zelltod führen.

Es gibt jedoch Situationen, in denen der Abfuhrtakt erhöht werden muss – etwa wenn die Zelle hungert und unnötige Strukturen abbauen muss, um Lebenswichtiges damit herzustellen oder zu erhalten, oder wenn Stress wie zum Beispiel eine Infektion, Chemikalien oder UV-Licht den Verschleiß von Zellkomponenten beschleunigen. Auch Bakterien und andere Pathogene sowie ihre Überreste werden bei einer Infektion per Autophagie aus dem Zytoplasma beseitigt.

Dem Tod von der Schippe springen

Wie am Ende meiner Todesarten-Übersicht erläutert, konkurrieren am Anfang der Zelltodesprogramme Überlebenssignale mit Sterbesignalen. Ist eine Zelle nicht tödlich verwundet, unrettbar infiziert oder dermaßen entgleist, dass ihr Fortbestand andere Zellen gefährden würde, kann das Ruder noch herumgerissen werden: Dann wird die Autophagie verstärkt, um die Zelle ins Gleichgewicht zurückzubringen, und zugleich das Sterbeprogramm blockiert.

Zu den lebenserhaltenden Signalen zählen etwa der Kontakt zur extrazellulären Matrix, bestimmte Hormone, Chemokine oder Neurotransmitter sowie dezidierte Überlebensfaktoren (survival factors) wie IGF-1 (insulin-like growth factor 1). Sie binden an Rezeptoren auf der Zelloberfläche, woraufhin an der Innenseite der Zellmembran Signalketten in Gang kommen, die zur Bindung des Transkriptionsfaktors NF-κB an bestimmte Gene im Zellkern führen. Diese anti-apoptotischen Gene (zum Beispiel Bcl-2) werden dann abgelesen, und die Genprodukte hemmen die Todesprogramme der Zelle.

Das kann beispielsweise durch eine verstärkte Autophagie von Mitochondrien geschehen, die bei Zellstress beschädigt wurden und daraufhin Cytochrom C freisetzen, das die Effektor-Phase einer intrinsischen Apoptose einleitet: Kommen die Autophagosomen dem zuvor, bleibt die Zelle am Leben.

Schädliche Durchhalteparolen

Bei mildem Zellstress oder entsprechend konditionierten, also an erhöhte Stresslevel gewöhnten Zellen können Überlebenssignale also reichen, um beispielsweise eine Apoptose zu verhindern. Ist der Stress dagegen zu stark, überwiegen die pro-apoptotischen Signale, und die Zelle stirbt.

Dabei ist ein Überleben nicht immer gut für den Organismus und ein Zelltod nicht immer schlecht. Man denke nur an Krebszellen im Inneren eine Tumors, die ständig Stress wie Sauerstoff- oder Nährstoffmangel erfahren und sich trotzdem weigern einzugehen: Dank genetischer Veränderungen können sie die Apoptose verhindern, obwohl sie aus ihrer Umgebung eigentlich mehr Sterbekommandos als Überlebenssignale empfangen.

Und um allmählich die Kurve zu den Autoimmunerkrankungen zu kriegen: Autoreaktive T- und B-Zellen können nur deshalb dauerhaft Unheil anrichten, weil sie entweder in sogenannten Überlebensnischen wie dem Knochenmark mit Überlebenssignalen versorgt werden – oder weil sie, wie Krebszellen, ihr Überleben von solchen Signalen unabhängig gemacht haben.

Autophagie und Autoimmunerkrankungen

Autophagie ist im Immunsystem besonders wichtig, weil Immunzellen sich bei Bedarf in kurzer Zeit massiv vermehren müssen und ihr Stoffwechsel nach ihrer Aktivierung Hochleistungen vollbringen muss, für die viel Energie benötigt wird.

Genomweite Assoziationsstudien (GWAS) haben ergeben, dass etliche kleine Varianten in den Autophagie-Genen, vor allem Atg5 und Atg16l1, mit der Neigung zu Lupus (SLE), Morbus Crohn, Multipler Sklerose und rheumatoider Arthritis assoziiert sind. Sowohl ein Übermaß als auch ein Mangel an Autophagie kann zu Autoimmunstörungen beitragen, je nachdem, in welchen Zellen die Müllabfuhr aus dem Lot gerät.

Über welche Mechanismen eine genetisch angelegte Autophagie-Fehlfunktion zu den Erkrankungen beiträgt, ist nicht immer klar. Im Folgenden führe ich einige mögliche Mechanismen an, die zum Teil erst in Tiermodellen und Gewebekulturen untersucht wurden. Der Weg zu einer Therapie ist also noch lang, und wie so oft wird die Kunst darin bestehen, den Teufel nicht mit dem Beelzebub auszutreiben – also die Autophagie gezielt in bestimmten Zelltypen anzukurbeln oder zu bremsen, ohne dass es andernorts zu unerwünschten Effekten kommt. 

Autophagie-Defizienz in der Entwicklung von Zellen der erworbenen Abwehr

T-Zellen entstehen im Knochenmark und reifen im Thymus heran, wo sie eine starke Selektion durchlaufen, die für die Selbsttoleranz des Immunsystems sorgt. Die dafür verantwortlichen Thymus-Epithelzellen (TEC) betreiben viel Autophagie, um den jungen T-Zellen ständig neue Antigene auf ihren MHC-Komplexen präsentieren zu können. Mäuse, deren TEC wegen einer Atg5-Defizienz zu wenig Material recyceln, entwickeln starke Autoimmunerkrankungen, da die autoreaktiven unter den T-Zellen im Thymus nicht zuverlässig aussortiert werden.

In den jungen T-Zellen selbst scheint Autophagie keine besondere Rolle zu spielen – wohl aber bei der Entstehung frischer B-Zellen: Bei einer Atg5-Defizienz sterben ihre Vorläufer ab.

Autophagie-Störungen in reifen Zellen der erworbenen Abwehr

Die T- und B-Zellen von Lupus-Patienten scheinen mehr Autophagie zu betreiben als die gesunder Menschen, und Wirkstoffe, die diese Überaktivität hemmen, scheinen sowohl Mäusen als auch Menschen mit Lupus gutzutun.

Aber zu wenig Autophagie schadet ebenfalls: Autophagie-Defekte führen in T-Zellen zur Anhäufung von überalterten Mitochondrien, die unter anderem reaktionsfreudigen Sauerstoff (ROS) freisetzen, was die T-Zellen vorzeitig absterben lässt. Auch fehlen den T-Zellen wegen ihrer schlechten Recycling-Quote ATP und Rohstoffe, sodass sie sich kaum noch aktivieren und zur Vermehrung anregen lassen.

Vorzeitig alternde T-Zellen mit Energiedefiziten wurden zum Beispiel im Blut von Menschen mit rheumatoider Arthritis gefunden. Man vermutet, dass der so entstehende Mangel an funktionstüchtigen T-Zellen (Lymphopenie) durch eine übermäßige Vermehrung autoreaktiver T-Zellen kompensiert wird.

