Bevor sich hier wieder alles ums Immunsystem dreht, schreibe ich noch schnell auf, was ich im Urlaub gelesen habe.
Richard Fortey: Dry Store Room No. 1. The Secret Life of the Natural History Museum (2008)
Erworben habe ich das Sachbuch im März direkt vor Ort, im Shop des Natural History Museum. Eine sehr lesenswerte, kurzweilige Hommage an all die leidenschaftlich für ihr jeweiliges Forschungsgebiet brennenden, zum Teil skurrilen Figuren im „Backend“ des Museums; zugleich eine schonungslose Darstellung der Verheerungen des Thatcherismus und der neoliberalen Ideologie, der zufolge sich auch Grundlagenforschung rechnen muss, und des Niedergangs der Taxonomie. Auch die moderne Museumsdidaktik mit ihrem Faible für Klickibunti bekommt ihr Fett weg, ohne dass Fortey sich der Notwendigkeit einer Anpassung der Präsentationsformen an die heutige Zeit verschließen würde. Der Autor ist Paläontologe und hat vor allem Trilobiten erforscht; einige seiner Bücher wie „Leben. Die ersten vier Milliarden Jahre“ wurden auch auf Deutsch verlegt. Einiges wusste ich als Biologin natürlich schon, dennoch habe ich vieles gelernt. Nach meiner Einschätzung ist das Buch auch für Laien gut zu verstehen.
Ein literarischer Fantasyroman, den ich aufgrund einer positiven Besprechung gekauft habe. Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite, sprachlich ein Genuss, bis in die Kapitelüberschriften hinein – endlich einmal deutsche Gegenwartsliteratur, die künstlerisch, aber nicht manieriert wirkt; ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Der dystopische Roman löst atmosphärisch das ein, was ich mir von der kürzlich unter Qualen zu Ende gelesenen „Auslöschung“ von Jeff VanderMeer erhofft hatte; auch im Plot gibt es Parallelen. Den erzähle ich hier nicht nach, denn das könnte dem allmählichen Aufbau der Verstörung und Verwirrung bei der Lektüre Abbruch tun.
Wilkie Collins: Die Namenlosen. Neu übersetzt von Sebastian Vogel (2017)
Manche Leute haben schon verrückte Hobbies. Mein ehemaliger Übersetzerkollege, der Kölner Biologe Sebastian Vogel, übersetzt und verlegt in seiner Freizeit Romane. „Vergessene Schätze der englischen Literatur“ heißt die Reihe, die er über den Dienstleister Epubli vertreibt. Dieser Backstein hat gut 750 Seiten, und ich hatte zunächst Sorge, ob ich ihn nach den anderen beiden Büchern noch schaffe. Dank einiger Ruhetage war das aber gar kein Problem; das anfangs sehr gemächliche Erzähltempo steigert sich, und die Geschichte entwickelt einen richtigen Sog: Man will wissen, ob das alles noch irgendwie gut (oder wenigstens glimpflich) ausgeht. Soweit ich das beurteilen kann, hat Sebastian Vogel den viktorianischen Tonfall sehr gut getroffen. Nur das Vorwort von Collins kam mir ziemlich gedrechselt vor, was aber dem Original entsprechen mag.
Die positiven Besprechungen bei Lovelybooks geben einen guten Eindruck vom Buch. Wilkie Collins vertritt für seine Zeit einen durchaus progressiven, gesellschaftskritischen Standpunkt, was die Rolle der Frau in der Gesellschaft angeht. Dennoch musste ich bei einigen der Betrachtungen über das „moralische Wesen“ von Frauen und Männern, die er seinen Figuren in den Mund legt, im übertragenen Sinn in eine Tüte atmen. Bei einigen Passagen vor allem im ersten Drittel hatte ich auch den Eindruck, dass sich die Rezeptionsgewohnheiten für Unterhaltungsromane in seiner Zeit gerade erst herausbildeten, denn er nimmt seine Leserinnen und Leser regelrecht an die Hand: Er erklärt mehr und ausführlicher, als es heute üblich ist, und verstößt eklatant gegen die damals wohl noch nicht allgemein gültige Schreibregel „Show, don’t tell“. Aber solche Beobachtungen mindern das Lesevergnügen ja nicht. Ich fühlte mich jedenfalls angenehm in die Zeit zurückversetzt, als ich noch Herzschmerzromane für den Cora-Verlag übersetzt habe: Collins ist eindeutig einer der Urväter dieses Genres.
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Lediglich angefangen habe ich mit Daniel Kahnemanns „Schnelles Denken, langsames Denken“, das sich ebenfalls kurzweilig liest, aber an einigen Stellen schlecht gealtert ist – etwa da, wo sich der Autor auf das kürzlich in Ungnade gefallene Stanford marshmallow experiment bezieht.
Da ich mich in den letzten Jahren intensiv mit Framing-Effekten auseinander gesetzt habe, sind mir einige der zentralen Konzepte und Erkenntnisse bereits vertraut. Gefallen hat mir, dass der Autor „System 1“ und „System 2“ ganz klar als Metaphern bezeichnet, als sprachliche Abkürzungen, und sie nicht zu echten Modellen aufzublasen versucht.