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Cartoon eines Mitochondriums als Fabrik, die vor allem Energieträger erzeugt

Die Rolle der Mitochondrien in systemischen Autoimmunerkrankungen

Mein Text über T-Zellen mit Stoffwechselproblemen ist gut sieben Jahre alt. Höchste Zeit für ein Update: Welche Rolle spielt der Zellstoffwechsel bei der Entstehung und der Bekämpfung von systemischen Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Lupus (SLE)? Was geschieht mit den Zellen und Regelkreisläufen des Immunsystems, wenn unsere Mitochodrien nicht so funktionieren, wie sie es sollten? Der aktuellen Kenntnisstand dazu ist in einem Review nachzulesen (Open Access):

Blanco LP, Kaplan MJ (2023): Metabolic alterations of the immune system in the pathogenesis of autoimmune diseases. PLoS Biol 21(4): e3002084. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3002084

Der Artikel enthält ein Glossar mit den wichtigsten Grundbegriffen und einige mittelprächtige Abbildungen. Viele Aussagen sind – wie so oft in narrativen Reviews – recht vage, nach dem Schema: X könnte Y bewirken. Und man verliert sich leicht in den zahlreichen Details der dargestellten Signalketten und Stoffwechselwege, die ich im Folgenden weglasse.

Bevor ich die Arbeit zusammenfasse: ein Wort zur sogenannten Mitochondrien-Medizin. Ich reagiere etwas allergisch auf den Ausdruck, da mir dieser alternativmedizinische Ansatz arg esoterisch erscheint, wie ein Glaubenssystem, dessen Anhänger ab und zu auch mich zu bekehren versucht haben oder in mir eine Verbündete zu sehen meinten. Insofern passt es, dass dieser Text nach dem über die Just-so-Stories erscheint: Die Hypothese, auf der Mitochondrien-Medizin fußt, klingt furchtbar einleuchtend, aber das Ganze ist nicht gerade evidenzbasiert. Dysfunktionale Mitochondrien sind tatsächlich an (zumindest einigen) Autoimmunerkrankungen beteiligt. Aber die Zusammenhänge sind komplex und vermutlich nicht bei allen Autoimmunerkrankungen gleich, und die entsprechenden Therapieansätze sind so unausgereift, dass gegenüber schlichten Ernährungsregeln oder anderen Formen der Selbsttherapie zur Mitochondrien-„Heilung“ vorerst gehörige Skepsis angebracht ist. Jetzt aber zu Blanco und Kaplan:

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Abb. 85: Familiäre Häufung von Autoimmunerkrankungen

Familienstammbäume offenbaren komplexe Erbgänge und Häufungen von Autoimmunerkrankungen. In der linken Familie hat die Mutter eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse (AITD), der Sohn multiple Sklerose (MS) und eine Tochter das Sjögren-Syndrom (SS). Rechts sind beide Eltern gesund, aber von den fünf Kindern haben zwei Töchter jeweils drei Autoimmunerkrankungen: die eine systemischen Lupus erythematodes (SLE), Antiphospholipid-Syndrom (APS) und Sjögren-Syndrom, die andere Vitiligo (VIT), ebenfalls Sjögren-Syndrom und eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse.

Vier der fünf Erkrankten sind weiblich. Tatsächlich erkranken an vielen Autoimmunerkrankungen Frauen häufiger (s. Abb. 51). In beiden Familien gibt es weniger Söhne als Töchter. Auch das ist typisch für Autoimmunerkrankungen mit deutlichem Frauenüberhang – ein Indiz für eine Beteiligung der Geschlechtschromosomen
an den Erkrankungen. Ich komme in Band 2 darauf zurück.

Sie dürfen diese Zeichnung gerne in Folien etc. übernehmen, sofern Sie die Quelle angeben: Dr. Andrea Kamphuis, https://autoimmunbuch.de

Abb. 14: Das Spektrum der Autoimmun- und autoinflammatorischen Erkrankungen

Das Spektrum der Autoimmunerkrankungen und autoinflammatorischen Erkrankungen mit einigen Beispielen. Oft werden auch Krankheiten im Mittelfeld als Autoimmunerkrankungen aufgefasst, obwohl sie nicht alle Witebsky-Rose-Kriterien erfüllen.

Sie dürfen diese Zeichnung gerne in Folien etc. übernehmen, sofern Sie die Quelle angeben: Dr. Andrea Kamphuis, https://autoimmunbuch.de

Transkriptionsfaktor als Strippenzieher: Warum vor allem Frauen an Lupus erkranken

Zu den Autoimmunerkrankungen mit deutlichem Frauenüberschuss zählt der Systemische Lupus erythematosus (SLE), kurz Lupus: Auf einen männlichen Erkrankten kommen etwa neun weibliche Betroffene; dafür erwischt es Männer oft stärker. Schon das spricht gegen einen einfachen ursächlichen Zusammenhang mit unseren Sexualhormonen nach dem Motto: Estrogen schlecht, Testosteron gut. Es muss zumindest weitere Faktoren geben, die das Geschlecht als Risikofaktor mit dem tatsächlichen Ausbruch und Verlauf der Krankheit verbinden.

Solche Zusammenhänge aufzuklären, ist methodisch ganz schön anspruchsvoll. Eine solche Arbeit stelle ich hier vor, denn der Aufwand hat sich gelohnt: Die Autoren haben ein Netzwerk von Genen aufgespürt, das vor allem in Frauen aktiv ist und das bei Lupus-Patientinnen und -Patienten zu Entzündungen und anderen Immunreaktionen beiträgt. Aktiviert wird es von einem wenig bekannten Transkriptionsfaktor, der in gesunden Frauen viel stärker exprimiert wird als in gesunden Männern: VGLL3. (Sein Langname ist nichtssagend und wenig einprägsam, drum erspare ich ihn uns.) Dasselbe Genregulierungsnetzwerk ist offenbar auch an weiteren Autoimmunerkrankungen mit Frauenüberhang beteiligt, darunter systemische Sklerose und Sjögren-Syndrom.

Frauenhaut ≠ Männerhaut

Da hat die Kosmetikindustrie ausnahmsweise recht, wenngleich das mit ihren Produkten herzlich wenig zu tun hat: Es gibt zahlreiche Unterschiede zwischen Frauen- und Männerhaut. Die Autoren haben Transkriptiomanalysen durchgeführt, also die Messenger-RNA (mRNA) aus weiblichen und männlichen Hautzellen sequenziert und so herausgefunden, dass 661 Gene in diesem Organ – und zwar im gesunden Zustand – in einem Geschlecht stärker abgelesen („transkribiert“) werden als im anderen. In Männerhaut ist die Ablesung von 268 Genen hochreguliert, in Frauenhaut werden 393 Genen stärker transkribiert. Diese Gene verteilen sich auf all unsere 23 Chromosomen, sind also bei weitem nicht nur auf den Sex-Chromosomen X und Y angesiedelt, wo ein Unterschied ja nicht weiter verwunderlich wäre: Gene auf dem Y-Chromosom fehlen in Frauen ganz, und Gene auf dem X-Chromosom kommen in Frauen in doppelter Ausführung vor, in Männern dagegen in Einzahl.

Die Zahl 661 ist schon beeindruckend genug, aber die Geschlechtsunterschiede in der Haut gehen noch viel weiter: Die Autoren untersuchten als Nächstes, inwieweit die Ablesestärke dieser 661 Gene mit der Ablesestärke aller anderen Gene in Hautzellen korreliert. Zum Beispiel: Gibt es in den Hautzellen einer Person besonders viel mRNA mit der Erbinformation von Gen A, so enthalten diese Zellen meist auch besonders viel (oder, bei einer negativen Korrelation, besonders wenig) RNA von Gen B. Sie fanden sage und schreibe 124.521 Gen-Paare, deren Expression nur in der weiblichen Haut korreliert, und 158.303 Gen-Paare, deren Ableseniveaus nur in der männlichen Haut Hand in Hand gehen. Das deutet auf riesige geschlechtsspezifische Genregulierungsnetzwerke hin, die über das gesamte Genom verteilt sind.

In Frauenhaut stark abgelesene Gene sind mit Autoimmunität assoziiert

Die biologische Funktion vieler dieser Gene ist bekannt. Auffällig viele der in Frauenhaut verstärkt transkribierten Gene sind an Immun- und Entzündungsreaktionen – insbesondere an der sogenannten Komplement-Aktivierung – beteiligt. Auf die bei Männern verstärkt abgelesenen Gene trifft das nicht zu. Die Autoren identifizierten eine recht große Schnittmenge zwischen den in Frauenhaut verstärkt abgelesenen Genen und den Risikogenen für Lupus und für systemische Sklerose, zwei Autoimmunerkrankungen mit hohem Frauenanteil. Unter den Genen, die in Männerhaut vermehrt transkribiert werden, fanden sie keine derartigen Assoziationen.

Deutlich erhöht war bei den Frauen zum Beispiel die Herstellung der Proteine BAFF und Integrin α-M, die bei vielen Lupus-Patientinnen im Übermaß vorliegen. Das frauentypische Lupus-Risikogen-Ablesemuster beschränkte sich nicht auf Hautzellen, sondern tauchte auch in Immunzellen wie Monozyten, B- und T-Zellen auf. In der Haut und den Monozyten von Frauen mit Lupus wurden diese Gene außerdem noch stärker abgelesen als in den Zellen gesunder Frauen.

