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Grigoris Effraimidis, Jan G. P. Tijssen, Wilmar M. Wiersinga: Alcohol Consumption as a Risk Factor for Autoimmune Thyroid Disease: A Prospective Study. Eur Thyroid J, 7. Juni 2012 (doi defekt, Abstract hier)
Soll man überhaupt über Studien berichten, in denen als gesundheitsschädigend eingestufte Verhaltensweisen wie Trinken und Rauchen plötzlich als mögliche Schutzfaktoren für bestimmte Autoimmunerkrankungen diskutiert werden? Ja, natürlich. Mündige Patienten können nur dann (im Idealfall gemeinsam mit ihren Ärzten) abwägen, was sie an ihrem Leben ändern sollten, um Verschlimmerungen einmal diagnostizierter Autoimmunerkrankungen aufzuhalten, wenn sie rundum informiert sind.
Dies ist die erste prospektive Studie zur Auswirkung von Alkoholkonsum auf den Ausbruch einer Hypothyreose bei anfangs noch gesunden Personen, in deren Familien Schilddrüsenerkrankungen bekannt sind. Prospektive Studien haben gegenüber den weitaus häufigeren retrospektiven Studien den Vorteil, dass falsche Erinnerungen bei nachträglichen Befragungen usw. weitgehend ausgeschlossen werden können.
Die Autoren hatten bereits 2009 herausgefunden, dass Rauchen die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung von Schilddrüsen-Autoantikörpern und des Ausbruchs von Hashimoto-Thyreoiditis senken könnte. Außerdem gibt es in der Fachliteratur Hinweise darauf, dass Alkoholkonsum einen gewissen Schutz vor systemischem Lupus erythematodes (SLE) und vor rheumatoider Arthritis (RA) darstellen könnte. Daher wollten sie prüfen, ob Alkoholkonsum auch vor der Ausbildung von Anti-TPO-Antikörpern (Studie A) und/oder vor Hashimoto-Thyreoiditis mit überhöhtem TSH-Wert und zu niedrigem fT4-Wert (Studie B) schützen kann.
An der Studie beteiligten sich 790 Frauen aus der Amsterdamer AITD-Kohorte, also bei Studienbeginn gesunde Frauen, in deren Familien bereits Schilddrüsenerkrankungen bekannt waren. Ihr Zustand wurde über fünf Jahre (oder zumindest bis zum Ausbruch der Schilddrüsenerkrankung) verfolgt. Einmal im Jahr wurde ihr Blut untersucht und ihr Verhalten im vergangenen Jahr (Rauchen, Trinken usw.) durch Fragebögen erfasst. Für jede Person, die im Laufe der Studie Anti-TPO-Antikörper oder eine Hypothyreose ausbildete, wurden zwei gematchte Kontrollen gesucht, also Frauen desselben Alters, die ebenso lange untersucht worden waren und ebenfalls Raucherinnen bzw. Nichtraucherinnen waren. Beim Alkoholkonsum wurde grob zwischen „Nicht- und Wenigtrinkerinnen“ (bis zu 10 Einheiten pro Woche) und „Vieltrinkerinnen“ (über 10 Einheiten pro Woche) unterschieden.
Auf die Ausbildung von Anti-TPO-Antikörpern hatte das Trinkverhalten der Frauen keinen signifikanten Einfluss. Unter den Frauen, die im Verlauf der Studie eine Hypothyreose ausbildeten, tranken zu Beginn der Beobachtung 8,3 Prozent viel Alkohol; in der Kontrollgruppe ohne Hypothyreose waren es 14,5 Prozent; der Unterschied war nicht signifikant (odds ratio/OR 0,54). Doch ein Jahr vor dem Ausbruch der Erkrankung waren in der Fallgruppe signifikant weniger Frauen mit starkem Alkoholkonsum als in der Kontrollgruppe (5,3 Prozent und 19,7 Prozent; OR 0,23), und auch zum Zeitpunkt des Ausbruchs war der Unterschied signifikant (6,7 Prozent in der Fallgruppe, 23,7 Prozent in der Kontrollgruppe; OR ebenfalls 0,23).
