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Geschlechtsspezifische Unterschiede im Mikrobiom von Menschen mit chronischem Erschöpfungssyndrom

Vor knapp zwei Jahren war ich noch skeptisch und auch ein wenig spöttisch, was das sogenannte Mikrogenderom angeht. Damals waren geschlechtsspezifische Unterschiede im Mikrobiom, die mit Autoimmunerkrankungen korrelieren, ausschließlich bei einem Tiermodell für Diabetes (NOD-Maus) nachgewiesen. Die in der Fachpresse suggerierte Übertragbarkeit auf den Menschen erschien mir fraglich, da man bis dahin nur bei traditionell lebenden Hadza in Tansania gewisse Unterschiede in der Zusammensetzung der Bakterienpopulationen im Darm gefunden hatte, die vermutlich auf die unterschiedliche Kost von Männern und Frauen zurückgehen: „Mag sein, dass wir nur noch genauer hinsehen müssen, um auch in anderen menschlichen Populationen geschlechtsspezifische Darmflora-Nuancen zu entdecken, die, wenn es sie gibt, dann vermutlich auch (auf höchst subtile und verschachtelte Weise) mit unserem Immunsystem wechselwirken und insofern womöglich ihr Scherflein zu den höheren Autoimmunerkrankungsrisiken von Frauen beitragen. Aber das ist noch ein langer Weg, den wir auch ohne Kunstworte aus der Hölle beschreiten können.“

Inzwischen sind wir einen Schritt weiter: Ein australisches Autorenteam um Amy Wallis hat 2016 und 2017 auf kleine bis mittelstarke geschlechtsspezifische Interaktionen zwischen Darmbakterien aus der Abteilung der Firmicutes und den Symptomen von Menschen mit chronischem Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom (CES) hingewiesen.

CES trifft Frauen häufiger und schwerer

CES ist eine chronische Erkrankung unter Beteiligung des Nerven- und Immunsystems, die sich unter anderem durch pathologische Abgeschlagenheit und starke Erschöpfung bereits nach leichter körperlicher Betätigung auszeichnet. Die Ursachen sind nicht bekannt, und wie bei einigen Autoimmunerkrankungen belasten die schwierige, oftmals um Jahre verzögerte Diagnose und ärztliche Ignoranz die Betroffenen zusätzlich. Einiges spricht für eine starke Beteiligung des Immunsystems an der Erkrankung, aber offenbar eher des angeborenen als des erworbenen Arms unserer Abwehr. Damit ist CES wohl keine Autoimmunerkrankung, sondern eher eine chronische Entzündung.

Wie viele Autoimmunerkrankungen trifft auch CES mehr Frauen als Männer, etwa im Verhältnis 2:1. Bei 9 von 13 durch Fragebögen erhobenen Faktoren berichteten die hier befragten Patientinnen stärkere CES-Symptome als Patienten, was vermutlich nicht auf ein sogenanntes overreporting, also – salopp gesagt – eine größere Wehleidigkeit von Frauen zurückzuführen ist, sondern tatsächlich auf schwerere Beeinträchtigungen. So gehen die höheren Symtomberichtswerte von Frauen oftmals mit höheren Zytokinwerten im Blut einher.

Bakteriensuppe durchsequenzieren – oder Bakteriengattungen kultivieren?

Interessanterweise mussten die Forscher nun ganz genau hinschauen, um geschlechtsspezifische Unterschiede in der Darmflora der untersuchten und befragten 274 Patientinnen und Patienten zu entdecken. Grundsätzlich kann man die Zusammensetzung der Darmflora auf zwei Weisen analysieren:

Entweder durch Metagenomik, also indem man – wiederum salopp gesagt – eine Stuhlprobe komplett durch einen DNA-Sequencer jagt und die gefundenen Basensequenzen mit Datenbanken abgleicht, in denen die Erbinformationen von Bakterien hinterlegt sind. So findet man sehr viele Bakterienarten oder sogar -stämme, aber man weiß nicht, ob es sich bei diesen Organismen um etablierte „Mitbewohner“ handelt oder um Verunreinigungen oder „Durchreisende“, etwa aus einer Mahlzeit oder einer akuten Infektion.

Oder durch den Versuch, möglichst viele der Organismen in Kulturmedien anzusiedeln, die den Lebensbedingungen im Darm nahekommen, und sie auszuzählen. Bei dieser Kultivierung kann man nur die Gattung der Bakterien bestimmen, aber dafür kann man gut abschätzen, wie groß ihr Anteil an der Darmflora ist. Die Forscher haben sich für Letzteres entschieden.

Gut für das eine Geschlecht, schlecht für das andere?

Auf der Ebene der Bakterien-Gattungen waren die Mikrobiome der Frauen und Männer im Durchschnitt nahezu gleich zusammengesetzt. Aber es gab zahlreiche Korrelationen zwischen den CES-Symptomstärken und dem Anteil der Gattungen im Mikrobiom der Patientinnen und Patienten – und viele dieser positiven wie negativen Korrelationen waren geschlechtsspezifisch. Beispielsweise kamen im Darm von Frauen, die besonders starke Erschöpfung nach körperlichen Tätigkeiten angaben, mehr Clostridien vor als im Darm von Patienten, die nach einer Kraftanstrengung weniger erschöpft waren – aber bei Männern, die stark unter diesem CES-Symptom litten, war der Clostridien-Anteil nicht erhöht. Zweites Beispiel: Im Darm männlicher Patienten, die besonders stark unter Schmerzen litten, fanden sich deutlich weniger Eubakterien als bei Betroffenen, die schwächere Schmerzen hatten – aber auch weniger als bei Frauen, die besonders starke Schmerzen hatten. Der Darm von Frauen mit starken Schmerzen enthielt dafür signifikant weniger Streptokokken als der Darm von Betroffenen mit schwächeren Schmerzen – aber auch von Männern mit starken Schmerzen.