Molekulare Mechanismen: Die Hormone sind es nicht 

Häufig werden Sexualhormone für eine geschlechtsspezifisch verstärkte Expression bestimmter Proteine verantwortlich gemacht. Schließlich können die Hormone an Rezeptoren auf oder in unseren Zellen binden und damit Signalketten auslösen, die zum Andocken von Transkriptionsfaktoren an die Promotor-Regionen bestimmter Gene führen. (Wer sich in Erinnerung rufen will, wie Transkriptionsfaktoren überhaupt arbeiten, kann sich hier die Schritte 9 und 10 am unteren Bildrand ansehen.) Um das zu prüfen, haben die Autoren Estradiol – eine wichtige Form von Estrogen – und Testosteron in physiologischer, also „normaler“, und in 100-fach erhöhter Konzentration auf Kulturen menschlicher Hautzellen einwirken lassen und die mRNA-Produktion in diesen Zellen analysiert: Die Sexualhormone veränderten Ablesestärke der Immunsystem-Gene nicht.

Es gibt aber auch zahlreiche Transkriptionsfaktoren, die nicht von Sexualhormonen in Gang gesetzt werden. Sechs von ihnen – darunter VGLL3 – werden in Hautzellen von Frauen sehr viel stärker hergestellt als in denen von Männern. Die Autoren konnten die Herstellung von fünf dieser Transkriptionsfaktoren gezielt ausschalten, indem sie die mRNA, mit der die Bauanleitung aus dem Zellkern zu den Proteinfabriken im Zytoplasma transportiert wird, durch komplementäre RNA-Stränge blockierten (sogenannte RNA-Interferenz oder RNAi). Schalteten sie die Produktion von VGLL3 aus, so ging speziell die Ablesestärke der kritischen Immunsystem-Gene stark zurück. Bei den übrigen vier Transkriptionsfaktoren war das nicht der Fall.

VGLL3 fördert die Ablesung vieler Autoimmunitäts-Risikogene

In gesunden weiblichen Hautzellen hält sich VGLL3 vor allem im Zellkern auf, in gesunden männlichen Hautzellen ist es über Zellkern und Zytoplasma verteilt. In den Hautzellen von Lupus-Patienten befindet sich der Transkriptionsfaktor dagegen unabhängig vom Geschlecht stets im Kern. Neben BAFF und Integrin α-M kurbelt VGLL3 offenbar in der Haut die Herstellung von sieben weiteren Immunsystem-Proteinen an. Insgesamt verstärkt es in Hautzellen die Ablesung von gut 200 Genen. Unter den Genen, die in weiblicher Haut verstärkt abgelesen werden, sind auffällig viele dieser von VGLL3 regulierten Gene – unter den in männlicher Haut verstärkt abgelesenen Genen dagegen nicht.

Von 97 (also 47 Prozent) der VGLL3-regulierten Gene sind Varianten bekannt, die das Risiko für Autoimmunerkrankungen erhöhen. Darunter ist zum Beispiel das Gen für das Enzym Matrix-Metallopeptidase 9, das in Patienten mit Lupus, Multipler Sklerose, Sjögren-Syndrom, Polymyositis und rheumatoider Arthritis stärker produziert wird als in Gesunden.

Auch Gene für weitere Transkriptionsfaktoren sind unter den VGLL3-Zielgenen. So können sich riesige geschlechtsspezifische Regulierungskaskaden aufbauen: Ein primärer Transkriptionsfaktor wird in einem Geschlecht stärker produziert und erhöht durch Andocken an seine Zielgene unter anderem die Produktion sekundärer Transkriptionsfaktoren, die wiederum an zahlreiche Zielgene andocken, und so weiter. Bestimmte Varianten des VGLL3-regulierten Transkriptionsfaktor-Gens ETS1 sind mit Lupus, rheumatoider Arthritis und Morbus Bechterew assoziiert.

In Patienten-Biopsien bestätigt

Bis hierhin hatten die Autoren das Wirken von VGLL3 lediglich in Hautzellen gesunder Probanden und in Zellkulturen untersucht. Die vermutete Schlüsselrolle von VGLL3 bei Autoimmunerkrankungen mit Frauenüberhang wollten sie nun durch weitere Transkriptomanalysen überprüfen, und zwar in Hautproben von Patienten mit drei primär die Haut betreffenden Autoimmunerkrankungen, die bei Frauen deutlich häufiger sind als bei Männern: subakuter kutaner Lupus erythematosus oder SCLE, Morphea oder zirkumskripte Sklerodermie und schließlich limitierte Sklerodermie.

Unter den Genen, die bei SCLE verstärkt abgelesen werden, werden demnach 51 von VGLL3 hochreguliert – darunter etliche, deren Protein-Produkte auf Typ-1-Interferone reagieren, was für SCLE typisch ist. Schalteten die Forscher den Transkriptionsfaktor VGLL3 mit der oben erwähnten Technik der RNA-Interferenz aus, ging die Ablesung von Genen, die bei SCLE normalerweise hochreguliert sind, deutlich stärker zurück als die anderer Gene, die mit der Erkrankung nichts zu tun haben.

Bezeichnenderweise fielen die Unterschiede in der Ablesestärke von VGLL3 und den VGLL3-regulierten Genen zwischen den SCLE-Patientinnen und -Patienten viel kleiner aus als zwischen gesunden Frauen und Männern. Genau das war zu erwarten: Bricht eine Autoimmunerkrankung mit starkem Frauenüberhang doch einmal bei einem Mann aus, so gleicht sich sein Gentranskriptionsprofil dem der Frauen an.

Auch in anderen Organen trägt VGLL3 zu Autoimmunerkrankungen mit Frauenüberhang bei

In der Haut von Patientinnen und Patienten mit den beiden anderen untersuchten Autoimmunerkrankungen werden VGLL3-regulierte Gene ebenfalls deutlich stärker abgelesen als in der Haut von Gesunden. Um herauszufinden, ob dieser Zusammenhang womöglich hautspezifisch ist, untersuchten die Forscher auch Proben aus den Speicheldrüsen von Patienten mit Sjögren-Syndrom und von Gesunden: Im erkrankten Drüsengewebe wurden das Gen für VGLL3 und dessen Zielgene deutlich stärker abgelesen als im gesunden Drüsengewebe.

Das galt zum Beispiel für die Gene, die das Zytokin IL-7 und den IL-7-Rezeptor codieren. Man weiß, dass IL-7 beim Sjögren-Syndrom stark am Krankheitsgeschehen beteiligt ist: Das Zytokin verstärkt die Reaktion von T-Helferzellen von Typ 1 (Th1) und damit die Aktivierung von Monozyten und B-Zellen, und es führt zur Produktion von Gamma-Interferon sowie Chemokinen, die weitere Lymphozyten in das entzündete Gewebe locken.

Bei Lupus verändern sich nicht nur die Hautzellen, sondern auch die Monozyten: Immunzellen der angeborenen Abwehr, die zum Beispiel zur Aktivierung von T-Zellen und zur Reifung von B-zellen beitragen. Die Autoren stellten nun fest, dass auch in den Monozyten von Lupus-Patienten eine erhöhte VGLL3-Produktion zu einer übermäßigen Typ-1-Interferon-Reaktion und damit zu den Entzündungen beiträgt.

Die übermäßige Produktion und Aktivität dieses Transkriptionsfaktors ist also keineswegs auf Lupus und auch nicht auf die Haut beschränkt.

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden …

Das Fazit: Mit ihrem aufwändigen Vorgehen haben die Autoren in mehreren Schritten nachgewiesen, dass der Transkriptionsfaktor VGLL3 tatsächlich ein Schlüsselelement in der Pathogenese etlicher Autoimmunerkrankungen mit Frauenüberschuss ist – und zwar nicht nur bei den Patientinnen: Auch bei den betroffenen Männern wird die Produktion von VGLL3 und damit die Ablesung seiner Zielgene hochgefahren, sobald die Krankheit ausbricht.

Unter den Zielgenen von VGLL3 sind etliche Gene des Immunsystems, von denen schon länger bekannt ist, dass gewisse Varianten in ihnen Entzündungen fördern und das Risiko für verschiedene Autoimmunerkrankungen erhöhen – darunter Lupus, systemische Sklerose, Multiple Sklerose, Sjögren-Syndrom, Polymyositis und rheumatoide Arthritis. Das macht die Blockade von VGLL3 zu einer attraktiven indikationsübergreifenden Therapieoption.

Abzuwarten ist allerdings, welche – womöglich geschlechtsspezifischen – Nebenwirkungen bei einer Blockade dieses Strippenziehers eines weit verzweigten Genregulierungs-Netzwerks auftreten können: Schließlich dürfte die VGLL3-Expression bei gesunden Frauen nicht aus Jux und Dollerei höher ausfallen als bei den Männern.