Wegen der relativ wenigen Hypothyreose-Ausbrüche während der Studie (38 Fälle) muss man bei der Interpretation vorsichtig sein. Klare Dosis-Wirkungs-Zusammenhänge lassen sich so z. B. nicht ermitteln; daher wurde nur zwischen einem Konsum von bis zu 10 Einheiten und über 10 Einheiten pro Woche unterschieden. Es hat den Anschein, als würde Alkoholkonsum einen gewissen Schutz vor dem Ausbruch einer Schilddrüsenunterfunktion darstellen.
Über den Mechanismus ist noch nichts bekannt, ebenso wenig wie bei rheumatoider Arthritis, die bei Nichttrinkern mit einer OR von 4,17 deutlich häufiger ausbricht als bei Alkoholkonsumenten. Alkohol könnte eine allgemeine toxische Wirkung auf die Schilddrüse haben; darauf deutet z. B. die Verkleinerung der Schilddrüse bei vielen Alkoholikern hin. Aber das ließe eigentlich eine stärkere Unterfunktion bei höherem Alkoholkonsum erwarten und nicht einen Schutz vor Unterfunktion.
Ebenso wie beim Tabakkonsum, bei dem die Autoren und ein weiteres Forscherteam 2009 bzw. 2008 ebenfalls eine Schutzwirkung (und zwar nicht nur vor Schilddrüsenunterfunktion, sondern auch schon vor der Ausbildung von Anti-TPO-Antikörpern) konstatiert haben, könnte die vermeintliche Schutzwirkung aber einfach auf eine gemeinsame genetische Prädisposition hindeuten: Vielleicht gibt es genetische Varianten, die sowohl das Risiko einer Hypothyreose senken als auch die Neigung zum Alkohol- und Tabakkonsum fördern. Allerdings war der in dieser Studie gefundene Effekt völlig unabhängig vom Rauchen. Die Fragen, ob es sich wirklich um einen Schutzmechanismus handelt und wenn ja, ob dieser alkoholspezifisch ist, müssen also vorerst offen bleiben.
(Disclaimer: Ich trinke Alkohol, vor allem Wein. Der Geschmack und die entspannende Wirkung erhöhen meine Lebensqualität, und die sollte gerade bei einer Autoimmunerkrankung auf keinen Fall zu kurz kommen. Letztes Jahr habe ich während und nach meiner mysteriösen Leberinfektion einige Monate auf Alkohol verzichtet; das war auch in Ordnung. Alkoholfreies Weizenbier schmeckt im Sommer z. B. großartig.)
Ich habe auch Hashimoto,diagnostiziert Anfang letzten Jahres.
Eine Fettleber wurde bei mir auch festgestellt ,trotz nur Konsum am Wochenende seit längerem,zugegeben wenn dann auch reichlich:D
Viele vertragen mit Ht fast keinen Alkohol mehr,das kann ich bei mir nicht festestellen solange die Werte im oberen Bereich liegen.
Ich habe früher Kette geraucht und viel Alkohol konsumiert,blieb aber trotzdem nicht verschont.
In der Familie gibt es allerdings auch mehrere SD Patienten
Rauchen hat mich zum Glück nie gereizt. Beim Alkohol kann ich gegenüber früher keine Veränderung in der Veträglichkeit feststellen. Meine Mutter hat fast exakt in demselben Alter Hashimoto bekommen wie ich, und sie hat geraucht wie ein Schlot. Aber solche anekdotischen Indizien haben halt weniger Aussagekraft als eine groß angelegte Studie.
Allerdings finde ich, dass die Autoren bei der Interpretation ihrer Ergebnisse etwas forsch vorangesprescht sind. Ich tippe eher auf die gegen Ende meiner Zusammenfassung erwähnte Erklärung: Es könnte irgendwo eine schwache gemeinsame genetische Veranlagung geben, die den „Drogenkonsum“ statistisch mit dem Hashimoto-Risiko koppelt. Die vermeintliche Schutzwirkung wäre dann einfach eine zeitliche Abfolge, weil die meisten Leute sich das Rauchen und/oder Trinken in jüngeren Jahren an- oder abgewöhnen, während Hashimoto meist erst später ausbricht.
Ich bin Alkoholkrank seit November 2010 trocken und Nichtraucher Februar 2011.Hashimot wurde im Juli 2011 festgestellt die Beschwerden fingen Anfang 2011 an,ob da ein Zusammenhang besteht?