Autophagie-Defizienz in Zellen der angeborenen Abwehr

Bei der Beseitigung apoptotischer Zellen durch Makrophagen sind auf beiden Seiten Autophagie-Proteine im Spiel: Die sterbenden Zellen brauchen sie, um „Kommt und holt mich“-Signale auszusenden, und in den Fresszellen sind sie an der Verdauung der vertilgten Zellbestandteile beteiligt. Bei einer Autophagie-Defizienz können sich tote Zellen oder Zellbestandteile im Gewebe ansammeln, wie man es beispielsweise bei Lupus beobachtet hat. Aus nicht rechtzeitig entsorgten toten Zellen treten Autoantigene wie DNA oder RNA aus, die Entzündungen und Autoimmunreaktionen auslösen können.

Vor allem Makrophagen und Neutrophile bilden, wenn sie entsprechend aktiviert werden, Inflammasomen: Proteinkomplexe, die für die massenhafte Ausschüttung der Zytokine IL-1β oder IL-18 sorgen, die wiederum T- und B-Zellen anlocken. Eine intakte Autophagie bremst die Bildung von Inflammasomen, denn bei guter Verdauung brauchen die Zellen keine Hilfe von außen. Schwächelt die Autophagie in Makrophagen oder Neutrophilen, kann es aber zu überzogenen Reaktionen der erworbenen Abwehr auf harmlose Antigene kommen.

Auch die Antigen-Präsentation auf MHC-Klasse-II-Komplexen gelingt Makrophagen und dendritischen Zellen offenbar nur mithilfe von Autophagie, denn die aufgenommenen Antigene müssen ja zerschnitten, zu den MHC-Klasse-II-Komplexen (den „Präsentiertellern“) transportiert und nach dem Vorzeigen wieder nach innen geschafft und entsorgt werden. Autophagosomen können entweder (bei der Autophagie) mit Lysosomen fusionieren oder (zum Zwecke der Antigen-Präsentation) mit den Kompartimenten, in denen die MHC-Klasse-II-Komplexe auf ihre Beladung mit Antigenen warten. Vielleicht führen bestimmte Genvarianten dazu, dass die Autophagosomen ihren Inhalt sozusagen an die falsche dieser beiden Adressen liefern. So können Varianten im Gen Atg16l1 das Morbus-Crohn-Risiko erhöhen – vermutlich weil die T-Zellen dann nicht genug Pathogen-Antigene präsentiert bekommen und daher nicht richtig aktiviert werden.

Bei rheumatoider Arthritis präsentieren Makrophagen und dendritische Zellen den T-Zellen chemisch leicht veränderte, sogenannte citrullinierte Antigene. Man vermutet, dass diese Veränderungen die Selbsttoleranz des Immunsystems aushebeln und zu den Autoimmunreaktionen in dem Gelenken führen. Hemmt man die Autophagie in den antigenpräsentierenden Zellen, werden vor allem weniger citrullinierte Antigene präsentiert.

Autophagie-Störungen in anderen Zellen

An Morbus Crohn, einer chronischen Entzündung, die bei Menschen mit entsprechender genetischer Disposition von Keimen aus der Darmflora ausgelöst oder zumindest beeinflusst wird, kann ein Versagen der Autophagie in den Zellen der Darmschleimhaut beteiligt sein: Bestimmte Escherichia-coli-Stämme dringen in die Epithelzellen ein, um sich in ihrem Inneren zu vermehren. Eine intakte Autophagie verhindert oder begrenzt diese Vermehrung; bei Autophagie-Defekten können die Keime dagegen überhand nehmen und tiefer ins Gewebe eindringen, wo sie die chronische Entzündung auslösen.

Störungen der internen Müllabfuhr könnten in allen möglichen Zellen auch das Endoplasmatische Reticulum (ER) unter Stress setzen, ein membranreiches, netzförmiges Organell, das unter anderem der Protein-Herstellung dient. ER-Stress wiederum trägt bei Typ-2-Diabetikern zur Insulinresistenz bei, und zwar auf mehreren Wegen: Er stört die Insulin-Herstellung in den Betazellen der Bauchspeicheldrüse, treibt diese Zellen zur Apoptose, löst Entzündungen aus und führt zu einer Anhäufung von Fetten.

Auch bei Hashimoto-Thyreoiditis scheint die Müllabfuhr zu streiken: In den Follikel-Epithelzellen der Schilddrüse von Menschen mit dieser Erkrankung hemmt hoch dosiertes Jod die Autophagie und kurbelt zugleich die Apoptose an – zumindest in vitro. Sollte sich das in vivo bestätigen, könnte man versuchen, die schwächelnde Autophagie in den Schilddrüsenzellen zu stärken und so die Organzerstörung aufzuhalten.

Literatur:

Abhisek Bhattacharya, N. Tony Eissa (2013): Autophagy and autoimmunity crosstalks

Liam Portt et al. (2011): Anti-apoptosis and cell survival: A review

Chengcheng Xu (2016): Excess iodine promotes apoptosis of thyroid follicular epithelial cells by inducing autophagy suppression and is associated with hashimoto thyroiditis disease (Abstract)

Zhen Yang et al. (2015): Autophagy in autoimmune disease

Kompendium der Todesarten

So nützlich die Wikipedia ist, viele ihrer Texte zu immunologischen Themen und angrenzenden Wissensgebieten sind hoffnungslos veraltet – so veraltet, dass ich oft gar nicht erst versuche, sie zu verbessern, da mir die Probleme uferlos erscheinen. So beruht der Artikel „Programmierter Zelltod“ auf einer Doktorarbeit aus dem Jahr 2004. Hundejahre muss man angeblich mit 7 multiplizieren, um ungefähr auf das Menschenalter zu kommen; mit der Zellbiologie verhält es sich ähnlich: Nach 13 Jahren ist der Artikel vergreist.

Da mich der Wildwuchs der Zelltod-Bezeichnungen in der Fachliteratur verwirrt hat, habe ich kürzlich zwei Arbeiten des internationalen Nomenklatur-Komitees für Zelltod (Nomenclature Committee on Cell Death, NCCD) gelesen, auf deren Basis ich demnächst wenigstens den zentralen Abschnitt des Wikipedia-Eintrags überarbeiten kann.

Programmierter Zelltod als Teilmenge des geregelten Zelltods

Das NCCD unterscheidet zwischen „accidental cell death“, also dem unfalls- oder zufallsbedingten, ungeplanten Zelltod, und „regulated cell death“, also geregeltem Zelltod. Der programmierte Zelltod ist eine Teilmenge des Letzeren und umfasst alle Fälle, in denen tatsächlich ein genetisch verankertes Programm abläuft, und zwar entweder im Zuge der Entwicklung eines Lebewesens, bei der Interim-Strukturen wieder abgebaut werden müssen, oder zum Erhalt des ausgewachsenen Organismus, etwa beim Ersatz infizierter, beschädigter oder alter Zellen.

Geregelt, aber nicht im eigentlichen Sinne programmiert sterben beispielsweise Zellen, in denen Reparaturversuche gescheitert sind und die Lebensprozesse nun geordnet heruntergefahren werden. Ungeplant ist typischerweise die Nekrose, von der hier schon oft die Rede war: Bei ihr treten Substanzen aus dem Zellinneren aus, die als Autoantigene Autoimmunreaktionen auslösen oder als Gefahrensignale (DAMPs) die angeborene Abwehr aktivieren können, wie kürzlich am Beispiel des Moleküls HMGB1 erläutert. In den letzten Jahren hat sich aber gezeigt, dass es Mischformen gibt, etwa eine regulierte Nekrose.