Literatur

Y. Liang et al. (2016): A gene network regulated by the transcription factor VGLL3 as a promoter of sex-biased autoimmune diseases

Wenn die Müllabfuhr streikt: Autophagie und Autoimmunerkrankungen

Kaum ein halbes Jahr nach der Verleihung des Nobelpreises an Yoshinori Ōsumi, der diesen zellulären Schutzmechanismus an Hefen erforscht hat, schreibe ich nun auch was zur Autophagie. Den Schwerpunkt lege ich dabei auf die Berührungspunkte zu meinem eigentlichen Thema, den Autoimmunerkrankungen.

Regelmäßige Müllabfuhr

In unseren Zellen ist ständig Müll zu entsorgen, auch wenn sie bei bester Gesundheit sind: Überraschend viele frisch hergestellte Proteine sind falsch zusammengefaltet, und wenn das nicht sofort korrigiert werden kann, müssen sie wieder abgebaut werden. Andere Makromoleküle werden mit der Zeit beschädigt oder einfach nicht mehr benötigt. Sogar ganze Organellen wie Mitochondrien müssen zerlegt werden, um nicht die Zelle zu verstopfen, leck zu schlagen oder schädliche biochemische Reaktionen in Gang zu setzen. Nicht nur, dass das alte Material schaden kann: Es besteht auch aus wertvollen Bausteinen wie Aminosäuren, die die Zelle recyceln muss, um mit ihrem begrenzten Energievorrat auszukommen.

Schienentransport

Proteine können auf zwei Wegen abgebaut werden. Etwa 80 Prozent werden in tonnenförmigen Strukturen zerlegt, den Proteasomen. Große Proteinkomplexe und Organellen passen allerdings nicht in diese Abfalltonnen hinein. Sie werden stattdessen von Lysosomen verdaut, von Membranbläschen, die mit Enzymen gefüllt sind: den sauren Hydrolasen. Die Lysosomen halten sich in der Nähe des Zellkerns auf und verschmelzen dort mit sogenannten Autophagosomen. Diese sind von einer doppelten Membranschicht umgeben und enthalten den abzubauenden Zellmüll. Sie entstehen überall in der Zelle, wo es etwas zu entsorgen gibt: Dort bilden sich zunächst Doppelmembran-Lappen, die Phagophoren, die sich dann um den Schrott herumschmiegen und zu einem Müllsack verschmelzen.

Die verschlossenen Müllsäcke (die Autophagosomen) werden dann an Schienen – den röhrenförmigen Mikrotubuli, die zum sogenannten Zellskelett gehören – zu den Lysosomen transportiert. Die kleinen Lysosomen vereinigen sich mit den größeren Autophagosomen zu Autolysosomen, sodass die Enzyme den Zellmüll zu kleinen Bausteinen zerlegen können. Diese verlassen die Autolysosomen und stehen im Zytoplasma zum Aufbau neuer Makromoleküle zur Verfügung.

Neben dem allgemeinen Recycling gibt es auch eine selektive Sondermüllabfuhr: Bei Bedarf werden zum Beispiel Mitochondrien, Fetttröpfchen, Ribosomen oder in die Zelle eingedrungene Pathogene mit speziellen Markern (sozusagen Abholzetteln) gekennzeichnet und daraufhin gezielt entsorgt.

Bedarfsgesteuerter Abfuhrtakt

Den ganzen Vorgang nennt man Makroautophagie oder kurz Autophagie, weil die Zelle Teile ihrer selbst (griechisch auto) vertilgt (griechisch phagein = essen). Die daran beteiligten Proteine sind in den Atg-Genen codiert (autophagy-related genes), von denen man in der Hefe allein 36 identifiziert hat. Bei Säugetieren wie dem Menschen sind von vielen der Proteine zudem mehrere Varianten bekannt, sogenannte Isoformen.

Wenn der Prozess gestört ist, beispielsweise weil eines dieser Gene einen Defekt hat, gerät die Zelle aus dem Gleichgewicht, aus der Homöostase: Sowohl überzogenes Reinemachen als auch ein Streik der Müllabfuhr können zu Funktionsstörungen oder zum Zelltod führen.

Es gibt jedoch Situationen, in denen der Abfuhrtakt erhöht werden muss – etwa wenn die Zelle hungert und unnötige Strukturen abbauen muss, um Lebenswichtiges damit herzustellen oder zu erhalten, oder wenn Stress wie zum Beispiel eine Infektion, Chemikalien oder UV-Licht den Verschleiß von Zellkomponenten beschleunigen. Auch Bakterien und andere Pathogene sowie ihre Überreste werden bei einer Infektion per Autophagie aus dem Zytoplasma beseitigt.

Dem Tod von der Schippe springen

Wie am Ende meiner Todesarten-Übersicht erläutert, konkurrieren am Anfang der Zelltodesprogramme Überlebenssignale mit Sterbesignalen. Ist eine Zelle nicht tödlich verwundet, unrettbar infiziert oder dermaßen entgleist, dass ihr Fortbestand andere Zellen gefährden würde, kann das Ruder noch herumgerissen werden: Dann wird die Autophagie verstärkt, um die Zelle ins Gleichgewicht zurückzubringen, und zugleich das Sterbeprogramm blockiert.

Zu den lebenserhaltenden Signalen zählen etwa der Kontakt zur extrazellulären Matrix, bestimmte Hormone, Chemokine oder Neurotransmitter sowie dezidierte Überlebensfaktoren (survival factors) wie IGF-1 (insulin-like growth factor 1). Sie binden an Rezeptoren auf der Zelloberfläche, woraufhin an der Innenseite der Zellmembran Signalketten in Gang kommen, die zur Bindung des Transkriptionsfaktors NF-κB an bestimmte Gene im Zellkern führen. Diese anti-apoptotischen Gene (zum Beispiel Bcl-2) werden dann abgelesen, und die Genprodukte hemmen die Todesprogramme der Zelle.

Das kann beispielsweise durch eine verstärkte Autophagie von Mitochondrien geschehen, die bei Zellstress beschädigt wurden und daraufhin Cytochrom C freisetzen, das die Effektor-Phase einer intrinsischen Apoptose einleitet: Kommen die Autophagosomen dem zuvor, bleibt die Zelle am Leben.

Schädliche Durchhalteparolen

Bei mildem Zellstress oder entsprechend konditionierten, also an erhöhte Stresslevel gewöhnten Zellen können Überlebenssignale also reichen, um beispielsweise eine Apoptose zu verhindern. Ist der Stress dagegen zu stark, überwiegen die pro-apoptotischen Signale, und die Zelle stirbt.

Dabei ist ein Überleben nicht immer gut für den Organismus und ein Zelltod nicht immer schlecht. Man denke nur an Krebszellen im Inneren eine Tumors, die ständig Stress wie Sauerstoff- oder Nährstoffmangel erfahren und sich trotzdem weigern einzugehen: Dank genetischer Veränderungen können sie die Apoptose verhindern, obwohl sie aus ihrer Umgebung eigentlich mehr Sterbekommandos als Überlebenssignale empfangen.

Und um allmählich die Kurve zu den Autoimmunerkrankungen zu kriegen: Autoreaktive T- und B-Zellen können nur deshalb dauerhaft Unheil anrichten, weil sie entweder in sogenannten Überlebensnischen wie dem Knochenmark mit Überlebenssignalen versorgt werden – oder weil sie, wie Krebszellen, ihr Überleben von solchen Signalen unabhängig gemacht haben.

Autophagie und Autoimmunerkrankungen

Autophagie ist im Immunsystem besonders wichtig, weil Immunzellen sich bei Bedarf in kurzer Zeit massiv vermehren müssen und ihr Stoffwechsel nach ihrer Aktivierung Hochleistungen vollbringen muss, für die viel Energie benötigt wird.

Genomweite Assoziationsstudien (GWAS) haben ergeben, dass etliche kleine Varianten in den Autophagie-Genen, vor allem Atg5 und Atg16l1, mit der Neigung zu Lupus (SLE), Morbus Crohn, Multipler Sklerose und rheumatoider Arthritis assoziiert sind. Sowohl ein Übermaß als auch ein Mangel an Autophagie kann zu Autoimmunstörungen beitragen, je nachdem, in welchen Zellen die Müllabfuhr aus dem Lot gerät.

Über welche Mechanismen eine genetisch angelegte Autophagie-Fehlfunktion zu den Erkrankungen beiträgt, ist nicht immer klar. Im Folgenden führe ich einige mögliche Mechanismen an, die zum Teil erst in Tiermodellen und Gewebekulturen untersucht wurden. Der Weg zu einer Therapie ist also noch lang, und wie so oft wird die Kunst darin bestehen, den Teufel nicht mit dem Beelzebub auszutreiben – also die Autophagie gezielt in bestimmten Zelltypen anzukurbeln oder zu bremsen, ohne dass es andernorts zu unerwünschten Effekten kommt. 

Autophagie-Defizienz in der Entwicklung von Zellen der erworbenen Abwehr

T-Zellen entstehen im Knochenmark und reifen im Thymus heran, wo sie eine starke Selektion durchlaufen, die für die Selbsttoleranz des Immunsystems sorgt. Die dafür verantwortlichen Thymus-Epithelzellen (TEC) betreiben viel Autophagie, um den jungen T-Zellen ständig neue Antigene auf ihren MHC-Komplexen präsentieren zu können. Mäuse, deren TEC wegen einer Atg5-Defizienz zu wenig Material recyceln, entwickeln starke Autoimmunerkrankungen, da die autoreaktiven unter den T-Zellen im Thymus nicht zuverlässig aussortiert werden.

