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Flucht und Hilfe

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Urgroßvater, Großmutter, Großvater, Urgroßmütter und meine Mutter, 1939

Gestern sind wir aus Polen zurückgekommen. Dort haben wir unter anderem den Ort besucht, aus dem meine Großmutter, meine Mutter, meine Tante und mein Onkel vor gut 70 Jahren, am 20. Januar 1945, geflohen sind: Janowiec Wielkopolski. Das Haus steht noch, die Straße hat sich kaum verändert.

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Das Geburtshaus meiner Mutter in Janowiec Wielkopolski, 76 Jahre später

Fast alle deutschstämmigen Bewohner von Jannowitz sind damals gleichzeitig aufgebrochen, mit demselben Ziel: Berlin. Meine Mutter, mit neun Jahren das älteste der drei Kinder, saß auf der ersten Etappe der Flucht vorne auf dem Bock eines offenen Wagens und hat sich dort so schwer unterkühlt, dass die Familie den Treck verlassen musste, um sie in einem Militärlazarett behandeln zu lassen.

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Meine Großmutter und ihre drei Kinder auf der Flucht, vermutlich am Bahnhof Schneidemühl

Im Nachhinein erwies sich die Zwangspause als Glücksfall: Bei der Fortsetzung der Flucht kam meine Großmutter an einem Bahnhof (vermutlich in Schneidemühl, heute Piła) mit dem jungen Soldaten Martin Zareba ins Gespräch, der dringend von der Weiterreise nach Berlin abriet und anbot, die vier stattdessen in seiner kleinen Wohnung in Herzberg im Harz einzuquartieren. Meine Großmutter hat sich dort nur schwer eingelebt und – wie alle Flüchtlinge – von den Einheimischen nicht nur Freundlichkeit erfahren, aber sie blieb in Herzberg bis zu ihrem Tod.

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Nach der Flucht: Martin Zareba mit meiner Mutter (2. v. l.) und ihren Geschwistern in Herzberg

Martin Zareba hat in meiner Großmutter und ihren Kindern nicht einfach Fremde gesehen, deren Schicksal ihn nichts anging, sondern Menschen in Not, und er hat sich spontan entschlossen, ihnen zu helfen. Was aus ihm wurde, weiß ich nicht. Vermutlich starb er nach einem kurzen letzten Heimaturlaub an der Front. Vielleicht ahnte er, dass es so kommen würde:

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„Herzberg, d. 8. 2. 45. Ich bestätige hiermit Frau Gertrud Tiedtke, daß ich Ihr meine Wohnung u. Inventar auf unbestimmte Zeit zur Verfügung gestellt habe. Gren. Martin Zareba“

Die letzten Briefe meines Großvaters, der vermutlich zwi­schen dem 18. und dem 23. Februar 1945 bei der völlig aussichts- und sinnlosen Verteidigung der Festung Posen starb, habe ich bereits im Januar veröffentlicht. Unvergesslich der Satz: „Meine Gedan­ken sind sehr oft bei Euch, nur weiß ich nicht, wen sie bei Euch antref­fen.“

Mitte August, auf dem Soldatenfriedhof von Poznan, zwischen den Gräbern all dieser 19-, 20-, 23-jährigen Russen und Polen und Briten, musste ich an einen anderen Satz denken, den er am 31. Januar 1945 schrieb: „Heute früh war es mir bei­nah schlecht gegan­gen, aber im rich­ti­gen Moment kal­tes Blut und eine ordent­li­che Por­tion Glück hilft über die unmög­lichs­ten Situa­tio­nen hinweg.“ Man muss wohl davon ausgehen, dass sein Glück das Unglück eines anderen war: dass es dann eben einer dieser jungen Russen war, dem es „schlecht erging“.

Sowjet-Soldatenfriedhof

Einer von vielen, denen es „schlecht ergangen“ ist.

Mein Großvater, der 1930/1931 im polnischen Heer gedient hatte und ab 1943 im deutschen, ist nicht geflohen, als es noch möglich war – vermutlich aus Sorge um seine Familie, vielleicht auch aus Treue zum nationalsozialistischen Regime oder aufgrund seines Ehrverständnisses. Ich wünschte, er hätte weniger „ehrenvoll“ gehandelt und rechtzeitig die Beine in die Hand genommen. Vielleicht gäbe es dann wenigstens ein Grab.

Deutscher_Soldatenfriedhof

BFF_1508_ButtonOrange2-300x300Die Initiative „Blogger für Flüchtlinge“ sammelt Spenden für Flüchtlinge und unterstützt Flüchtlingsinitiativen. Vielen Dank an Carla, Nico und die anderen Initiatoren!

„Aber das ist alles egal!“

Wieder einmal ein Beitrag, der mit dem Hauptthema dieses Blogs nichts zu tun hat – abgesehen davon, dass die Beschäftigung mit diesem Kapitel meiner Familiengeschichte mich in den letzten Wochen Kraft gekostet hat, die nicht ins Blog oder ins Buch fließen konnte. Die folgenden Dokumente und Transkripte habe ich in den letzten Tagen – jeweils exakt 70 Jahre nach dem angegebenen Datum – bereits bei Facebook veröffentlicht.

1945-01-23_Brief_Bruno_zu_Trudels_Geburtstag

23.1.45
Mein liebes Frauchen!

In Eile packe ich einige Sachen zusammen.

Zu Deinem Geburtstag liegt auch etwas dabei, falls ich nicht mehr Gelegenheit haben sollte, Dir zu gratulieren, wünsche ich Dir jetzt schon alles Gute. Grüsse mir die Kinder schön. Hoffentlich sehe ich Euch noch mal wieder.

Sei innig gegrüßt
von Deinem Bruno.

1945-01-30_Vorletzter_Brief_1000

Posen, den 30.1.45

Ihr Lieben.

Auch heute bin ich heil und gesund. Unsere Lage ist nicht gerade rosig, aber wollen wir hoffen, daß doch noch das Wunder geschieht und wir aus diesem Schlamassel herauskommen.

Wo mögen wohl die Briesener Eltern mit Gretel und den Kindern sein. Hoffentlich sind alle rechtzeitig in Sicherheit gekommen. Meine Gedanken sind sehr oft bei Euch, nur weiß ich nicht, wen sie bei Euch antreffen. Unser Posen wird wohl binnen kurzer Zeit nur noch Schutt und Asche sein, der grösste Teil ist es schon. Aber das ist alles egal!

Wenn ich doch nur wüsste, wie es Euch allen geht.
Seid recht innig gegrüsst
von Eurem
Bruno.

1945-01-31_Letzter_Brief_1000

Posen, den 31.1.45

Meine Lieben!

Unsere Lage ist nach wie vor dieselbe geblieben, jedenfalls ist sie nicht beneidenswert. Man muß schon „ein bisschen“ die Zähne zusammenbeissen. Heute früh war es mir beinah schlecht gegangen, aber im richtigen Moment kaltes Blut und eine ordentliche Portion Glück hilft über die unmöglichsten Situationen hinweg.

Sollten wir wirklich noch mal aus diesem Hexenkessel lebend herauskommen, so hatte man mehr als einfaches Glück. Aber wollen wir auf dieses hoffen und unser Möglichstes dazu tun.

Herzliche Grüße allen allen, ganz besonders aber meinem Frauchen und meinen drei Purzen
von Eurem
Bruno u. Papi

194#_Bruno_Tiedtke

In Erinnerung an meinen Großvater Bruno Tiedtke, der als Angehöriger der Dolmetscherkompanie 21 vermutlich zwischen dem 18. und dem 23. Februar 1945 in Posen starb.