Der folgende Artikel aus der Open-Access-Zeitschrift Autoimmune Diseases erhebt den Anspruch, erste Hinweise auf den Mechanismus hinter der therapeutischen Wirkung von Selengaben bei Hashimoto-Thyreoiditis (evtl. auch bei Morbus Basedow) zu geben. Leider löst er diesen Anspruch nicht ganz ein: Die Autoren haben so sehr mit der englischen Sprache gekämpft, dass die Kernaussage sowohl im Text als auch in der zentralen Grafik der Publikation unverständlich bleibt, und die Redakteure der Hindawi Publishing Corporation haben den Verfassen nicht nur nicht beigestanden, sondern mit ihrer schlampigen Arbeit sogar für weitere Verwirrung gesorgt. Sehr schade, auch mit Blick auf das Renommee von Open-Access-Journalen. Ich habe mir aber weitere aktuelle Arbeiten zum Thema Selen und Autoimmunerkrankungen beschafft und werde weiter berichten.
Csaba Balázs und Viktória Kaczur: Effect of Selenium on HLA-DR expression of Thyrocytes. Autoimmune Diseases, 2012, doi: 10.1155/2012/374635
Abstract: Mit dem Experiment sollte geklärt werden, ob Selen (Se) in In-vitro-Kulturen menschlicher Thyreozyten (Schilddrüsenzellen) die Expression von HLA-DR-Molekülen und die Produktion freier Sauerstoffradikale beeinflusst. Die Zellen wurden in der Gegenwart von Gamma-Interferon kultiviert, was zur Expression von HLA-DR-Molekülen führte. Selen inhibierte diese Expression in dosisabhängiger Weise. Dieser Effekt korrelierte negativ mit der antioxidativen Kapazität.
Einleitung: In der Literatur gibt es widersprüchliche Angaben; nicht in allen Studien wurde ein signifikanter positiver Effekt von Se in physiologischen Dosen auf Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse festgestellt. Die Autoren haben kürzlich eine placebokontrollierte Studie an 132 Patienten veröffentlicht: Alle Tn. erhielten L-Thyroxin in einer solchen Dosis, dass ihre TSH-Werte sich normalisierten. Eine Gruppe erhielt außerdem ein Jahr lang täglich zwei Mal je 100 µg L-Selenomethionin. Der Titer der Autoantikörper (vor allem Anti-TPO) war in dieser Gruppe gegen Ende der Studie signifikant gesunken. Außerdem zeigte sich eine inverse Beziehung zwischen der antioxidativen Kapazität und dem Anti-TPO-Titer. Das ließ vermuten, dass Selenmangel für die Manifestation (?? precipitation) des Entzündungsvorgangs verantwortlich sein könnte. Es gibt immer mehr Indizien für Einflüsse von selenhaltigen Enzymen und ihrer antioxidativen Kapazität auf Autoimmunprozesse.
Schilddrüsenepithelzellen von Personen mit einer Autoimmunerkrankung der Schilddrüse können in Unterschied zu denen gesunder Personen HLA-Klasse-II-Antigen-Moleküle exprimieren, die normalerweise in antigenpräsentierenden Zellen wie Makrophagen und dendritischen Zellen exprimiert werden. [HLA-DR ist ein MHC-Klasse-II-Rezeptor an der Oberfläche von Leukozyten und – gemeinsam mit dem jeweiligen Antigen-Peptid – ein Ligand des T-Zell-Rezeptors.] Diese fälschliche Exression könnte zu einer Autoantigen-Präsentation und damit zum Beginn und Unterhalt einer Autoimmunreaktion auf Schilddrüsengewebe führen. Diese Expression lässt sich durch Gamma-Interferon induzieren und durch Antioxidantien wie Methimazol reduzieren. Nun sollte getestet werden, ob auch Selen eines solche Hemmwirkungung hat.
Material und Methoden: Thyreozyten wurden kultiviert, die durch Gamma-Interferon induzierte HLA-DR-Expression bei verschiedenen Konzentrationen von Natriumselenit von Sigma getestet. Der totale antioxidative Status (TAS) wurde mit dem Randox-Kit bestimmt.
Ergebnisse: 100 U/ml Gamma-Interferon stimulierten die HLA-DR-Expression in den Thyreozyten deutlich. Der Anteil der HLA-DR-positiven Zellen war an Tag 3 am höchsten und fiel dann rasch ab. 50 nM/ml bzw. 100 nM/ml Se inhibierten diese induzierte Expression signifikant. [In der entsprechenden Abbildung 1 sind die Icons für die Datenpunkte der drei Kurven falsch; offenbar sind aus den „dots“ Bleistiftsymbole, aus den „squares“ Brillen-Symbole und aus den „filles squares“ Briefkasten-Symbole geworden.]
Es zeigte sich zudem eine inverse Korrelation zwischen dem antioxidativen Status und dem Anteil HLA-DR-positiver Zellen (r = -0,72); d. h.: je höher der antioxidative Status, desto geringer der Zellanteil mit HLA-DR-Rezeptoren an der Oberfläche. [In dieser zweiten Abbildung sind die Datenpunkte ebenfalls zu Briefkasten-Icons geworden. Was aber noch viel verdächtiger erscheint: Die Punkte liegen allesamt exakt auf der Regressionsgeraden, und die Länge der Fehlerbalken nimmt von links nach rechts monoton ab. Aufgetragen ist der Prozentsatz der HLA-DR-positiven Thyreozyten (etwa 40 bis 5 Prozent) gegen den antioxidativen Status (0,5 bis 2,25 in Schritten von je 0,25). Das Ergebnis sieht fast so aus, als hätte man die Kehrwerte gegen die Werte einer Datenreihe aufgetragen. Außerdem wird nirgends erwähnt, wieviel Selen jeweils im Spiel war. Keine Ahnung, was uns das sagen soll!]
Diskussion: 2008 wurde nachgewiesen, dass Se-Gaben bei Patienten mit einer Autoimmunerkrankung der Schilddrüse die Aufnahme von 18-Fluordesoxyglucose (einem radioaktiv markierten Glucose-Analogon, mit dem man Stoffwechselaktivität misst) deutlich verringern. Der Mechanismus, über den Se seine günstige Wirkung ausübt, blieb jedoch unklar. Die Versuche der Autoren zeigten dann, dass Se ein effektiver Radikalfänger ist (?? has a significant radical scavenging effect) und dass die Gamma-Interferon-induzierte HLA-DR-Expression in einer inversen Beziehung zur antioxidativen Kapazität des Thyreozyten-Überstands steht.
Die Antigenität von Schilddrüsen-Autoantigenen (Thyreoglobulin und TPO) steigt nach einer Iod-Exposition an; Selen kann dem entgegenwirken. Außerdem scheint Selen antivirale Eigenschaften zu haben. Da Viren Gamma-Interferon-Ausschüttung und damit HLA-DR-Expression induzieren, könnte es sein, dass Vireninfektionen (z. B. Epstein-Barr-Virus, West-Nil-Virus oder Herpesvirus) Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse auslösen. Wirkung von Se auf Tregs: Mangel an CD4+CD25+-Tregs geht eng mit Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse einher; in einem Tiermodell für Iod-induzierte AIE der Schilddrüse (NOD.H-2h4-Mäuse) erhöhte Se die Zahl dieser Tregs.
[Fazit: Einige interessante Hinweise auf andere Studien und Hypothesen; Kernaussage zum antioxidativen Status für mich nicht nachvollziehbar.]