In den jungen T-Zellen selbst scheint Autophagie keine besondere Rolle zu spielen – wohl aber bei der Entstehung frischer B-Zellen: Bei einer Atg5-Defizienz sterben ihre Vorläufer ab.

Autophagie-Störungen in reifen Zellen der erworbenen Abwehr

Die T- und B-Zellen von Lupus-Patienten scheinen mehr Autophagie zu betreiben als die gesunder Menschen, und Wirkstoffe, die diese Überaktivität hemmen, scheinen sowohl Mäusen als auch Menschen mit Lupus gutzutun.

Aber zu wenig Autophagie schadet ebenfalls: Autophagie-Defekte führen in T-Zellen zur Anhäufung von überalterten Mitochondrien, die unter anderem reaktionsfreudigen Sauerstoff (ROS) freisetzen, was die T-Zellen vorzeitig absterben lässt. Auch fehlen den T-Zellen wegen ihrer schlechten Recycling-Quote ATP und Rohstoffe, sodass sie sich kaum noch aktivieren und zur Vermehrung anregen lassen.

Vorzeitig alternde T-Zellen mit Energiedefiziten wurden zum Beispiel im Blut von Menschen mit rheumatoider Arthritis gefunden. Man vermutet, dass der so entstehende Mangel an funktionstüchtigen T-Zellen (Lymphopenie) durch eine übermäßige Vermehrung autoreaktiver T-Zellen kompensiert wird.

Autophagie-Defizienz in Zellen der angeborenen Abwehr

Bei der Beseitigung apoptotischer Zellen durch Makrophagen sind auf beiden Seiten Autophagie-Proteine im Spiel: Die sterbenden Zellen brauchen sie, um „Kommt und holt mich“-Signale auszusenden, und in den Fresszellen sind sie an der Verdauung der vertilgten Zellbestandteile beteiligt. Bei einer Autophagie-Defizienz können sich tote Zellen oder Zellbestandteile im Gewebe ansammeln, wie man es beispielsweise bei Lupus beobachtet hat. Aus nicht rechtzeitig entsorgten toten Zellen treten Autoantigene wie DNA oder RNA aus, die Entzündungen und Autoimmunreaktionen auslösen können.

Vor allem Makrophagen und Neutrophile bilden, wenn sie entsprechend aktiviert werden, Inflammasomen: Proteinkomplexe, die für die massenhafte Ausschüttung der Zytokine IL-1β oder IL-18 sorgen, die wiederum T- und B-Zellen anlocken. Eine intakte Autophagie bremst die Bildung von Inflammasomen, denn bei guter Verdauung brauchen die Zellen keine Hilfe von außen. Schwächelt die Autophagie in Makrophagen oder Neutrophilen, kann es aber zu überzogenen Reaktionen der erworbenen Abwehr auf harmlose Antigene kommen.

Auch die Antigen-Präsentation auf MHC-Klasse-II-Komplexen gelingt Makrophagen und dendritischen Zellen offenbar nur mithilfe von Autophagie, denn die aufgenommenen Antigene müssen ja zerschnitten, zu den MHC-Klasse-II-Komplexen (den „Präsentiertellern“) transportiert und nach dem Vorzeigen wieder nach innen geschafft und entsorgt werden. Autophagosomen können entweder (bei der Autophagie) mit Lysosomen fusionieren oder (zum Zwecke der Antigen-Präsentation) mit den Kompartimenten, in denen die MHC-Klasse-II-Komplexe auf ihre Beladung mit Antigenen warten. Vielleicht führen bestimmte Genvarianten dazu, dass die Autophagosomen ihren Inhalt sozusagen an die falsche dieser beiden Adressen liefern. So können Varianten im Gen Atg16l1 das Morbus-Crohn-Risiko erhöhen – vermutlich weil die T-Zellen dann nicht genug Pathogen-Antigene präsentiert bekommen und daher nicht richtig aktiviert werden.

Bei rheumatoider Arthritis präsentieren Makrophagen und dendritische Zellen den T-Zellen chemisch leicht veränderte, sogenannte citrullinierte Antigene. Man vermutet, dass diese Veränderungen die Selbsttoleranz des Immunsystems aushebeln und zu den Autoimmunreaktionen in dem Gelenken führen. Hemmt man die Autophagie in den antigenpräsentierenden Zellen, werden vor allem weniger citrullinierte Antigene präsentiert.

Autophagie-Störungen in anderen Zellen

An Morbus Crohn, einer chronischen Entzündung, die bei Menschen mit entsprechender genetischer Disposition von Keimen aus der Darmflora ausgelöst oder zumindest beeinflusst wird, kann ein Versagen der Autophagie in den Zellen der Darmschleimhaut beteiligt sein: Bestimmte Escherichia-coli-Stämme dringen in die Epithelzellen ein, um sich in ihrem Inneren zu vermehren. Eine intakte Autophagie verhindert oder begrenzt diese Vermehrung; bei Autophagie-Defekten können die Keime dagegen überhand nehmen und tiefer ins Gewebe eindringen, wo sie die chronische Entzündung auslösen.

Störungen der internen Müllabfuhr könnten in allen möglichen Zellen auch das Endoplasmatische Reticulum (ER) unter Stress setzen, ein membranreiches, netzförmiges Organell, das unter anderem der Protein-Herstellung dient. ER-Stress wiederum trägt bei Typ-2-Diabetikern zur Insulinresistenz bei, und zwar auf mehreren Wegen: Er stört die Insulin-Herstellung in den Betazellen der Bauchspeicheldrüse, treibt diese Zellen zur Apoptose, löst Entzündungen aus und führt zu einer Anhäufung von Fetten.

Auch bei Hashimoto-Thyreoiditis scheint die Müllabfuhr zu streiken: In den Follikel-Epithelzellen der Schilddrüse von Menschen mit dieser Erkrankung hemmt hoch dosiertes Jod die Autophagie und kurbelt zugleich die Apoptose an – zumindest in vitro. Sollte sich das in vivo bestätigen, könnte man versuchen, die schwächelnde Autophagie in den Schilddrüsenzellen zu stärken und so die Organzerstörung aufzuhalten.

Literatur:

Abhisek Bhattacharya, N. Tony Eissa (2013): Autophagy and autoimmunity crosstalks

Liam Portt et al. (2011): Anti-apoptosis and cell survival: A review

Chengcheng Xu (2016): Excess iodine promotes apoptosis of thyroid follicular epithelial cells by inducing autophagy suppression and is associated with hashimoto thyroiditis disease (Abstract)

Zhen Yang et al. (2015): Autophagy in autoimmune disease

Checks and balances: Das Alarmsignal HMGB1

Im vorigen Beitrag ging es um Polly Matzingers danger theory, der zufolge ein Gewebe, das eine Infektion oder einen physikalisch oder chemisch bedingten Schaden erleidet, Gefahren- oder Schadsignale aussendet, die das Immunsystem aktivieren. Solche DAMPs (danger- oder damage-associated molecular patterns) können durch Traumata wie Quetschungen, Verschleiß, Verbrennungen oder Infarkte aus dem Inneren von Zellen austreten, in denen sie sich normalerweise verbergen, und lösen dann im Immunsystem eine sogenannte sterile Entzündung aus. Diese dient der Beseitigung verletzter und toter Zellen und der anschließenden Gewebsreparatur.

Sterile Entzündungen haben vieles mit Entzündungen gemeinsam, die durch Infektionen ausgelöst werden; beispielsweise erkennen dieselben Rezeptoren auf antigenpräsentierenden Zellen (dendritischen Zellen und Makrophagen) sowohl DAMPs als auch PAMPs, also pathogen-associated molecular patterns. Eine sterile Entzündung belastet aber das Gewebe weniger und läuft oftmals ohne volle Einschaltung der erworbenen Abwehr ab: Der Einsatz von antigenspezifischen T- und B-Zellen ist ja nicht nötig, wenn die Schadensursache kein Pathogen ist, das diese Zellen passgenau erkennen, bekämpfen und erinnern müssten.

DAMPs und Autoimmunerkrankungen

Sterile Entzündungen und DAMPs interessieren uns hier, weil sie mit Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht wurden: Nur bei sehr wenigen dieser Erkrankungen ist eine Infektion als Auslöser nachgewiesen; bei anderen wie Rheuma ist die Beteiligung von Pathogenen umstritten. Bei vielen scheint das Immunsystem aber ganz ohne Mitwirkung eines Keims aus dem Ruder zu laufen und sich gegen körpereigene Strukturen zu richten – und zwar dauerhaft, sofern die angeborene Abwehr doch die erworbene Abwehr zu Hilfe ruft.

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Die Auslösung steriler Entzündungen ist nur eine der vielen Funktionen von HMGB1.