Paradigmenwechsel: Biochemie statt Morphologie

In seinen vorvorletzten Empfehlungen hatte das NCCD 2009 noch versucht, die Typen des Zelltods morphologisch zu definieren, also etwa danach einzuteilen, ob eine Zelle von einer anderen vertilgt wird oder sich selbst geregelt abbaut oder ohne jeden Verdauungsprozess stirbt. Wegen der Schwierigkeit, Zellen anzusehen, welches Programm in ihnen abläuft, und zugleich großer technischer Fortschritte schwenkte es 2012 auf molekulare Definitionen um: Welchen Tod eine Zelle stirbt, sollte eine Reihe genau messbarer biochemischer Eigenschaften zeigen.

Das hat für Laien den Nachteil, dass die Definitionen mit den Namen aller möglicher Signalstoffe und Enzyme vollgestopft sind, die das jeweilige Programm ausführen. Ich lasse im Folgenden viele Details weg, aber einige Bezeichnungen lassen sich nicht vermeiden.

Die Haupttodesarten

Extrinsische Apoptose: Dieses Zelltodesprogramm wird durch außerzelluläre Stress-Signale ausgelöst – entweder durch „Todesbotenstoffe“, die an spezifische Todesrezeptoren in der Zellmembran andocken, oder durch den Verlust von Lebenserhaltungssignalen, die normalerweise an bestimmte Rezeptoren gebunden sind. Alle Todesrezeptoren tragen an ihrer Innenseite, also am Ende, das in das Zytoplasma ragt, dieselbe 80 Aminosäuren lange Todes-Domain, die durch eine Konformationsänderung des Rezeptors bei Bindung des Todessignals aktiviert wird und in der Zelle eine Signalkette auslöst, die letztlich zum Tod und zur geordneten Entsorgung der Zelle führt.

An dieser Signalkette sind Caspasen beteiligt, Apoptose-typische Enzyme, die andere Proteine hinter einer bestimmten Aminosäure zerschneiden. In manchen Zellen wird dadurch die äußere der beiden Membranen der Mitochondrien durchlöchert, sodass die Mitochondrien – die Kraftwerke der Zellen – quasi entladen und damit funktionsuntüchtig werden und zugleich giftige Proteine ins Zytoplasma freisetzen. Unter diesen spielt Cytochrom C eine besondere Rolle: Im Zytoplasma stößt es die Bildung eines Komplexes aus vielen Proteinen an, des Apoptosoms, das wiederum Caspasen aktiviert, die die Proteine in der Zelle zerlegen. In anderen Zellen wie den Lymphozyten werden die Caspasen, die den Zelltod vollstrecken, ohne vorherige Zerstörung der äußeren Mitochondrien-Membran aktiviert.

Wie die Apoptose abläuft, die nicht durch Bindung von Todessignalen, sondern durch den Verlust von Lebenserhaltungssignalen ausgelöst wird, ist noch nicht so gut untersucht; auch hier sind aber Caspasen beteiligt.

Intrinsische Apoptose: Dieses Programm wird durch alle möglichen innerzellulären Stress-Signal ausgelöst, etwa durch DNA-Schäden, oxidativen Stress, die Anhäufung falsch gefalteter Proteine usw. Gleichzeitig mit diesen pro-apoptotischen, also das Todesprogramm fördernden Signalkaskaden werden oft auch konkurrierende anti-apoptotische, also lebenserhaltende Prozesse gestartet, die den Zellstress auf nicht tödliche Weise zu beseitigen versuchen. Die Signale laufen in den Mitochondrien zusammen und werden dort verrechnet: Überwiegen die Todessignale, wird die äußere Mitochondrien-Membran durchlöchert, sodass der Zelle die Energie ausgeht, toxische Stoffe aus den Mitochondrien ins Zytoplasma gelangen und sich aggressiver Sauerstoff (ROS) anhäuft, der wiederum die pro-apoptotischen Signale verstärkt.

Es folgen, wie oben bei der extrinsischen Apoptose, die Bildung eines Apoptosoms und die Aktivierung von Caspasen. Andere Enzyme zerschnippeln im Zellkern die DNA-Stränge. Ein Teil der Prozesse ist also Caspase-abhängig, ein anderer nicht. Entsprechend enttäuschen verliefen Versuche, diese Art des Zelltods durch Caspase-hemmende Wirkstoffe aufzuhalten: Das Ende wird oft nur etwas hinausgezögert.

Regulierte Nekrose: Auch eine Nekrose, früher der Inbegriff eines traumatischen Zelltods, kann geregelt ablaufen. Auslöser sind zum Beispiel bestimmte DNA-Schäden oder die Bindung externer Todessignale (etwa Tumornekrosefaktor α) an Todesrezeptoren. Wenn man die Caspasen in einer durch externe Signale zur Apoptose angehaltenen Zelle gezielt ausschaltet, stirbt sie oftmals trotzdem. Vermittelt wir der Tod dann über andere Enzyme namens RIP1 und RIP3. RIP steht dabei nicht für „requiescat in pace“ oder „rest in peace“, sondern für „receptor interacting protein“.

Ob diese Todesart mit der sogenannten sekundären Nekrose identisch ist, die laut der immunologischen Literatur in der Spätphase einer Apoptose auftreten kann, ist mir unklar – vermutlich eher nicht.

Autophagischer Zelltod: Die Bezeichnung ist problematisch, da sie suggeriert, dass die Autophagie – also ein eigentlich der Rettung von Zellen in Hungerzeiten und anderen Notlagen dienendes Programm – die Zellen sterben lässt. Tatsächlich sehen manche sterbende Zellen autophagischen Zellen mit ihren vielen Vakuolen im Zytoplasma unter dem Mikroskop ähnlich, aber das heißt nicht, dass hier dasselbe Programm abläuft: ein gutes Beispiel für die Untauglichkeit morphologischer Zelltod-Definitionen.

In ausgewachsenen Organismen sind Zelltod und Autophagie (also die Verdauung kurzfristig nicht lebensnotwendiger Zellstrukturen zum Recycling wichtiger Rohstoffe oder zur Bekämpfung innerzellulärer Pathogene) zumeist gegenläufige, einander blockierende Programme. Während der Entwicklung eines Organismus endet Autophagie dagegen häufig mit dem Tod der Zelle. Dann kann man sie als Form des programmierten Zelltods ansehen.

Mitotische Katastrophe: Auch wenn bei einer Zellkernteilung oder Mitose etwas schief geht, wird ein Todesprogramm gestartet, um etwa zu verhindern, dass Zellklone mit unvollständigen oder falsch organisierten Chromosomensätzen entstehen, aus denen Tumoren werden könnten. Dieses Programm ist also eher ein onkosuppressiver, d. h. Krebs unterdrückender Mechanismus, der entweder zum Tod oder zur Seneszenz – gewissermaßen dem Ruhestand – der Zelle führt.

