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Philipp Dettmers „Immun“: Kriegsbericht im Plauderton

Philipp Dettmer, der Gründer des erfolgreichen YouTube-Kanals Kurzgesagt – In a Nutshell, hat ein Sachbuch über das Immunsystem geschrieben. Wer das Autoimmunbuch zu fachlich und detailverliebt fand, sollte mal in „Immun. Alles über das faszinierende System, das uns am Leben hält“ hineinschauen. Das 2021 bei Ullstein erschienene, gut 400 Seiten starke und in bewährter Kurzgesagt-Manier schön illustrierte Buch ist in meinen Augen spannend und gut verständlich geschrieben, und es macht es der Leserschaft weder zu schwer noch zu leicht.

Cover des besprochenen Buchs "Immun"

Das Themenspektrum ist weit; natürlich kommen auch Autoimmunerkrankungen in einem Kapitel vor. Aus einigen Kapiteln im hinteren Teil, etwa dem über HIV oder Krebs, habe ich – um nicht zu sagen: selbst ich! 🙂 – noch etwas Neues erfahren, auch wenn ich es in erster Linie gelesen habe, um zu sehen, wie Dettmer die Sachverhalte darstellt. Seine direkte Ansprache der Leserin oder des Lesers wirkt auf mich etwas kumpelig; auch der Humor ist nicht so ganz mein Ding. Aber inhaltlich und didaktisch gibt es (fast – s. u.) nichts zu meckern. Und das ist sowohl bei Fach- als auch bei Sachbüchern über das Immunsystem die ganz große Ausnahme!

Wachsendes Unbehagen an Gewaltmetaphern

Was mir allerdings zunehmend auf den Wecker ging und immer noch nachhängt, ist die gewalttriefende Metaphorik. Gefühlt alle paar Seiten wird im Plauderton davon berichtet, wie irgendwer (etwa eine Immunzelle) irgendwem (etwa einer anderen Zelle) aus nächster Nähe in den Kopf schießt. Die gesamte Immunologie ist ja von einer blutrünstigen Metaphorik durchsetzt, auch wenn das hier im Bestreben um Anschaulichkeit auf die Spitze getrieben wurde.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich bin nicht empfindlich, kann Blut sehen, habe einen nüchternen Biologinnen-Blick auf den menschlichen Körper und halte nichts vom Beschönigen. Und natürlich finden sich auch im Autoimmunbuch sowie hier im Blog massenhaft Gewalt-, Kampf- und Kriegsmetaphern, angefangen beim Namen „Friendly Fire“. Wer Nichtfachmenschen das Wissen der Immunolog*innen anschaulich vermitteln will, kommt kaum um solche Bilder herum. Das entbindet uns aber nicht von der Verantwortung für unsere Sprache.

Mein wachsendes Unbehagen an dieser Metaphorik hat – soweit ich das bisher in mir ergründen konnte – zwei Gründe, einen gesellschaftlichen und einen innerwissenschaftlichen.

Zum ersten Grund: Metaphern sind keine Einbahnstraßen. Wissenschaftssoziolog*innen beobachten in den letzten Jahrzehnten immer wieder, wie die kriegerische Begrifflichkeit der Immunologie nun in die Sicherheitspolitik, in die Militärstrategie, in Schriften zur Unternehmenskultur usw. zurückschwappt. Wenn wir Immunreaktionen ausschließlich als Gewaltakte gegenüber eingedrungenen Krankheitserregern oder Krebszellen begreifen, die zur Wiederherstellung der individuellen Gesundheit erforderlich sind, liegt es nahe, Gewalt gegen Fremde oder gegen bestimmte Menschen aus unserer eigenen Gesellschaft als notwendige, gesunde Abwehrreaktion des „politischen Körpers“ oder – böse gesagt – des Volkskörpers zu interpretieren. Das sollten wir gerade in Deutschland tunlichst unterlassen.

Der zweite Grund beschäftigt mich eigentlich noch mehr, gerade bei der Arbeit am zweiten Band des Autoimmunbuchs: Metaphern sind auch Scheuklappen. Ich habe Sorge, dass uns ganz Wesentliches entgeht, weil wir die Interpretation von Immunsystem-Komponenten als Soldaten oder Polizisten und von Immunprozessen als Abwehrschlachten so dermaßen verinnerlicht haben. Die Immunologie und ihre Begrifflichkeit wurden nun einmal im Kontext zweier Weltkriege und ganz überwiegend von Männern entwickelt.

Viele nicht kriegerische Vorgänge, an denen Immunzellen beteiligt sind, waren und sind zudem methodisch kaum zu fassen, gewissermaßen unsichtbar – erst recht, wenn man durch die Brille der Standard-Metaphorik schaut. Wenn Erreger, Krebszellen oder andere Körperzellen im Zuge einer Infektion oder Verletzung und der dadurch ausgelösten Immunreaktion sterben, so können wir das sehen und messen. Die Rolle von Immunzellen und ihren Botenstoffen etwa bei der Einnistung der befruchteten Eizelle oder beim Umbau der Gebärmutter und der Plazenta, bei der Entwicklung des Embryos, beim Aufbau und Erhalt von Organen wie dem Gehirn oder bei der Kommunikation mit unserer Darmflora – vieles davon ist selbst mit modernsten Mitteln bislang nur schemenhaft zu erkennen. Das heißt aber nicht, dass diese Aufgaben des Immunsystems weniger wichtig wären als all das Herumballern und das Ausmerzen.

Auch wenn es wie eine überflüssige Volte oder wie Prokrastination erscheinen mag: Ich gehe diesem Thema jetzt durch die Lektüre einiger wissenschaftstheoretischer, -soziologischer und -historischer Bücher und Aufsätze noch weiter nach. Demnächst mehr dazu.