Ein wichtiges Alarmsignal mit dem sperrigen Namen HMGB1 spielt offenbar bei der Pathogenese von Lupus (SLE), rheumatoider Arthritis, Sjögren-Syndrom, Vaskulitiden wie Morbus Behçet, Sklerodermie, Typ-1-Diabetes und weiteren Krankheiten eine unglückliche Rolle: Im erkrankten Gewebe oder im Blut der Betroffenen ist seine Konzentration gegenüber Gesunden stark erhöht, und in Tierversuchen lassen sich einige Autoimmunreaktionen durch die Ausschaltung von HMGB1 bremsen.

Gerade wegen seiner Schlüsselrolle beim Anstoßen von Entzündungsreaktionen reguliert unser Körper die örtliche Konzentration und das Aktivitätslevel dieses Moleküls normalerweise strikt, und zwar auf mehreren Wegen. Um diese raffinierte Selbstkontrolle – die checks and balances, die bei Autoimmunerkrankungen offenbar versagen – soll es im Folgenden gehen. Um sie zu verstehen, müssen wir uns zunächst das Molekül genauer ansehen.

Steckbrief

Das 1973 aus Kalbsbries (Thymus) isolierte Protein heißt ausgeschrieben „High mobility group box 1“, weil es sich auf einem Elektrophorese-Gel schnell bewegt. Da diese Eigenschaft weiter nichts zur Sache tut, bleiben wir im Folgenden bei der Abkürzung. Das 215 Aminosäuren lange Protein ist evolutionär stark konserviert; 99 Prozent der Aminosäuren stimmen zwischen Maus und Mensch überein. Normalerweise hält es sich im Zellkern auf. 1999 entdeckte man, dass es nicht nur im Zellinneren vorkommt, sondern insbesondere von Makrophagen auch ausgeschieden wird – und zwar relativ spät in einem Entzündungsprozess, nämlich frühestens acht Stunden nach Aktivierung der Immunzellen. So lange brauchen die Zellen, um das Molekül so zu modifizieren, dass es ausgeschleust werden kann.

Für diese Ortsverlagerung und den damit einhergehenden Funktionswechsel sind zwei in der folgenden Abbildung mit „Kerntransport“ bezeichnete Abschnitte zuständig, in denen die Aminosäure Lysin angereichert ist. Diese Lysine werden bei Bedarf acetyliert oder phosphoryliert; ihnen werden also Acetyl- oder Phosphatgruppen angehängt. Dank dieses Signals werden sie aus dem Zellkern, in dem sie sonst an die DNA gebunden sind, ins Zytoplasma und ggf. ganz aus der Zelle transportiert.

Das Molekül gliedert sich in drei große Funktionseinheiten: zwei sogenannte HMG-Boxen (A und B), mit denen es sich relativ locker und nicht sequenzspezifisch an DNA anlagert, sowie einen sogenannten C-Schwanz, der bei der Krümmung von DNA zum Einsatz kommt, also etwa bei der Reparatur der Doppelhelix oder beim Ablesen (der Transkription) von Genen. Box B enthält eine Bindungsstelle für den wichtigen Zelloberflächen-Rezeptor TLR4 und an ihrem Ende eine Bindungsstelle für den ebenfalls an Zelloberflächen angesiedelten Rezeptor RAGE. Von beiden wird noch die Rede sein. Weitere Bindungsstellen sind bekannt, hier aber nicht eingezeichnet.

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Wichtig sind noch drei Positionen, die mit der Aminosäure Cystein besetzt sind. Deren Seitenketten oder „Reste“ sind – zumindest solange sich das Molekül im Zellkern aufhält – sogenannten Thiolgruppen (-SH), die aus einem Schwefel- und einem Wasserstoffatom bestehen. Ich komme weiter unten auf sie zurück, denn ihre chemische Veränderung bestimmt die Aktivität des Moleküls nach seiner Ausschleusung aus der Zelle.

Je nach Aufenthaltsort unterschiedliche Aufgaben

HMGB1 ist weit mehr als ein DAMP, ein Alarmsignal für antigenpräsentierende Zellen: Außerhalb des Immunsystems übt es zum Beispiel lebenswichtige Funktionen im Nervensystem und im Stoffwechsel aus.

Normalerweise hält es sich im Zellkern auf, wo es als DNA-Chaperon, also als Faltungs- oder Krümmungshelfer für die Doppelhelix dient: Es stabilisiert die dreidimensionale Struktur der Nukleosomen, und es fördert die Transkription der Gene, die somatische Rekombination in B- und T-Zellen, die Reparatur von DNA-Schäden und den Erhalt der Telomere – der Schutzkappen an den Enden der Chromosomen. Kurz: Ohne HMGB1 keine intakten Chromosomen.

Wird es aus dem Zellkern ins Zytoplasma transportiert, was bei Zellstress und vor allem bei einer bakteriellen Infektion der Zelle passiert, fördert es die sogenannte Autophagie, eine partielle Selbstverdauung der Zelle, die den Bakterien die Lebensgrundlage entzieht. Zugleich hemmt es die Apoptose, also den kontrollierten Zelltod.

In die extrazelluläre Flüssigkeit gelangt es entweder durch passive Freisetzung aus allen möglichen beschädigten, sterbenden oder toten Zellen – dann ist es ein Alarmsignal, ein DAMP – oder durch aktive Ausschüttung aus Immunzellen, vor allem aus antigenpräsentierenden Zellen, also Makrophagen und dendritischen Zellen – dann kann man es als Zytokin auffassen, also als Immunsystem-internen Botenstoff.

Es kann als Chemokin dienen, also als Lockstoff für Immunzellen. Es kann andere Immunzellen aktivieren oder deaktivieren, zur Vermehrung bringen und zur Produktion und Ausschüttung von Boten- oder Wirkstoffen anhalten. Es kann alleine agieren, sich aber auch mit anderen Immunzell-Aktivatoren zusammenlagern und dann synergistisch wirken. Es kann als Adjuvans dienen, also Immunreaktionen unspezifisch verstärken. Auch an der Wundheilung im Anschluss an eine Immunreaktion wirkt es mit. Manche Forscher sehen in ihm den zentralen Koordinator oder Choreografen steriler und infektionsbedingter Entzündungen.

Polygamie

Extrazelluläres HMGB1 bindet an mindestens elf verschiedene Transmembran-Rezeptoren, von denen wir hier nur wenige besprechen, nämlich TLR4, RAGE und CD24/Siglec-10. Einige Rezeptoren auf Zellen der angeborenen Abwehr lösen, wenn HMGB1 an ihre Außenseite bindet, innerzelluläre Signalketten wie den NFκ-B-Weg aus, die zur Produktion von entzündungsfördernden Zytokinen führen. Andere Rezeptoren senden dagegen nach HMGB1-Bindung produktionshemmende Signale ins Zellinnere. Darauf komme ich im Abschnitt „Hase und Schildkröte“ zurück.

Es lagert sich auch gerne mit anderen extrazellulären Molekülen zusammen, etwa mit DNA (natürlich!), aber auch mit dem Zytokin Interleukin-1, mit dem Chemokin CXCL12 oder bakteriellen Substanzen wie LPS. Bindet es dann gemeinsam mit ihnen an einen Rezeptor auf einer Immunzelle, so fällt die Wirkung oft stärker oder anders aus als bei einer Bindung des einen oder anderen Partners allein.

So lagert es sich bei einer Bakterieninfektion mit dem bakteriellen Molekül LPS zusammen. Durch das gemeinsame Andocken an einen Rezeptor einer antigenpräsentierenden Zelle wird ein Transportmechanismus ausgelöst, durch den das LPS ins Innere der Zelle gelangt, wo es zu präsentationsfähigen Antigen-Peptiden weiterverarbeitet wird, die dann spezifisch passende T-Zellen aktivieren, sodass die erworbene Abwehr ins Spiel kommt.

Der Rezeptor RAGE ist ebenso polygam wie sein Bindungspartner HMGB1: Zum einen bindet er auch eine Reihe weiterer Moleküle, zum anderen hängt seine Wirkung vom Zusammenspiel mit weiteren Rezeptoren auf denselben Zellen ab. Ein Regulierungsnetzwerk aus HMGB1, seinen extrazellulären Bindungspartnern und seinen Rezeptoren wird rasch unüberschaubar komplex. Konzentrieren wir uns auf drei exemplarische HMGB1-Regulierungsmechanismen: die Freisetzung, den extrazellulären Oxidations-Countdown und das innerzelluläre Wettrennen von Hase und Schildkröte.

Der schlechte und der gute Tod: Nekrose und Apoptose

Um die Logik des ersten Regulierungsmechanismus zu verstehen, benötigen wir Basiswissen über den traumatischen und den programmierten Zelltod, Nekrose und Apoptose genannt. Tatsächlich können Zellen noch auf andere Weisen sterben, etwa durch Pyroptose, ein für innerzelluläre Infektionen typisches Todesprogramm, oder durch NETose, eine Art Selbstmordattentat von Neutrophilen und anderen Granulozyten. Hier beschränke ich mich auf die beiden klassischen Formen des Ablebens. Bei der Nekrose, die unvorhergesehen kommt, schlägt die Zelle leck:

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Dabei treten Moleküle wie DNA und allerlei Proteine aus, die normalerweise außerhalb von Zellen nichts zu suchen haben und daher prädestiniert sind, das Immunsystem als DAMP über den Gewebeschaden zu informieren. (Leider können auch T-Zellen und Antikörper auf diese Substanzen überreagieren, wenn sie sie fälschlich als körperfremd auffassen. Das war hier im Blog schon öfter Thema.)