Ferner liefen

Anoikis: Eine deutsche Entsprechung (Anoike?) für diesen Ausdruck, der „Unbehaustheit“ bedeutet, hat sich noch nicht etabliert. Viele Zellen etwa in unserer Haut benötigen Kontakt zu einer extrazellulären Matrix und den von ihr ausgehenden Überlebenssignalen (etwa Integrin und epidermaler Wachstumsfaktor), um zu gedeihen. Verlieren sie diese Bodenhaftung, gehen sie ein. In der Ausführungsphase ähnelt dieses Programm der intrinsischen Apoptose.

Entosis: Auch für diesen Tod durch Verzehr durch eine Nicht-Fresszelle, der vor allem in Tumoren beobachtet wird, fehlt noch ein deutscher Ausdruck wie Entose. Dem NCCD zufolge sollte man nur von Entosis sprechen, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: 1. Die verschlungene Zelle darf nicht aus dem Phagosom (quasi deren Schlund) der anderen Zelle entweichen und muss von deren Lysosom (gewissermaßen dem Magen) abgebaut werden. 2. Beide beteiligten Zellen gehören demselben Typ an; professionelle Fresszellen sind nicht beteiligt. 3. Substanzen, mit denen man die Caspase-abhängige oder -unabhängige intrinsische Apoptose blockieren kann, halten den Prozess nicht auf.

Parthanatos: Das Kofferwort bezeichnet einen Tod (griechisch thanatos) durch das Enzym Poly(ADP-Ribose)-Polymerase 1, kurz: PARP1. Normalerweise trägt es zur Reparatur von DNA-Schäden bei, aber seine Überaktivierung vergiftet die Zelle gewissermaßen: Die lebenswichtigen Moleküle NAD+ und ATP gehen verloren, und der Apoptose-Induktionsfaktor (AIF) wird freigesetzt. Dieses Todesprogramm läuft unter anderem bei Schlaganfällen, Diabetes, Entzündungen und neurodegenerativen Erkrankungen ab, ist von Caspasen unabhängig und zählt möglicherweise zu den oben behandelten regulierten Nekrosen.

Pyroptose: Zunächst bei Salmonellen-infizierten Makrophagen beschrieben, ist dieses Todesprogramm keineswegs auf Makrophagen und Bakterieninfektionen (auch mit Shigella, Listeria, Pseudomonas usw.) beschränkt. Pyroptotische Zellen können sowohl nekrotischen als auch apoptotischen Zellen ähneln. In ihnen wird das Enzym Caspase-1 aktiviert, und es ist noch unklar, ob es sich um eine Sonderform der oben besprochenen Caspase-abhängigen intrinsischen Apoptose handelt. An ihrer Ausführung sind die entzündungs- und fieberfördernden (pyrogenen) Interleukine IL-1β und Il-18 beteiligt.

NETose: Neutrophile und eosinophile Granulozyten können durch Stimuli wie bakterielle Moleküle dazu angeregt werden, sogenannte neutrophile extrazelluläre Netze (kurz NETs) auszustoßen, die überwiegend aus Inhalten ihrer Zellkerne wie DNA und Histonen bestehen und antimikrobiell wirken. Unter physiologischen Bedingungen sterben die Zellen durch den Ausstoß eines Teils ihres Zellkerns merkwürdigerweise nicht. Bei der Stimulation mit bestimmten künstlichen Verbindungen wird jedoch in manchen Neutrophilen ein seltsames Todesprogramm ausgelöst, die NETose. Sie geht oft, aber nicht immer mit dem Ausstoß von NETs einher, ist nicht Caspase-abhängig, wohl aber auf die enzymatische Bildung von Hyperoxiden (O2) und auf Teile der Autophagie-Maschinerie angewiesen. Sie ähnelt teils dem autophagischen Zelltod, teils der regulierten Nekrose.

Verhornung: Die Zellen der äußeren Schicht unserer Epidermis sterben geregelt ab und bilden so die Hornhaut: eine Schicht aus toten Keratinozyten, die großenteils aus bestimmten Proteinen wie Keratin und aus Fetten bestehen und die Haut stabil, widerstandsfähig, elastisch und wasserabweisend machen. Zwar durchlaufen auch andere Zellen eine ähnliche „terminale Differenzierung“, etwa rote Blutkörperchen oder die Zellen im Augenlinsen-Epithel, die dabei ihre Zellkerne einbüßen. Aber anders als diese können die Keratinozyten anschließend keinen stressbedingten Tod mehr sterben. Daher wird die Verhornung als gesondertes Todesprogramm angesehen.

Point of no Return

In seinen bislang jüngsten Empfehlungen aus dem Jahr 2015 beschäftigt sich das NCCD vor allem mit den Phasen des regulierten Zelltods. In den letzten Jahren gab es zahlreiche Versuche, den Zelltod etwa bei bestimmten Erkrankungen medikamentös auszubremsen. Viele Ansätze erwiesen sich als wirkungslos – wohl da sie in der späten Phase ansetzten, in der sich das Todesprogramm nicht mehr aufhalten lässt.

Das NCCD teilt den regulierten Zelltod in neun Schritte ein.

Die ersten beiden zählen zur reversiblen Phase und können durch geeignete zytoprotektive, d. h. zellschützende Maßnahmen gestoppt werden:

  • Störung der Homöostase
  • frühe Signalwege

Es folgt die Grenze zwischen Leben und Tod:

  • Point of no Return

Dann beginnt die irreversible Phase, in der zytoprotektive Maßnahmen nicht mehr fruchten:

  • späte Signalwege
  • unmittelbare Ursachen oder Effektoren des regulierten Zelltods
  • primärer Zelltod

In der dritten, der vermeidbaren Phase breitet sich der Zelltod auf die Nachbarschaft aus, wenn das nicht – etwa medikamentös – verhindert wird:

  • Freisetzung von Gefahrensignalen (DAMPs)
  • Entzündungsreaktionen
  • Einleitung des sekundären regulierten Zelltods (teils direkt durch die DAMPs, teils durch die Entzündung)

Besonders enttäuschend verliefen Versuche, den Tod von Säugetierzellen durch die Blockade von Caspasen zu stoppen: Die Zellen starben nun ein wenig langsamer, da die Effektorphase des regulierten Zelltods offenbar aus mehreren parallelen Strängen besteht. Für den Tod unmittelbar verantwortlich sind wohl nicht die Caspasen, sondern der Verlust des Zelltreibstoffs ATP und die Störung des Redox-Gleichgewichts, die zahlreiche Enzyme deaktivieren und Organellen und Membranen der Zelle beschädigen.

Erfolgversprechender ist die Stärkung von Überlebenssignalen, die ganz am Anfang des Sterbevorgangs, also direkt nach der Störung der Homöostase, mit den frühen Todesprogramm-Signalen konkurrieren. Eingriffe in die Spätphase können dennoch sinnvoll sein, wenn sie die Freisetzung von DAMPs und damit die Ausbreitung des Sterbens auf das benachbarte Gewebe verhindern. Das gilt auch und besonders für den Teufelskreis aus Zelltod, DAMP- bzw. Antigen-Freisetzung und Angriffen des so aktivierten Immunsystems auf weitere Zellen, wie wir ihn bei Autoimmunerkrankungen beobachten.