Schwer zu sagen. Es heißt oft, dass Autoimmunerkrankungen bevorzugt in Stressphasen zum Ausbruch kommen (und das Ausbleiben von Substanzen, an die sich Körper und Psyche gewöhnt haben, ist bestimmt Stress), aber zumindest bei Hashimoto ist dieser Zusammenhang nicht eindeutig nachzuweisen.
Bisher gibt es nichts außer dem relativ schwachen, aber signifikanten statistischen Effekt – von einer Erklärung sind wir noch meilenweit entfernt. Vielleicht deutet der geringere Alkoholkonsum bei den Personen, die später an Hashimoto erkrankten, nur auf einen veränderten Lebensstil hin, der sie mit irgendeinem anderen, noch unbekannten Auslöser in Kontakt gebracht hat. Oder die Personen haben in dem Jahr vorm Ausbruch der Erkrankung „gespürt“ (nicht unbedingt bewusst), dass irgendwas im Busch ist, und daraufhin versucht, gesünder zu leben. In der Studie wurden übrigens nur Frauen untersucht; ob derselbe statistische Zusammenhang auch für Männer gilt, ist nicht gesagt.
Ein Problem ist auch, dass man im Nachhinein immer irgendeinen Zusammenshangsverdacht konstruieren kann. Bei mir war die Phase vor den ersten Symptomen auch ausgesprochen konfliktreich; außerdem gab es eine Impfung, die man mit dem Ausbruch in Verbindung bringen könnte. Aber die Tatsache, dass meine Mutter damals in exakt demselben Lebensalter (plus/minus drei Monate) erkrankt ist, hat meinen Spekulationen über solche Zusammenhänge einen Riegel vorgeschoben.
Es ist halt, wie es ist – machen wir das Beste draus.
Aus aktuellem Anlass: Ich schalte nicht jedenTrollkommentar frei, der hier eingeht. Reißt eure Witze woanders.
Eine Rolle könnte vielleicht auch spielen, dass manche Hashimoto-Betroffenen weniger Alkohol vertragen (lese ich öfter in Foren) und dann auch weniger trinken, wenn ein Viertel Wein so wirkt wie früher die doppelte oder dreifache Menge.
Außerdem weiß man bei Hashimoto in den meisten Fällen nicht, seit wann die Erkrankung besteht. Manche Ärzte definieren Hashimoto ja so, dass schwach erhöhte Antikörper noch kein Hashimoto machen und erst die Unterfunktion die Diagnose besiegelt (siehe der Gastbeitrag von Prof. Gärtner im Schilddrüsenguide). Da ich mich aber an zwei Phasen mit einer milden Überfunktion erinnere und danach lange normale Schilddrüsenwerte hatte, kann ich mit so einer Definition nichts anfangen.
Alkohol hat in diesen Fällen den Ausbruch nicht verzögert oder vor der Krankheit geschützt, sondern wurde gerade deswegen getrunken, weil die Leute gesund sind/waren. Diejenigen, die auf ‚Genussgifte‘ verzichten, tun dies vor allem, weil sie eher für das ‚Gift‘ als für den ‚Genuss‘ sensibilisiert sind – und das sind sie, weil es ihnen schon nicht mehr ganz so gut geht.
Allerdings bin ich aber trotzdem der Meinung, dass es durchaus seltene Konstellationen geben könnte (allgemein, nicht auf die Schilddrüse bezogen), wo der Konsum von Alkohol, Tabak und sogar anderen Drogen einen günstigeren Einfluss auf den Körper hat, als der Verzicht darauf.
Die Review „Prevention of autoimmune hypothyroidism by modifying iodine intake and the use of tobacco and alcohol is manoeuvring between Scylla and Charybdis“ ist lesenswert! Sie ist (… wie lange noch?) zu finden unter
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23624129 bzw. http://www.hormones.gr/842/article/prevention-of-autoimmune-hypothyroidism-by-modifying….html
Fazit: Die individuelle Biochemie ist ausschlaggebend. Generalisierend – siehe Conclusion – wird das so formuliert: „…Based on the reduction in risk of developing autoimmune hypothyroidism and some other diseases, people who prefer to have daily moderate alcohol consumption can be reassured….“
Herzlichen Dank für den interessanten Litertaturtipp – wird gelesen! 🙂