Bei der Apoptose leitet eine Zelle selbst ihren kontrollierten Rückbau und ihre Entsorgung ein, etwa weil sie merkt, dass sie von Viren oder Bakterien befallen, alt oder auf andere Weise geschädigt ist. Sie ruft dazu eine T-Zelle zur Hilfe, die das Rückbauprogramm startet, und ihre Überreste werden von Makrophagen vertilgt:

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Bei der Apoptose sollten keine Zellinnereien auslaufen. In der Spätphase kann es aber zu einer sogenannten sekundären Nekrose kommen, bei der das in kleinem Umfang doch passiert. Außerdem scheiden apoptotische Zellen aktiv Substanzen aus, etwa um das Immunsystem über die Ursache ihres Ablebens zu informieren oder um Makrophagen – ihre Totengräber – anzulocken.

Freisetzung von HMGB1: passiv, schnell und reduziert – oder aktiv, verzögert und oxidiert

Bei einer Nekrose tritt HMGB1 passiv aus einer sterbenden Zelle aus, sobald diese undicht wird. Viele nekrotische Zellen haben keine Zeit, das Molekül vorher zu modifizieren. Dann gelangt das HMGB1 in genau der Form in die Gewebsflüssigkeit, in der es im Zellinneren vorlag.

Stirbt eine Zelle dagegen durch Apoptose oder Pyroptose, kann sie das HMGB1 in Ruhe umbauen, um es auf seine künftige Aufgabe vorzubereiten. Zu diesen sogenannten posttranslationalen Modifikationen des Proteins zählen etwa die oben erwähnte Acetylierung oder Phosphorylierung, die für einen geregelten Transport aus dem Zellkern ins Zytoplasma und aus dem Zytoplasma in den extrazellulären Raum sorgen.

Jetzt kommen die drei Thiol-Reste der Cysteine im HMGB1-Molekül ins Spiel, die ich oben im Steckbrief erwähnt habe. Sollte das Schulwissen über Redox-Zustände verschüttet sein, hier eine kurze Auffrischung: Oxidation wurde klassisch als Hinzufügen von Sauerstoff (O wie Oxygenium) oder als Entzug von Wasserstoff (H wie Hydrogenium), also als Dehydrierung aufgefasst. Der umgekehrte Vorgang, also die Hinzufügung von Wasserstoff oder der Entzug von Sauerstoff, wird Reduktion genannt.

Sinnvoller ist es eigentlich, diese sogenannten Redox-Reaktionen als Abgabe oder Aufnahme von Elektronen zu definieren, aber wir bleiben hier beim volkstümlichen Verständnis: Ein frisch aufgeschnittener Apfel hat helles Fruchtfleisch. An der Luft, also bei der Reaktion mit Sauerstoff, oxidiert er. Die Schnittfläche läuft an und wird schließlich richtig braun:

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Antioxidantien wie Vitamin C können diesen Prozess aufhalten; sie sind Reduktionsmittel.

Im Normalfall ist das chemische Milieu in einer Zelle reduzierend; es gibt kaum freien Sauerstoff, der HMGB1 oxidieren könnte. Daher liegen im Zellkern alle drei Cystein-Reste als Thiol (-SH) vor. Bei der abrupten Freisetzung aus einer nekrotischen Zelle bleibt das Molekül zunächst in dieser vollständig reduzierten Form.

Gerät das Molekül jedoch in ein oxidierendes Milieu, so verändert es sich schrittweise: Zunächst bildet sich zwischen den beiden benachbarten Resten in Box A eine Disulfidbrücke (-S-S-) aus; die Reste geben also Wasserstoff ab; der dritte Rest liegt weiter als Thiol (-SH) vor. Wird das Molekül weiterhin mit reaktionsfreudigem Sauerstoff konfrontiert, reagieren schließlich alle drei Reste mit ihm und bilden Sulfonsäure (-SO3H).

Diese schrittweise Oxidation kann sogar innerhalb der Zelle ablaufen, wenn sich das chemische Milieu ändert: Manchmal kann das HMGB1 aus nekrotischen Zellen eine Disulfidbrücke ausbilden, bevor es freigesetzt wird. Auch Makrophagen oder dendritischen Zellen, die mit Bakterien infiziert sind und einen programmierten Zelltod namens Pyroptose durchlaufen, enthalten reaktionsfreudigen Sauerstoff und setzen HMGB1 mit einer Disulfidbrücke frei. Bei einer Apoptose wird HMGB1 vor seiner aktiven Ausscheidung oft sogar vollständig oxidiert, denn die Mitochondrien in den sterbenden Zellen setzen bei ihrem Rückbau reaktiven Sauerstoff frei.

Die drei freigesetzten Formen von HMGB1 wirken sich auf das Immunsystem grundverschieden aus, wie ich im nächsten Abschnitt zeige.

Countdown durch Oxidation

Vollständig reduziertes HMGB1 (das mit den drei Thiol-Resten), wie es etwa bei einer Nekrose freigesetzt wird, wirkt als Lockstoff, und zwar in Verbindung mit einem anderen Molekül: Es bindet an das Chemokin CXCL12, das aus aktivierten Immunzellen abgeschieden wird. Das Doppelpack (ein sogenanntes Heterodimer) aus HMGB1 und CXCL12 bindet sehr gut an den Chemotaxis-Rezeptor CXCR4 und führt dazu, dass Immunzellen mit diesem Rezeptor angelockt werden und sich vor Ort vermehren. Findet das reduzierte HMGB1 nicht genug CXCL12-Moleküle vor, kann es durch Bindung an den Rezeptor RAGE sogar die CXCL12-Produktion ankurbeln. Diese Rekrutierung von Immunzellen ist nach einer Nekrose besonders sinnvoll, denn diese Form des Zelltods läuft – wie oben zu sehen war – ungeplant und ohne Beteiligung von Immunzellen ab. Und die Überreste der zugrunde gegangenen Zellen müssen ja beseitigt, die Ursachen bekämpft, die Gewebeschäden repariert werden.

Teilweise oxidiertes HMGB1, das vorne eine Disulfidbrücke und hinten eine Thiolgruppe aufweist, kann dagegen an den Immunzell-Rezeptor TLR4 binden und so die Produktion und Freisetzung von Zytokinen anstoßen, also eine Entzündungsreaktion anheizen. Das ist besonders sinnvoll, wenn bereits Immunzellen vor Ort sind, von denen einige gerade an einer Pyroptose zugrunde gehen: Hier müssen keine weiteren Immunzellen rekrutiert, sondern die anwesenden zur eifrigen Mitarbeit an der Entzündung angeregt werden.

Vollständig oxidiertes HMGB1 hingegen, bei dem alle drei Cystein-Reste als Sulfonsäure vorliegen, kann Immunzellen weder anlocken und zur Vermehrung anregen noch zur Zytokinproduktion bewegen. Es bindet weder an CXCL12 und CXCR4 noch an TLR4: Es trägt überhaupt nichts zu einer Entzündungsreaktion bei, sondern stimmt anwesende Immunzellen tolerant, sozusagen als Anti-DAMP. Diese Wirkung ist besonders sinnvoll, wenn eine Zelle eine geregelte Apoptose durchlaufen hat, denn hier ist keine weitere Immunreaktion nötig: Es reicht, wenn die bereits anwesenden Fresszellen den Rest der gestorbenen Zelle beseitigen.

Zumeist wird HMGB1 also genau in der Form freigesetzt, in der es die jeweils erforderlichen Reaktionen in Gang setzen kann. Analog zum oxidierenden Apfel von oben sind hier die drei Formen des Moleküls dargestellt, ergänzt um die beiden Oxidationsreaktionen durch reaktiven Sauerstoff (ROS) und um die jeweilige Hauptwirkung des Moleküls auf das Immunsystem, hier durch eine T-Zelle vertreten: Anlockung, Aktivierung und Toleranz:

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Wie verhindert unser Körper aber, dass das vollständig reduzierte HMGB1, das aus nekrotischen Zellen austritt, immer mehr und mehr Immunzellen rekrutiert und alarmiert, sodass die Entzündung chronisch wird und das umliegende Gewebe Schaden nimmt? Nun: Das extrazelluläre chemische Milieu ist im Vergleich zum gesunden Zellinneren oxidativ. Mit der Freisetzung von vollständig reduziertem HMGB1 beginnt daher ein Countdown. Die extrazelluläre Flüssigkeit oxidiert die Moleküle zunächst teilweise, dann vollständig – bis sie nicht mehr als Alarmsignale wirken.