Literatur:

L. Galluzzi et al. (2012): Molecular definitions of cell death subroutines: recommendations of the Nomenclature Committee on Cell Death 2012

L. Galluzzi et al. (2015): Essential versus accessory aspects of cell death: recommendations of the NCCD 2015

 

Checks and balances: Das Alarmsignal HMGB1

Im vorigen Beitrag ging es um Polly Matzingers danger theory, der zufolge ein Gewebe, das eine Infektion oder einen physikalisch oder chemisch bedingten Schaden erleidet, Gefahren- oder Schadsignale aussendet, die das Immunsystem aktivieren. Solche DAMPs (danger- oder damage-associated molecular patterns) können durch Traumata wie Quetschungen, Verschleiß, Verbrennungen oder Infarkte aus dem Inneren von Zellen austreten, in denen sie sich normalerweise verbergen, und lösen dann im Immunsystem eine sogenannte sterile Entzündung aus. Diese dient der Beseitigung verletzter und toter Zellen und der anschließenden Gewebsreparatur.

Sterile Entzündungen haben vieles mit Entzündungen gemeinsam, die durch Infektionen ausgelöst werden; beispielsweise erkennen dieselben Rezeptoren auf antigenpräsentierenden Zellen (dendritischen Zellen und Makrophagen) sowohl DAMPs als auch PAMPs, also pathogen-associated molecular patterns. Eine sterile Entzündung belastet aber das Gewebe weniger und läuft oftmals ohne volle Einschaltung der erworbenen Abwehr ab: Der Einsatz von antigenspezifischen T- und B-Zellen ist ja nicht nötig, wenn die Schadensursache kein Pathogen ist, das diese Zellen passgenau erkennen, bekämpfen und erinnern müssten.

DAMPs und Autoimmunerkrankungen

Sterile Entzündungen und DAMPs interessieren uns hier, weil sie mit Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht wurden: Nur bei sehr wenigen dieser Erkrankungen ist eine Infektion als Auslöser nachgewiesen; bei anderen wie Rheuma ist die Beteiligung von Pathogenen umstritten. Bei vielen scheint das Immunsystem aber ganz ohne Mitwirkung eines Keims aus dem Ruder zu laufen und sich gegen körpereigene Strukturen zu richten – und zwar dauerhaft, sofern die angeborene Abwehr doch die erworbene Abwehr zu Hilfe ruft.

P1070872_HMGB1_Multifunktionsmesser_650

Die Auslösung steriler Entzündungen ist nur eine der vielen Funktionen von HMGB1.

Ein wichtiges Alarmsignal mit dem sperrigen Namen HMGB1 spielt offenbar bei der Pathogenese von Lupus (SLE), rheumatoider Arthritis, Sjögren-Syndrom, Vaskulitiden wie Morbus Behçet, Sklerodermie, Typ-1-Diabetes und weiteren Krankheiten eine unglückliche Rolle: Im erkrankten Gewebe oder im Blut der Betroffenen ist seine Konzentration gegenüber Gesunden stark erhöht, und in Tierversuchen lassen sich einige Autoimmunreaktionen durch die Ausschaltung von HMGB1 bremsen.

Gerade wegen seiner Schlüsselrolle beim Anstoßen von Entzündungsreaktionen reguliert unser Körper die örtliche Konzentration und das Aktivitätslevel dieses Moleküls normalerweise strikt, und zwar auf mehreren Wegen. Um diese raffinierte Selbstkontrolle – die checks and balances, die bei Autoimmunerkrankungen offenbar versagen – soll es im Folgenden gehen. Um sie zu verstehen, müssen wir uns zunächst das Molekül genauer ansehen.

Steckbrief

Das 1973 aus Kalbsbries (Thymus) isolierte Protein heißt ausgeschrieben „High mobility group box 1“, weil es sich auf einem Elektrophorese-Gel schnell bewegt. Da diese Eigenschaft weiter nichts zur Sache tut, bleiben wir im Folgenden bei der Abkürzung. Das 215 Aminosäuren lange Protein ist evolutionär stark konserviert; 99 Prozent der Aminosäuren stimmen zwischen Maus und Mensch überein. Normalerweise hält es sich im Zellkern auf. 1999 entdeckte man, dass es nicht nur im Zellinneren vorkommt, sondern insbesondere von Makrophagen auch ausgeschieden wird – und zwar relativ spät in einem Entzündungsprozess, nämlich frühestens acht Stunden nach Aktivierung der Immunzellen. So lange brauchen die Zellen, um das Molekül so zu modifizieren, dass es ausgeschleust werden kann.

Für diese Ortsverlagerung und den damit einhergehenden Funktionswechsel sind zwei in der folgenden Abbildung mit „Kerntransport“ bezeichnete Abschnitte zuständig, in denen die Aminosäure Lysin angereichert ist. Diese Lysine werden bei Bedarf acetyliert oder phosphoryliert; ihnen werden also Acetyl- oder Phosphatgruppen angehängt. Dank dieses Signals werden sie aus dem Zellkern, in dem sie sonst an die DNA gebunden sind, ins Zytoplasma und ggf. ganz aus der Zelle transportiert.

Das Molekül gliedert sich in drei große Funktionseinheiten: zwei sogenannte HMG-Boxen (A und B), mit denen es sich relativ locker und nicht sequenzspezifisch an DNA anlagert, sowie einen sogenannten C-Schwanz, der bei der Krümmung von DNA zum Einsatz kommt, also etwa bei der Reparatur der Doppelhelix oder beim Ablesen (der Transkription) von Genen. Box B enthält eine Bindungsstelle für den wichtigen Zelloberflächen-Rezeptor TLR4 und an ihrem Ende eine Bindungsstelle für den ebenfalls an Zelloberflächen angesiedelten Rezeptor RAGE. Von beiden wird noch die Rede sein. Weitere Bindungsstellen sind bekannt, hier aber nicht eingezeichnet.

P1070879_HMGB1_Aufbau_und_Funktionsstellen_650

Wichtig sind noch drei Positionen, die mit der Aminosäure Cystein besetzt sind. Deren Seitenketten oder „Reste“ sind – zumindest solange sich das Molekül im Zellkern aufhält – sogenannten Thiolgruppen (-SH), die aus einem Schwefel- und einem Wasserstoffatom bestehen. Ich komme weiter unten auf sie zurück, denn ihre chemische Veränderung bestimmt die Aktivität des Moleküls nach seiner Ausschleusung aus der Zelle.

Je nach Aufenthaltsort unterschiedliche Aufgaben

HMGB1 ist weit mehr als ein DAMP, ein Alarmsignal für antigenpräsentierende Zellen: Außerhalb des Immunsystems übt es zum Beispiel lebenswichtige Funktionen im Nervensystem und im Stoffwechsel aus.

Normalerweise hält es sich im Zellkern auf, wo es als DNA-Chaperon, also als Faltungs- oder Krümmungshelfer für die Doppelhelix dient: Es stabilisiert die dreidimensionale Struktur der Nukleosomen, und es fördert die Transkription der Gene, die somatische Rekombination in B- und T-Zellen, die Reparatur von DNA-Schäden und den Erhalt der Telomere – der Schutzkappen an den Enden der Chromosomen. Kurz: Ohne HMGB1 keine intakten Chromosomen.

