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Abb. 48: Das Karelien-Rätsel

Karte: Im finnischen Teil Kareliens (linkes Wappen) tritt Typ-1-Diabetes fast sechsmal so häufig auf wie im russischen Teil (rechtes Wappen). Oberes Diagramm: Bei finnischen Kindern lag die Typ-1-Diabetes-Inzidenz 2006 bei gut 63/100.000 – höher als in jedem anderen Land der Welt. 1950 waren es noch 10/100.000. Unteres Diagramm: In der russischen Republik Karelien weisen Kinder mit Diabetes und Allergien deutlich seltener Antikörper gegen Hepatitis A auf als Kinder, die weder Diabetes noch Allergien haben. Das untermauert die Hygiene-Hypothese.

Sie dürfen diese Zeichnung gerne in Folien etc. übernehmen, sofern Sie die Quelle angeben: Dr. Andrea Kamphuis, https://autoimmunbuch.de

Karelien: zwei Notizen zu Schilddrüsen- und Betazell-Autoantikörpern

Vor allem für mich selbst als Erinnerungsstütze trage ich zwei Erkenntnisse aus der Karelien-Literatur nach:

(1) Kondrashova et al., Signs of β-Cell Autoimmunity in Nondiabetic Schoolchildren (2007): Zwar ist Typ-1-Diabetes in Finnland viel häufiger als im russischen Karelien. Aber Betazellautoimmunität, angezeigt durch verschiedene Autoantikörper, ist im russischen Teil genauso häufig wie in Finnland (mit Ausnahme des Antikörpers gegen  Tyrosinphosphatase IA-2, der in Finnland häufiger ist). Das heißt: Die Autoimmunprozesse setzen bei den Kindern mit etwa derselben Quote ein, aber in Finnland führen sie zu einer Erkrankung, während sie im russischen Karelien viele Jahre lang keinen Schaden anrichten. Das spricht für die Theorie, dass Autoimmunerkrankungen nicht durch das bloße Aufkommen von Autoimmunvorgängen bedingt sind, sondern durch ein Versagen der Regulierungsmechanismen, die solche Vorgänge zwar nicht abschalten, aber in Schach halten können.

(2) Kondrashova-Dissertation, 2009: Bei den untersuchten Schuldkindern (mittleres Alter: 11 Jahre) waren Schilddrüsen-Autoantikörper bei den Mädchen fast acht Mal so häufig wie bei den Jungen: etwa dasselbe Verhältnis wie bei den Prävalenzen erwachsener Frauen und Männer. Das heißt: Um den starken Frauenüberschuss bei Hashimoto-Thyreoiditis zu erklären, muss man vielleicht gar nicht auf Sexualhormone und Mikrochimerismus durch Schwangerschaften zurückgreifen; der reine X-Dosis-Effekt könnte ausreichen. Die Hormonveränderungen während der Pubertät könnten allerdings einen Beitrag leisten, denn die meisten der Kinder, bei denen Schilddrüsen-Aantikörper nachgewiesen wurden, waren älter als 11.

Die Sache mit dem Salz – und noch einmal Karelien

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Vor einigen Monaten gingen die Ergebnisse zweier Studien durch die Presse, die die hohe Aufnahme von Speisesalz durch „westliche Kost“ – insbesondere Fast Food – mit der Zunahme von Autoimmunerkrankungen in Verbindung brachten. Markus Kleinewietfeld et al. und Chuan Wu et al. hatten sowohl Zellkulturen als auch Wildtyp- sowie EAE-Mäuse (Tiermodelle für Multiple Sklerose) Natriumchlorid ausgesetzt, festgestellt, dass dies die Entstehung pathologischer Th17-Zellen fördert, und die molekularen Mechanismen untersucht. Als Schlüsselelement machten sie das Enzym SGK1 aus, das unter anderem den Natriumpegel in Zellen reguliert. Eine erhöhte Salzaufnahme mit der Nahrung scheint eine starke SGK1-Expression zu induzieren und damit auch die Expression des IL-23-Rezeptors, was die Th17-Zelldifferenzierung steigert.

Auf den ersten Blick scheint das gut zum hohen Salzgehalt der modernen industriell gefertigten Kost in den westlichen Industrieländern zu passen. Im steinzeitlichen Afrika, in dem unser Immunsystem einen großen Teil seiner evolutionären Entwicklung durchlaufen hat, haben unsere Vorfahren sicherlich viel weniger Natriumchlorid aufgenommen, und die Zunahme vieler Autoimmunerkrankungen in den letzten 50 Jahren im Westen deckt sich zeitlich in etwa mit dem Siegeszug von McDonald’s & Co. Aber richten wir den Blick doch noch einmal nach Karelien, vor allem in den finnischen Teil: Wie im vorigen Beitrag festgestellt, sind viele Autoimmunerkrankungen dort viel häufiger als in der russischen Republik Karelien, direkt nebenan, und die Prävalenzen und Inzidenzen sind in den letzten Jahrzehnten zum Teil dramatisch angestiegen.