Hase und Schildkröte

Wir kommen zum dritten Kontrollmechanismus, nämlich der Beschränkung der Zytokinproduktion in Makrophagen und anderen Immunzellen, die HMGB1 in seiner teilweise oxidierten Form aktiviert. Es bindet nicht nur an aktivierende Rezeptoren wie TLR4, sondern auch an inhibierende Rezeptoren wie CD24 und Siglec-10. TLR4 löst daraufhin eine schnelle Signalkette aus, CD24/Siglec-10 eine langsamere:

HMGB1_an_beiden_Rezeptoren_1_650

Beide Signale streben den Chromosomen im Zellkern zu, um dort die Ablesung der Zytokin-Gene zu beeinflussen:

Wettrennen_Hase_Schildkröte_2_650

Das vom TLR4 ausgesandte Signal erreicht sein Ziel zuerst und stößt eine starke Produktion entzündungsfördernder Zytokine an:

Hase_da_Zytokinproduktion_an_3_500

Etwas später trifft das Stoppsignal ein und beendet die Ablesung der Zytokin-Gene. Die Zelle lässt die Produktion auslaufen:

Schildkröte_da_Zytokinproduktion_wieder_aus_4_650

Bei Autoimmunerkrankungen versagen die checks and balances

So raffiniert diese Kontrollmechanismen sind: Bei Autoimmunerkrankungen versagen sie. Welchen Anteil hat HMGB1 an diesen Störungen? Es ist sicher nicht die Hauptursache, aber es kann in Individuen mit entsprechender Veranlagung eine Überaktivierung des Immunsystems fördern. Wichtiger als seine direkte Wirkung auf die Zellen der erworbenen Abwehr, also auf die Vermehrung und Aktivierung von T- und B-Zellen, ist vermutlich die indirekte, nämlich über die antigenpräsentierenden Zellen vermittelte Wirkung.

Sein Beitrag zum Teufelskreis sei am Beispiel Typ-1-Diabetes skizziert: Wenn Betazellen im Pankreas sterben, kann zunächst passiv ein wenig HMGB1 freigesetzt werden. Bei einer unzureichenden Entsorgung der Zellreste reifen durch dieses Alarmsignal oder DAMP zahlreiche dendritische Zellen und Makrophagen heran und werden aktiv: Zum einen können sie selbst noch mehr HMGB1 freisetzen und so die Entzündungsreaktion verstärken. Zu anderen aktivieren sie nun ihrerseits Lymphozyten, indem sie ihnen Antigene präsentieren – unter anderem jene Autoantigene, die zusammen mit dem HMGB1 aus den sterbenden Betazellen ausgetreten sind. In genetisch prädestinierten Individuen greifen diese autoreaktiven Lymphozyten daraufhin Betazellen an, was diese zum Absterben bringt, und so weiter und so fort.

Dieses Modell hat sich im Tierversuch bewährt: Die Pankreas-Lymphknoten von Mäusen mit Diabetes-Neigung, in denen HMGB1 experimentell neutralisiert wurde, enthielten weniger dendritische Zellen des an der Diabetes-Entstehung beteiligten Subtyps und dafür mehr regulatorische T-Zellen (Tregs). In der Milz der Tiere fanden sich zudem sogenannte tolerogene dendritische Zellen, die – wie die Tregs – besänftigend auf Lymphozyten einwirken und so den Teufelskreis durchbrechen können. Es gab zwar noch autoreaktive T-Zellen in den Pankreas-Lymphknoten, aber diese wurden mangels HMGB1 kaum noch in die Langerhans-Inseln gelockt und richteten daher unter den Betazellen wenig Schaden an.

Auch in Versuchstieren mit Lupus-Neigung beteiligt sich HMGB1 an der Pathogenese. Bei ihnen kommen vermutlich zwei Faktoren hinzu: Erstens richtet sich die Autoimmunreaktion bei Lupus primär gegen Zellkern-Bestandteile wie DNA oder Histone – und an diese bindet HMGB1 bekanntlich besonders gut. Es transportiert diese Autoantigene über den Rezeptor RAGE sehr effizient in die antigenpräsentierenden Zellen hinein, was die Autoantigenpräsentation und damit die Aktivierung autoreaktiver Lymphozyten verstärkt. Außerdem tragen auch die Endothelzellen unserer Blutgefäße den Rezeptor RAGE. Bindet dieser HMGB1, so können sich die Blutgefäße entzünden, und es kommt zu einer Lupus-Vaskulitis.

Bei rheumatoider Arthritis scheint zunächst ein Sauerstoffmangel (Hypoxie) Zellen in den Gelenken unter Stress zu setzen. Im Zuge ihrer Stressreaktion setzen sie HMGB1 in die Gelenkflüssigkeit frei, woraufhin sich die Gelenke entzünden können. Das Molekül fördert auch die Neubildung von Blutgefäßen und von Zellen, die Knochengewebe abbauen: sogenannten Osteoklasten. So kann sich die Gelenkschädigung verschlimmern.

Leider ist die Ausschaltung von HMGB1 kein Allheilmittel für Autoimmunerkrankungen. Zum einen hat das Molekül in unserem Körper zahlreiche weitere, lebenswichtige Funktionen. Zum anderen gibt es Hinweise, dass es bei chronischen Entzündungen nicht nur verheerend, sondern auch heilsam wirken kann. So scheint es bei einer Myositis – einer Entzündung von Muskelgewebe – anfangs die Entzündung zu fördern, später aber zum Schutz und zur Regeneration des Muskels beizutragen. Man müsste also eine HMGB1-Blockade entwickeln, die örtlich und zeitlich sehr begrenzt wirkt. Eingriffe in die komplexen und noch nicht vollständig verstandenen checks und balances des Immunsystems bleiben ausgesprochen heikel.

Literatur:

A. Broggi, F. Granucci (2015): Microbe- and danger-induced inflammation

H. E. Harris et al. (2012): HMGB1: A multifunctional alarmin driving autoimmune and inflammatory diseases

R. Kang et al. (2013): HMGB1 in Cancer: Good, Bad, or Both?

S.-A. Lee et al. (2014): The Role of High Mobility Group Box 1 in Innate Immunity

G. Li et al. (2013): HMGB1: the central cytokine for all lymphoid cells

M. Magna, D. S. Pisetsky (2014): The Role of HMGB1 in the Pathogenesis of Inflammatory and Autoimmune Diseases

C. Pilzweger, S. Holdenrieder (2015): Circulating HMGB1 and RAGE as Clinical Biomarkers in Malignant and Autoimmune Diseases

H. Yang et al. (2015): High Mobility Group Box Protein 1 (HMGB1): The Prototypical Endogenous Danger Molecule

J. Zhong (2012/2013): HMGB1 as an Innate Alarmin Promotes Autoimmune Progress: An Essential Role in the Pathogenesis of Type 1 Diabetes

Autoimmunerkrankungen: Kollateralschäden der körpereigenen Krebsabwehr?

Vor einigen Monaten habe ich hier Krebs aus evolutionsbiologischer Perspektive beleuchtet. Der ziemlich ausführlich geratene Artikel sollte ursprünglich nur eine Hinleitung zum heutigen Thema werden: zu den Schnittmengen von Autoimmunreaktionen und Krebserkrankungen. Höchste Zeit, den Bogen zu vollenden.

Paraneoplastische Autoimmunerkrankungen

Die systemische Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der sich nicht nur die Haut verändert wie bei einer zirkumskripten Sklerodermie oder Morphea, sondern auch innere Organe angegriffen werden. Vor allem die Blutgefäße entzünden sich, und es kommt zu Bindegewebswucherungen (Fibrosen), die die Funktion der Organe beeinträchtigen und sehr schmerzhaft werden können. Einer Forschergruppe um Anthony Rosen aus Baltimore fiel vor einigen Jahren auf, dass relativ viele – insbesondere ältere – Menschen mit systemischer Sklerose kurz vor oder nach dieser Diagnose auch an Krebs erkranken, beispielsweise an Brustkrebs. Ähnliche Häufungen war früher bereits bei Dermatomyositis und anderen Autoimmunerkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis beobachtet worden, etwa bei Vaskulitiden, also Blutgefäß-Entzündungen, oder systemischem Lupus erythematodes. Autoimmunerkrankungen, die kurz vor, während oder nach Krebserkrankungen auftreten, bezeichnet man als paraneoplastisch (wörtlich „neben Neubildungen“, also gleichzeitig mit Tumoren).

Was kam zuerst?

Nun könnte eine bereits ausgebrochene Autoimmunerkrankung das Immunsystem so schwächen oder eine Therapie gegen diese Erkrankung so viele Mutationen auslösen, dass daraufhin die Krebsgefahr steigt. Das passt aber schlecht zu den Zeitverläufen und Begleitumständen, die Rosen und seine Kolleginnen bei den Patienten beobachtet haben. Daher stellten sie eine Gegenhypothese auf, bei der die Autoimmunreaktionen nicht Ursache, sondern Folge von Krebsvorstufen sind. Die „fremden“ Antigene, die die Autoimmunreaktionen und damit letztlich die systemische Sklerose auslösen, sollen also nicht von Krankheitserregern oder anderem körperfremden Material (etwa aus der Nahrung) stammen, sondern aus veränderten Körperzellen: aus Vorläufern von Tumorzellen.