Wird es aus dem Zellkern ins Zytoplasma transportiert, was bei Zellstress und vor allem bei einer bakteriellen Infektion der Zelle passiert, fördert es die sogenannte Autophagie, eine partielle Selbstverdauung der Zelle, die den Bakterien die Lebensgrundlage entzieht. Zugleich hemmt es die Apoptose, also den kontrollierten Zelltod.

In die extrazelluläre Flüssigkeit gelangt es entweder durch passive Freisetzung aus allen möglichen beschädigten, sterbenden oder toten Zellen – dann ist es ein Alarmsignal, ein DAMP – oder durch aktive Ausschüttung aus Immunzellen, vor allem aus antigenpräsentierenden Zellen, also Makrophagen und dendritischen Zellen – dann kann man es als Zytokin auffassen, also als Immunsystem-internen Botenstoff.

Es kann als Chemokin dienen, also als Lockstoff für Immunzellen. Es kann andere Immunzellen aktivieren oder deaktivieren, zur Vermehrung bringen und zur Produktion und Ausschüttung von Boten- oder Wirkstoffen anhalten. Es kann alleine agieren, sich aber auch mit anderen Immunzell-Aktivatoren zusammenlagern und dann synergistisch wirken. Es kann als Adjuvans dienen, also Immunreaktionen unspezifisch verstärken. Auch an der Wundheilung im Anschluss an eine Immunreaktion wirkt es mit. Manche Forscher sehen in ihm den zentralen Koordinator oder Choreografen steriler und infektionsbedingter Entzündungen.

Polygamie

Extrazelluläres HMGB1 bindet an mindestens elf verschiedene Transmembran-Rezeptoren, von denen wir hier nur wenige besprechen, nämlich TLR4, RAGE und CD24/Siglec-10. Einige Rezeptoren auf Zellen der angeborenen Abwehr lösen, wenn HMGB1 an ihre Außenseite bindet, innerzelluläre Signalketten wie den NFκ-B-Weg aus, die zur Produktion von entzündungsfördernden Zytokinen führen. Andere Rezeptoren senden dagegen nach HMGB1-Bindung produktionshemmende Signale ins Zellinnere. Darauf komme ich im Abschnitt „Hase und Schildkröte“ zurück.

Es lagert sich auch gerne mit anderen extrazellulären Molekülen zusammen, etwa mit DNA (natürlich!), aber auch mit dem Zytokin Interleukin-1, mit dem Chemokin CXCL12 oder bakteriellen Substanzen wie LPS. Bindet es dann gemeinsam mit ihnen an einen Rezeptor auf einer Immunzelle, so fällt die Wirkung oft stärker oder anders aus als bei einer Bindung des einen oder anderen Partners allein.

So lagert es sich bei einer Bakterieninfektion mit dem bakteriellen Molekül LPS zusammen. Durch das gemeinsame Andocken an einen Rezeptor einer antigenpräsentierenden Zelle wird ein Transportmechanismus ausgelöst, durch den das LPS ins Innere der Zelle gelangt, wo es zu präsentationsfähigen Antigen-Peptiden weiterverarbeitet wird, die dann spezifisch passende T-Zellen aktivieren, sodass die erworbene Abwehr ins Spiel kommt.

Der Rezeptor RAGE ist ebenso polygam wie sein Bindungspartner HMGB1: Zum einen bindet er auch eine Reihe weiterer Moleküle, zum anderen hängt seine Wirkung vom Zusammenspiel mit weiteren Rezeptoren auf denselben Zellen ab. Ein Regulierungsnetzwerk aus HMGB1, seinen extrazellulären Bindungspartnern und seinen Rezeptoren wird rasch unüberschaubar komplex. Konzentrieren wir uns auf drei exemplarische HMGB1-Regulierungsmechanismen: die Freisetzung, den extrazellulären Oxidations-Countdown und das innerzelluläre Wettrennen von Hase und Schildkröte.

Der schlechte und der gute Tod: Nekrose und Apoptose

Um die Logik des ersten Regulierungsmechanismus zu verstehen, benötigen wir Basiswissen über den traumatischen und den programmierten Zelltod, Nekrose und Apoptose genannt. Tatsächlich können Zellen noch auf andere Weisen sterben, etwa durch Pyroptose, ein für innerzelluläre Infektionen typisches Todesprogramm, oder durch NETose, eine Art Selbstmordattentat von Neutrophilen und anderen Granulozyten. Hier beschränke ich mich auf die beiden klassischen Formen des Ablebens. Bei der Nekrose, die unvorhergesehen kommt, schlägt die Zelle leck:

P1170852_Nekrose_Explosion_650

Dabei treten Moleküle wie DNA und allerlei Proteine aus, die normalerweise außerhalb von Zellen nichts zu suchen haben und daher prädestiniert sind, das Immunsystem als DAMP über den Gewebeschaden zu informieren. (Leider können auch T-Zellen und Antikörper auf diese Substanzen überreagieren, wenn sie sie fälschlich als körperfremd auffassen. Das war hier im Blog schon öfter Thema.)

Bei der Apoptose leitet eine Zelle selbst ihren kontrollierten Rückbau und ihre Entsorgung ein, etwa weil sie merkt, dass sie von Viren oder Bakterien befallen, alt oder auf andere Weise geschädigt ist. Sie ruft dazu eine T-Zelle zur Hilfe, die das Rückbauprogramm startet, und ihre Überreste werden von Makrophagen vertilgt:

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Bei der Apoptose sollten keine Zellinnereien auslaufen. In der Spätphase kann es aber zu einer sogenannten sekundären Nekrose kommen, bei der das in kleinem Umfang doch passiert. Außerdem scheiden apoptotische Zellen aktiv Substanzen aus, etwa um das Immunsystem über die Ursache ihres Ablebens zu informieren oder um Makrophagen – ihre Totengräber – anzulocken.

Freisetzung von HMGB1: passiv, schnell und reduziert – oder aktiv, verzögert und oxidiert

Bei einer Nekrose tritt HMGB1 passiv aus einer sterbenden Zelle aus, sobald diese undicht wird. Viele nekrotische Zellen haben keine Zeit, das Molekül vorher zu modifizieren. Dann gelangt das HMGB1 in genau der Form in die Gewebsflüssigkeit, in der es im Zellinneren vorlag.

Stirbt eine Zelle dagegen durch Apoptose oder Pyroptose, kann sie das HMGB1 in Ruhe umbauen, um es auf seine künftige Aufgabe vorzubereiten. Zu diesen sogenannten posttranslationalen Modifikationen des Proteins zählen etwa die oben erwähnte Acetylierung oder Phosphorylierung, die für einen geregelten Transport aus dem Zellkern ins Zytoplasma und aus dem Zytoplasma in den extrazellulären Raum sorgen.