Besonders stark klafften die Korrelationen zwischen Bakterienhäufigkeit und Symptomstärke bei der letztgenannten Gattung auseinander: Bei 9 der 13 erhobenen Symptomfaktoren unterschieden sich die Korrelationen zwischen männlichen und weiblichen CES-Patienten signifikant, und stets war die Korrelation bei den Frauen negativ und bei den Männern positiv. Wollte man diese Zusammenhänge kausal interpretieren, hieße das: Streptokokken schützen Frauen vor heftigen Symptomen, verstärken aber die Belastung der Männer durch die Krankheit.

Das andere Extrem waren die Bifidobakterien, die nicht zur Abteilung Firmicutes gehören, sondern zu den Actinobakterien: Nur bei einem einzigen Symptom unterschied sich die Korrelation zwischen Bifidobakterien-Häufigkeit im Darm und Symptomschwere signifikant zwischen den Geschlechtern; insgesamt schienen diese Bakterien – wiederum kausal gedeutet – beide Geschlechter eher vor schweren Symptomen zu schützen.

Wie wirkt der Darminhalt auf das Nervensystem ein?

Über die Mechanismen, die solche kausalen Zusammenhänge möglicherweise vermitteln, konnten die Autoren nur Hypothesen aufstellen, denn ein mutmaßlich entscheidender Vermittlungsweg – der Hormonstatus – war bei den Patientinnen und Patienten nicht erhoben worden. Bekannt ist, dass viele Darmbakterien Hydroxysteroid-Dehydrogenasen produzieren, also Enzyme, die Vorformen von Sexualhormonen verstoffwechseln und so zum Beispiel den Estrogen-Pegel im Körper beeinflussen können. Unsere Sexualhormone wiederum docken an die Hormonrezeptoren vieler Zellen an und beeinflussen so unter anderem das Immun- und das Nervensystem – und damit zum Beispiel unsere Schmerzwahrnehmung.

Es gibt aber auch einen Rückkanal, und damit ist die Richtung des Kausalzusammenhangs offen: Ein durch eine Erkrankung aus dem Lot geratenes Hormonsystem kann die Darmflora durcheinander bringen, teils durch direkte Einwirkung auf die Bakterien, teils vermittelt durch die Darmschleimhautzellen. Und schließlich könnte beides – ein Ungleichgewicht in der Darmflora und starke CES-Symptome – Folge von etwas Drittem sein, zum Beispiel von Vorlieben für bestimmte Nahrungs- oder Genussmittel. Ernährungsgewohnheiten wiederum können vom Geschlecht beeinflusst sein, teils kulturell, teils hormonell vermittelt. Vor allem bei männlichen CES-Patienten scheint der D-Laktat- oder -Milchsäure-Spiegel im Blut sowohl mit der Schwere kognitiver und neurologischer Symptome als auch mit der übermäßigen Vermehrung bestimmter Bakterien im Darm zusammenzuhängen.

Ignorieren gilt nicht

Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur der aktuelle Hormonspiegel geschlechtsspezifische Interaktionen – etwa zwischen Darmflora und Gehirn – vermitteln kann, sondern unter Umständen auch der ehemalige Hormonstatus des Embryos oder des Neugeborenen. Denn wie ich im übernächsten Beitrag darlegen werde, prägt insbesondere Testosteron die Entwicklung des männlichen Nerven- und Immunsystems bereits kurz vor und nach der Geburt, in der sogenannten Minipubertät. Obwohl Jungen während ihrer Kindheit kaum noch Testosteron produzieren, hält diese frühe Wirkung an, weil sie sich epigenetisch dauerhaft niederschlägt: durch die Methylierung der DNA und damit die Ablesbarkeit zahlreicher Gene auf all unseren Chromosomen.

Dieses Durcheinander aufzuklären, wird nicht leicht. Dazu müsste man (1.) in allen klinischen Studien zwischen Männern und Frauen und möglichst auch in allen präklinischen Tierversuchen zwischen Männchen und Weibchen unterscheiden, (2.) stets auch den Hormonstatus ermitteln – und (3.) die Zusammensetzung des Mikrobioms noch genauer aufklären, am besten durch Kombination beider oben erläuterter Ansätze (Metagenomik und Kulturen).

Einfach nur die durchschnittliche Häufigkeit der Bakterien-Gattungen in Proben aus Männern und Frauen zu vergleichen und dabei keine Auffälligkeiten festzustellen, reicht jedenfalls nicht aus, um die Existenz und medizinische Bedeutung eines Mikrogenderoms beim Menschen auszuschließen.

Literatur

A. Wallis et al. (2016): Support for the Microgenderome: Associations in a Human Clinical Population

A. Wallis et al. (2017): Support for the microgenderome invites enquiry into sex differences