Flucht und Hilfe

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Urgroßvater, Großmutter, Großvater, Urgroßmütter und meine Mutter, 1939

Gestern sind wir aus Polen zurückgekommen. Dort haben wir unter anderem den Ort besucht, aus dem meine Großmutter, meine Mutter, meine Tante und mein Onkel vor gut 70 Jahren, am 20. Januar 1945, geflohen sind: Janowiec Wielkopolski. Das Haus steht noch, die Straße hat sich kaum verändert.

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Das Geburtshaus meiner Mutter in Janowiec Wielkopolski, 76 Jahre später

Fast alle deutschstämmigen Bewohner von Jannowitz sind damals gleichzeitig aufgebrochen, mit demselben Ziel: Berlin. Meine Mutter, mit neun Jahren das älteste der drei Kinder, saß auf der ersten Etappe der Flucht vorne auf dem Bock eines offenen Wagens und hat sich dort so schwer unterkühlt, dass die Familie den Treck verlassen musste, um sie in einem Militärlazarett behandeln zu lassen.

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Meine Großmutter und ihre drei Kinder auf der Flucht, vermutlich am Bahnhof Schneidemühl

Im Nachhinein erwies sich die Zwangspause als Glücksfall: Bei der Fortsetzung der Flucht kam meine Großmutter an einem Bahnhof (vermutlich in Schneidemühl, heute Piła) mit dem jungen Soldaten Martin Zareba ins Gespräch, der dringend von der Weiterreise nach Berlin abriet und anbot, die vier stattdessen in seiner kleinen Wohnung in Herzberg im Harz einzuquartieren. Meine Großmutter hat sich dort nur schwer eingelebt und – wie alle Flüchtlinge – von den Einheimischen nicht nur Freundlichkeit erfahren, aber sie blieb in Herzberg bis zu ihrem Tod.

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Nach der Flucht: Martin Zareba mit meiner Mutter (2. v. l.) und ihren Geschwistern in Herzberg

Martin Zareba hat in meiner Großmutter und ihren Kindern nicht einfach Fremde gesehen, deren Schicksal ihn nichts anging, sondern Menschen in Not, und er hat sich spontan entschlossen, ihnen zu helfen. Was aus ihm wurde, weiß ich nicht. Vermutlich starb er nach einem kurzen letzten Heimaturlaub an der Front. Vielleicht ahnte er, dass es so kommen würde:

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„Herzberg, d. 8. 2. 45. Ich bestätige hiermit Frau Gertrud Tiedtke, daß ich Ihr meine Wohnung u. Inventar auf unbestimmte Zeit zur Verfügung gestellt habe. Gren. Martin Zareba“

Die letzten Briefe meines Großvaters, der vermutlich zwi­schen dem 18. und dem 23. Februar 1945 bei der völlig aussichts- und sinnlosen Verteidigung der Festung Posen starb, habe ich bereits im Januar veröffentlicht. Unvergesslich der Satz: „Meine Gedan­ken sind sehr oft bei Euch, nur weiß ich nicht, wen sie bei Euch antref­fen.“

Mitte August, auf dem Soldatenfriedhof von Poznan, zwischen den Gräbern all dieser 19-, 20-, 23-jährigen Russen und Polen und Briten, musste ich an einen anderen Satz denken, den er am 31. Januar 1945 schrieb: „Heute früh war es mir bei­nah schlecht gegan­gen, aber im rich­ti­gen Moment kal­tes Blut und eine ordent­li­che Por­tion Glück hilft über die unmög­lichs­ten Situa­tio­nen hinweg.“ Man muss wohl davon ausgehen, dass sein Glück das Unglück eines anderen war: dass es dann eben einer dieser jungen Russen war, dem es „schlecht erging“.

Sowjet-Soldatenfriedhof

Einer von vielen, denen es „schlecht ergangen“ ist.

Mein Großvater, der 1930/1931 im polnischen Heer gedient hatte und ab 1943 im deutschen, ist nicht geflohen, als es noch möglich war – vermutlich aus Sorge um seine Familie, vielleicht auch aus Treue zum nationalsozialistischen Regime oder aufgrund seines Ehrverständnisses. Ich wünschte, er hätte weniger „ehrenvoll“ gehandelt und rechtzeitig die Beine in die Hand genommen. Vielleicht gäbe es dann wenigstens ein Grab.

Deutscher_Soldatenfriedhof

BFF_1508_ButtonOrange2-300x300Die Initiative „Blogger für Flüchtlinge“ sammelt Spenden für Flüchtlinge und unterstützt Flüchtlingsinitiativen. Vielen Dank an Carla, Nico und die anderen Initiatoren!

Menschen sind Inseln

Allmählich hält die Ökosystemtheorie Einzug in die Immunologie. Immer mehr Forscher plädieren dafür, sich von der alten Kriegsmetaphorik zu verabschieden und die Wahrung der menschlichen Gesundheit eher wie die Pflege eines Naturschutzgebiets anzugehen: Bevor man Organismen bekämpft, sollte man wissen, welche  Rollen sie im jeweiligen Ökosystem spielen. Sonst geht es uns mit unseren Symbionten und Kommensalen so wie mit der Vogelwelt auf so mancher Insel, auf der Katzen eingeführt wurden, um die Ratten in Schach zu halten. Womöglich ist genau das schon passiert, als wir in der ersten Welt bestimmte Würmer und Bakterien ausgerottet haben, die über Jahrhunderttausende auf und in uns lebten – mit der Folge, dass Autoimmunerkrankungen überhand nehmen.

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