Jetzt kommen die drei Thiol-Reste der Cysteine im HMGB1-Molekül ins Spiel, die ich oben im Steckbrief erwähnt habe. Sollte das Schulwissen über Redox-Zustände verschüttet sein, hier eine kurze Auffrischung: Oxidation wurde klassisch als Hinzufügen von Sauerstoff (O wie Oxygenium) oder als Entzug von Wasserstoff (H wie Hydrogenium), also als Dehydrierung aufgefasst. Der umgekehrte Vorgang, also die Hinzufügung von Wasserstoff oder der Entzug von Sauerstoff, wird Reduktion genannt.

Sinnvoller ist es eigentlich, diese sogenannten Redox-Reaktionen als Abgabe oder Aufnahme von Elektronen zu definieren, aber wir bleiben hier beim volkstümlichen Verständnis: Ein frisch aufgeschnittener Apfel hat helles Fruchtfleisch. An der Luft, also bei der Reaktion mit Sauerstoff, oxidiert er. Die Schnittfläche läuft an und wird schließlich richtig braun:

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Antioxidantien wie Vitamin C können diesen Prozess aufhalten; sie sind Reduktionsmittel.

Im Normalfall ist das chemische Milieu in einer Zelle reduzierend; es gibt kaum freien Sauerstoff, der HMGB1 oxidieren könnte. Daher liegen im Zellkern alle drei Cystein-Reste als Thiol (-SH) vor. Bei der abrupten Freisetzung aus einer nekrotischen Zelle bleibt das Molekül zunächst in dieser vollständig reduzierten Form.

Gerät das Molekül jedoch in ein oxidierendes Milieu, so verändert es sich schrittweise: Zunächst bildet sich zwischen den beiden benachbarten Resten in Box A eine Disulfidbrücke (-S-S-) aus; die Reste geben also Wasserstoff ab; der dritte Rest liegt weiter als Thiol (-SH) vor. Wird das Molekül weiterhin mit reaktionsfreudigem Sauerstoff konfrontiert, reagieren schließlich alle drei Reste mit ihm und bilden Sulfonsäure (-SO3H).

Diese schrittweise Oxidation kann sogar innerhalb der Zelle ablaufen, wenn sich das chemische Milieu ändert: Manchmal kann das HMGB1 aus nekrotischen Zellen eine Disulfidbrücke ausbilden, bevor es freigesetzt wird. Auch Makrophagen oder dendritischen Zellen, die mit Bakterien infiziert sind und einen programmierten Zelltod namens Pyroptose durchlaufen, enthalten reaktionsfreudigen Sauerstoff und setzen HMGB1 mit einer Disulfidbrücke frei. Bei einer Apoptose wird HMGB1 vor seiner aktiven Ausscheidung oft sogar vollständig oxidiert, denn die Mitochondrien in den sterbenden Zellen setzen bei ihrem Rückbau reaktiven Sauerstoff frei.

Die drei freigesetzten Formen von HMGB1 wirken sich auf das Immunsystem grundverschieden aus, wie ich im nächsten Abschnitt zeige.

Countdown durch Oxidation

Vollständig reduziertes HMGB1 (das mit den drei Thiol-Resten), wie es etwa bei einer Nekrose freigesetzt wird, wirkt als Lockstoff, und zwar in Verbindung mit einem anderen Molekül: Es bindet an das Chemokin CXCL12, das aus aktivierten Immunzellen abgeschieden wird. Das Doppelpack (ein sogenanntes Heterodimer) aus HMGB1 und CXCL12 bindet sehr gut an den Chemotaxis-Rezeptor CXCR4 und führt dazu, dass Immunzellen mit diesem Rezeptor angelockt werden und sich vor Ort vermehren. Findet das reduzierte HMGB1 nicht genug CXCL12-Moleküle vor, kann es durch Bindung an den Rezeptor RAGE sogar die CXCL12-Produktion ankurbeln. Diese Rekrutierung von Immunzellen ist nach einer Nekrose besonders sinnvoll, denn diese Form des Zelltods läuft – wie oben zu sehen war – ungeplant und ohne Beteiligung von Immunzellen ab. Und die Überreste der zugrunde gegangenen Zellen müssen ja beseitigt, die Ursachen bekämpft, die Gewebeschäden repariert werden.

Teilweise oxidiertes HMGB1, das vorne eine Disulfidbrücke und hinten eine Thiolgruppe aufweist, kann dagegen an den Immunzell-Rezeptor TLR4 binden und so die Produktion und Freisetzung von Zytokinen anstoßen, also eine Entzündungsreaktion anheizen. Das ist besonders sinnvoll, wenn bereits Immunzellen vor Ort sind, von denen einige gerade an einer Pyroptose zugrunde gehen: Hier müssen keine weiteren Immunzellen rekrutiert, sondern die anwesenden zur eifrigen Mitarbeit an der Entzündung angeregt werden.

Vollständig oxidiertes HMGB1 hingegen, bei dem alle drei Cystein-Reste als Sulfonsäure vorliegen, kann Immunzellen weder anlocken und zur Vermehrung anregen noch zur Zytokinproduktion bewegen. Es bindet weder an CXCL12 und CXCR4 noch an TLR4: Es trägt überhaupt nichts zu einer Entzündungsreaktion bei, sondern stimmt anwesende Immunzellen tolerant, sozusagen als Anti-DAMP. Diese Wirkung ist besonders sinnvoll, wenn eine Zelle eine geregelte Apoptose durchlaufen hat, denn hier ist keine weitere Immunreaktion nötig: Es reicht, wenn die bereits anwesenden Fresszellen den Rest der gestorbenen Zelle beseitigen.

Zumeist wird HMGB1 also genau in der Form freigesetzt, in der es die jeweils erforderlichen Reaktionen in Gang setzen kann. Analog zum oxidierenden Apfel von oben sind hier die drei Formen des Moleküls dargestellt, ergänzt um die beiden Oxidationsreaktionen durch reaktiven Sauerstoff (ROS) und um die jeweilige Hauptwirkung des Moleküls auf das Immunsystem, hier durch eine T-Zelle vertreten: Anlockung, Aktivierung und Toleranz:

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Wie verhindert unser Körper aber, dass das vollständig reduzierte HMGB1, das aus nekrotischen Zellen austritt, immer mehr und mehr Immunzellen rekrutiert und alarmiert, sodass die Entzündung chronisch wird und das umliegende Gewebe Schaden nimmt? Nun: Das extrazelluläre chemische Milieu ist im Vergleich zum gesunden Zellinneren oxidativ. Mit der Freisetzung von vollständig reduziertem HMGB1 beginnt daher ein Countdown. Die extrazelluläre Flüssigkeit oxidiert die Moleküle zunächst teilweise, dann vollständig – bis sie nicht mehr als Alarmsignale wirken.