Aber: Seit den 1970er-Jahren gab es in Finnland massive Bemühungen, die Ernährung der Bevölkerung gesünder zu gestalten, um die unglaublich hohen Sterberaten durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verringern – mit großem Erfolg. Zwischen 1979 und 2002 sank die Natrium-Ausscheidung im Harn (ein gutes Maß für die Salzaufnahme) bei finnischen Männern von über 220 auf unter 170 mmol/Tag und bei finnischen Frauen von fast 180 auf unter 130 mmol/Tag. Eines der Gebiete, in denen Laatikainen et al. diese Messungen vornahmen, war Nordkarelien. Übrigens werden in Finnland heute auch Getreideprodukte, die ebenfalls oft mit der Zunahme der Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht werden, wesentlich weniger verzehrt als noch in den 1950er-Jahren.

Karelien

Eine Skizze fürs Buch:

Karelien_650Was darin noch fehlt, sind die Zahlen: Untersucht wurden Schulkinder in der finnischen Region Karelien (linkes Wappen) und in der russischen Republik Karelien (rechtes Wappen), Durchschnittsalter 11 Jahre.

Sie gehören überwiegend zur selben ethnischen Gruppe, sodass Risiko-Genorte für die Erkrankungen ungefähr gleich stark vertreten sind. Die Vitamin-D-Konzentrationen in ihrem Blut und im Blut ihrer Mütter sind nahezu gleich, und sie nehmen etwa gleich viele glutenhaltige Getreideprodukte zu sich – in Russland sogar etwas mehr und evtl. auch früher. Die finnischen Kinder werden im Durchschnitt erheblich länger gestillt als die russischen.

Im finnischen Teil Kareliens ist bei ihnen

  • die Prävalenz von Typ-1-Diabetes 6-mal so groß wie im russischen Teil,
  • die Prävalenz von Zöliakie 4,6-mal so groß wie im russischen Teil,
  • der Anteil mit Antikörpern gegen Schilddrüsen-Autoantigene 5,5- bis 6,5-mal so groß wie im russischen Teil,
  • die Prävalenz von Allergien deutlich höher als im russischen Teil.

Im russischen Teil Kareliens sind

  • Wurminfektionen, z. B. Spulwurminfektionen, erheblich häufiger als im finnischen Teil,
  • 73% der Kinder mit Helicobacter pylori infiziert, während es im finnischen Teil 5% sind,
  • Infektionen mit Hepatitis A, Toxoplasma gondii und Enteroviren erheblich häufiger als im finnischen Teil, und
  • prozentual erheblich mehr Kinder ohne Diabetes oder Allergien Hepatitis-A-seropositiv als Kinder, die an Diabetes und/oder Allergien leiden.

Das Bruttosozialprodukt beträgt in Finnland gut 40.000 US-$, in der russischen Republik Karelien 5780 US-$ pro Kopf. Alles in allem stützen diese Zahlen die Hygiene- oder Alte-Freunde-Hypothese.

Die Prävalenz von Typ-1-Diabetes ist in Finnland höher als in jedem anderen Land der Welt; 2006 hat sie 63 pro 100.000 erreicht.

Überblick: Typ-1-Diabetes

Langerhans-Insel, Foto: Wikipedia-User Polarlys

Langerhans-Insel, Foto: Wikipedia-User Polarlys

Diese Review-Sammlung der Zeitschrift Cold Spring Harbor Perspectives in Medicine umfasst 18 frei zugängliche Artikel aus dem Jahr 2012, von denen ich bisher fünf gelesen habe. Notizen zum Einführungsartikel:

Mark A. Atkinson, Pathogenese und Naturgeschichte von T1D: sehr guter Überblick, auch über ungeklärte Fragen.

Anteil T1D-Fälle, die erst bei Erwachsenen diagnostiziert werden: 35-50%. Etwa 5-15% der Erwachsenen mit T2D-Diagnose dürften tatsächlich T1D haben. 2 Gipfel: erster bei Kindern von 5-7 Jahren, zweiter nahe Pubertät. M und F etwa gleich oft betroffen, leichter Männerüberschuss. T1D-Diagosen im Herbst und Winter häufiger als im Frühjahr/Sommer -> evtl. Umweltfaktor an Symptomausbruch beteiligt. Studie SEARCH: Etwa 0,26% aller unter 20-Jährigen haben Diabetes (T1D oder T2D); bei unter 10-Jährigen 19,7/100.000 neue Fälle/Jahr, bei über 10-Jährigen 18,6/100.000; Ethnien: bei weißen Nicht-Latinos unter 10 Jahren höchste Inzidenz (24,8/100.000).

Bandbreite der Inzidenzen zwischen Ländern, aus denen Daten vorliegen: über 350-fach! I. A. positiv korreliert mit Breitengrad. Selten in Indien, China, Venezuela; sehr häufig in Finnland (> 60/100.000/Jahr) und Sardinien (etwa 40/100.000/Jahr); > 20/100.000/Jahr in Schweden, Norwegen, Portugal, GB, Kanada, Neuseeland. Estland: weniger als 75 Meilen von Finnland entfernt, aber T1D-Rate weniger als 1/3 der finnischen. Puerto Rico: selbe Rate wie Festland-USA, benachbartes Kuba dagegen weniger als 3/100.000/Jahr. Inzidenzen steigen weltweit seit Jahrzehnten, besonders stark bei den unter 5-Jährigen. In Schweden scheint Plateau erreicht zu sein. Anstieg viel zu schnell für Verschiebung der genetischen Empfänglichkeit. Anteil Betroffener mit Risikoallelen (v. a. im MHC-II-Komplex) scheint vielmehr gesunken zu sein.   Weiterlesen