Hase und Schildkröte

Wir kommen zum dritten Kontrollmechanismus, nämlich der Beschränkung der Zytokinproduktion in Makrophagen und anderen Immunzellen, die HMGB1 in seiner teilweise oxidierten Form aktiviert. Es bindet nicht nur an aktivierende Rezeptoren wie TLR4, sondern auch an inhibierende Rezeptoren wie CD24 und Siglec-10. TLR4 löst daraufhin eine schnelle Signalkette aus, CD24/Siglec-10 eine langsamere:

HMGB1_an_beiden_Rezeptoren_1_650

Beide Signale streben den Chromosomen im Zellkern zu, um dort die Ablesung der Zytokin-Gene zu beeinflussen:

Wettrennen_Hase_Schildkröte_2_650

Das vom TLR4 ausgesandte Signal erreicht sein Ziel zuerst und stößt eine starke Produktion entzündungsfördernder Zytokine an:

Hase_da_Zytokinproduktion_an_3_500

Etwas später trifft das Stoppsignal ein und beendet die Ablesung der Zytokin-Gene. Die Zelle lässt die Produktion auslaufen:

Schildkröte_da_Zytokinproduktion_wieder_aus_4_650

Bei Autoimmunerkrankungen versagen die checks and balances

So raffiniert diese Kontrollmechanismen sind: Bei Autoimmunerkrankungen versagen sie. Welchen Anteil hat HMGB1 an diesen Störungen? Es ist sicher nicht die Hauptursache, aber es kann in Individuen mit entsprechender Veranlagung eine Überaktivierung des Immunsystems fördern. Wichtiger als seine direkte Wirkung auf die Zellen der erworbenen Abwehr, also auf die Vermehrung und Aktivierung von T- und B-Zellen, ist vermutlich die indirekte, nämlich über die antigenpräsentierenden Zellen vermittelte Wirkung.

Sein Beitrag zum Teufelskreis sei am Beispiel Typ-1-Diabetes skizziert: Wenn Betazellen im Pankreas sterben, kann zunächst passiv ein wenig HMGB1 freigesetzt werden. Bei einer unzureichenden Entsorgung der Zellreste reifen durch dieses Alarmsignal oder DAMP zahlreiche dendritische Zellen und Makrophagen heran und werden aktiv: Zum einen können sie selbst noch mehr HMGB1 freisetzen und so die Entzündungsreaktion verstärken. Zu anderen aktivieren sie nun ihrerseits Lymphozyten, indem sie ihnen Antigene präsentieren – unter anderem jene Autoantigene, die zusammen mit dem HMGB1 aus den sterbenden Betazellen ausgetreten sind. In genetisch prädestinierten Individuen greifen diese autoreaktiven Lymphozyten daraufhin Betazellen an, was diese zum Absterben bringt, und so weiter und so fort.

Dieses Modell hat sich im Tierversuch bewährt: Die Pankreas-Lymphknoten von Mäusen mit Diabetes-Neigung, in denen HMGB1 experimentell neutralisiert wurde, enthielten weniger dendritische Zellen des an der Diabetes-Entstehung beteiligten Subtyps und dafür mehr regulatorische T-Zellen (Tregs). In der Milz der Tiere fanden sich zudem sogenannte tolerogene dendritische Zellen, die – wie die Tregs – besänftigend auf Lymphozyten einwirken und so den Teufelskreis durchbrechen können. Es gab zwar noch autoreaktive T-Zellen in den Pankreas-Lymphknoten, aber diese wurden mangels HMGB1 kaum noch in die Langerhans-Inseln gelockt und richteten daher unter den Betazellen wenig Schaden an.

Auch in Versuchstieren mit Lupus-Neigung beteiligt sich HMGB1 an der Pathogenese. Bei ihnen kommen vermutlich zwei Faktoren hinzu: Erstens richtet sich die Autoimmunreaktion bei Lupus primär gegen Zellkern-Bestandteile wie DNA oder Histone – und an diese bindet HMGB1 bekanntlich besonders gut. Es transportiert diese Autoantigene über den Rezeptor RAGE sehr effizient in die antigenpräsentierenden Zellen hinein, was die Autoantigenpräsentation und damit die Aktivierung autoreaktiver Lymphozyten verstärkt. Außerdem tragen auch die Endothelzellen unserer Blutgefäße den Rezeptor RAGE. Bindet dieser HMGB1, so können sich die Blutgefäße entzünden, und es kommt zu einer Lupus-Vaskulitis.

Bei rheumatoider Arthritis scheint zunächst ein Sauerstoffmangel (Hypoxie) Zellen in den Gelenken unter Stress zu setzen. Im Zuge ihrer Stressreaktion setzen sie HMGB1 in die Gelenkflüssigkeit frei, woraufhin sich die Gelenke entzünden können. Das Molekül fördert auch die Neubildung von Blutgefäßen und von Zellen, die Knochengewebe abbauen: sogenannten Osteoklasten. So kann sich die Gelenkschädigung verschlimmern.

Leider ist die Ausschaltung von HMGB1 kein Allheilmittel für Autoimmunerkrankungen. Zum einen hat das Molekül in unserem Körper zahlreiche weitere, lebenswichtige Funktionen. Zum anderen gibt es Hinweise, dass es bei chronischen Entzündungen nicht nur verheerend, sondern auch heilsam wirken kann. So scheint es bei einer Myositis – einer Entzündung von Muskelgewebe – anfangs die Entzündung zu fördern, später aber zum Schutz und zur Regeneration des Muskels beizutragen. Man müsste also eine HMGB1-Blockade entwickeln, die örtlich und zeitlich sehr begrenzt wirkt. Eingriffe in die komplexen und noch nicht vollständig verstandenen checks und balances des Immunsystems bleiben ausgesprochen heikel.

Literatur:

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S.-A. Lee et al. (2014): The Role of High Mobility Group Box 1 in Innate Immunity

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M. Magna, D. S. Pisetsky (2014): The Role of HMGB1 in the Pathogenesis of Inflammatory and Autoimmune Diseases

C. Pilzweger, S. Holdenrieder (2015): Circulating HMGB1 and RAGE as Clinical Biomarkers in Malignant and Autoimmune Diseases

H. Yang et al. (2015): High Mobility Group Box Protein 1 (HMGB1): The Prototypical Endogenous Danger Molecule

J. Zhong (2012/2013): HMGB1 as an Innate Alarmin Promotes Autoimmune Progress: An Essential Role in the Pathogenesis of Type 1 Diabetes

Literaturliste zum Immunsystem der Pflanzen, Teil 7: Zelltod

Sinn und Anfang der Liste: s. Teil 1.

Andrew P. Hayward, S. P. Dinesh-Kumar: What can plant autophagy do for an innate immune response? Annual Review of Phytopathology 49, 2011, 557-576, doi: 10.1146/annurev-phyto-072910-095333
[nur Abstract gelesen] Autophagie, programmierter Zelltod, PCD, Immunabwehr der Säugetiere.

J.-L. Cacas: Devil inside: does plant programmed cell death involve the endomembrane system? Plant, Cell & Environment 33, 2010, 1453-1574, doi: 10.1111/j.1365-3040.2010.02117.x
[nur Abstract gelesen] endoplasmatisches Reticulum, Golgi-Apparat, Vakuole, programmierter Zelltod, Endomembransystem.

Kirsten Bomblies: What Can Plant Autophagy Do for an Innate Immune Response? Annual Review of Phytopathology 49, 2009, 557-576, doi: 10.1146/annurev-phyto-072910-095333
[nur Abstract gelesen] Hybridnekrose, Inkompatibilität, Autoimmunität, programmierter Zelltod, Abwehr, Artbildung, Evolution.   Weiterlesen