Denn wie die Immunologin Polly Matzinger im Zuge ihrer danger theory immer wieder betont: Das Immunsystem dient bei weitem nicht nur der Bekämpfung von Bakterien, Viren und anderen äußeren Feinden, sondern der Abwehr von Gefahren aller Art – unter anderem Krebs. Wenn Immunzellen krankhaft veränderte Körperzellen erkennen, lösen sie Alarm aus. Das Immunsystem greift alle derartigen Zellen an, um ihre Ausbreitung zu verhindern oder den mutierten Zellklon sogar ganz zu vernichten, bevor daraus endgültig ein nicht mehr beherrschbarer Tumor entsteht.

Unreife gesunde Zellen auf der Fahndungsliste

Bei einigen Patienten mit Krebs und systemischer Sklerose ist das Gen POLR3A mutiert, in dem das Autoantigen RPC1 codiert ist. Dieses Protein ist ein Baustein einer RNA-Polymerase: eines Enzyms, das an der Ablesung von Genen, also an der Herstellung von RNA nach dem Vorbild eines DNA-Abschnitts beteiligt ist. Das Enzym kommt im ganzen Körper vor, insbesondere in unreifen Zellen, die vor allem bei der Wundheilung gehäuft auftreten – etwa in den Wänden von Blutgefäßen.

Die mutierte Form wird dagegen nur von Krebsvorläuferzellen hergestellt, und zwar in großen Mengen. Diese Kombination – ein ungewöhnliches Antigen, das außergewöhnlich stark exprimiert wird – ist es wohl, die das Immunsystem alarmiert: Zahlreiche patrouillierende Antigen-präsentierende Zellen, etwa dendritische Zellen oder Makrophagen, nehmen das Antigen auf und präsentieren es in großem Stil den T-Zellen. So werden die passenden T-Zellen aktiviert, sie vermehren sich und aktivieren ihrerseits B-Zellen, die dann Massen von Antikörpern gegen die Antigene herstellen.

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Kreuzreaktivität: Antikörper gegen ein mutiertes Protein binden u. U. auch an das unveränderte Protein. So kann aus einer Immun- eine Autoimmunreaktion werden.

Die Forscher stellten fest, dass solche Autoantikörper im Blut der Sklerodermie-Patienten nicht zwischen der mutierten und der normalen Version von RPC1 unterscheiden, sondern beide angreifen. Offenbar binden die Antikörper nicht an die mutierte Stelle des Enzymbausteins, sondern an eine andere Stelle, die bei beiden RPC1-Varianten identisch ist. Entstehen darüber hinaus auch langlebige autoreaktive Gedächtnis-T- oder -B-Zellen, laufen die Autoimmunattacken auf unreife gesunde Zellen auch dann weiter, wenn das Immunsystem die Krebsvorstufen erfolgreich beseitigt hat. So kommt es zur Schädigung von Blutgefäßen, Haut und inneren Organen.

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Von der Krebsvorstufe zur Autoimmunerkrankung: 1 Eine Zelle wird zur Krebsvorläuferzelle (Transformation) und produziert sehr viel von einem für unreife Zellen typischen Protein. 2 Eine Mutation in einer solchen Zelle verändert das Protein. 3 Im Tumor kommen Zellen mit der Mutation und solche mit dem Wildtyp vor. 4 Aus den mutierten Zellen wird (z. B. wenn sie sterben) das veränderte Protein freigesetzt. 5 Antigen-präsentierende Zellen nehmen dieses Antigen auf und präsentieren es zusammen mit Kostimulationssignalen. 6 Das Antigen wird wegen seiner Fremdartigkeit als gefährlich eingestuft und aktiviert das Immunsystem. 7 Die aktivierten Effektorzellen bekämpfen den Tumor; dabei treten weitere Proteine aus – sowohl veränderte als auch unveränderte. 8 Auch das normale Protein wird nun als Antigen präsentiert. 9 Im Kontext der laufenden Immunreaktion wird auch das normale Autoantigen als gefährlich eingestuft; autoreaktive Effektorzellen werden aktiviert. 10 Fernab vom Tumor, zum Beispiel in Blutgefäßwänden, produzieren unreife Zellen dasselbe Antigen und werden damit zum Ziel der Abwehr. 11 Die Effektorzellen greifen die unreifen Zellen an und setzen so noch mehr der Autoantigene frei, auf die sie reagieren. 12 Dieser Teufelskreis läuft auch weiter, wenn der Tumor längst verschwunden ist: Die Autoimmunerkrankung hat sich etabliert.

Reizüberflutung

Woher aber kommen die ersten Effektorzellen, die hier (in Schritt 9) auf das normale körpereigene Antigen, etwa auf das Protein RPC1 reagieren? Eigentlich sollten solche autoreaktiven T- und B-Zellen bereits in unserer Kindheit im Thymus eliminiert werden, im Zuge der zentralen Toleranzinduktion. Aber kein System arbeitet fehlerfrei: Ein paar autoreaktive Effektorzellen gelangen doch in Umlauf. Normalerweise sind sie harmlos: Wenn „ihr“ Autoantigen in ihrer Umgebung nur vereinzelt vorkommt, bleibt der Reiz unterhalb ihrer Aktivierungsschwelle. Wird die Umgebung jedoch mit dem Autoantigen überschwemmt, etwa weil bei einer Entzündung oder bei der Tumorbekämpfung viele Zellen absterben und „auslaufen“, erwachen die wenigen autoreaktiven Immunzellen aus ihrem Schlummer, schlagen Alarm und vermehren sich.

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Vereinzelte autoreaktive Immunzellen bleiben friedlich, solange „ihr“ Autoantigen selten ist. Große Mengen dieses Antigens aktivieren sie dagegen.

Gelegentliche Pyrrhussiege

Patienten mit einer paraneoplastischen Autoimmunerkrankung, also zum Beispiel systemischer Sklerose und Brustkrebs, wären demnach Fälle, in denen das Immunsystem den Krebs nicht besiegen konnte. Oft sind die Tumoren dieser Patienten aber kleiner als die ähnlicher Betroffener ohne Autoimmunstörung; die Immunreaktion gegen die Tumor-Antigene hat also durchaus etwas bewirkt. Das Immunsystem von Patienten, die „nur“ unter ihrer Autoimmunerkrankung leiden, hat laut Rosen und seinem Team die Krebs-Vorstufen komplett beseitigt, bevor sie auffällig wurden.

Wie aber passen die vielen Patientinnen und Patienten ins Bild, die zwar Krebs, aber keine bekannte Autoimmunerkrankung haben? Auch bei ihnen könnte es laut Rosen und seinem Team in der Vergangenheit Immunreaktionen gegen mutierte Autoantigene in Krebsvorläuferzellen gegeben haben. Die Abwehrreaktionen hat einen Selektionsdruck auf die Zellklone ausgeübt und so die Zusammensetzung des entstehenden Tumors verändert. Bei diesem sogenannten Immun-Editing verschwinden Zellklone, die vom Immunsystem gut erkannt und effektiv bekämpft werden, während andere (Prä-)Tumorzellen, die nicht so leicht zu erkennen sind, der Abwehr entwischen und sich dann zu Krebs auswachsen.

Ist ein Klon mit mutierten Antigenen erst einmal eliminiert, flaut die Immunreaktion ab. Sofern noch keine Kreuzreaktionen mit der unmutierten Autoantigen-Variante aufgetreten sind, die im restlichen Körper vorkommt, kann das immunologische Gedächtnis die vorübergehende Autoimmunreaktion vergessen.

Beide Extremfälle kann man als Pyrrhussiege auffassen: Manchmal besiegt unser Immunsystem zwar den Krebs, bevor er gefährlich wird, bekämpft aber für den Rest des Lebens gesunde, unreife Zellen, weil es sie fälschlich für gefährlich hält. Und manchmal vernichtet unser Immunsystem zwar einen frühen mutierten Zellklon in einem entstehenden Tumor, schafft aber gerade dadurch anderen, noch gefährlicheren Zellklonen Platz. Dann erlischt zwar die Autoimmunreaktion, aber der Krebs wächst heran. Aber bei den allermeisten Menschen scheint das System ganz gut zu funktionieren: Ohne dass sie etwas davon ahnen, treten in ihnen Krebsvorstufen auf, die durch vorübergehende und damit ungefährliche Autoimmunreaktionen ausgemerzt oder so weit eingehegt werden, dass die Tumoren „okkult“ bleiben, also verborgen.

Cave!

Bei all diesen Überlegungen – auch in der „Begleitmusik“ zu den Publikationen des Rosen-Teams, etwa bei Science oder wiederholt bei The Scientist – darf eines nicht vergessen werden: Bisher wurden die Zusammenhänge zwischen systemischer Sklerose und Krebs nur an wenigen Menschen untersucht. Systemische Sklerose ist zum Glück selten, etwa gleichzeitig auftretender Krebs noch viel seltener. Einige der Schlussfolgerungen der Forscher beruhen auf einer guten Handvoll, andere Mutmaßungen sogar auf einem einzigen Fall. Ob dies wirklich die Keimzelle eines neuen Paradigmas zur Verursachungen systemischer Autoimmunerkrankungen ist: tja.

Klar ist, dass sehr viele Krebserkrankungen mit der Produktion von Autoantikörpern einhergehen. Ob diese Autoantikörper wirklich zur körpereigenen Krebsabwehr oder aber zur Gegenstrategie der Tumoren gehören oder doch eher Epiphänomene sind, die bestenfalls als frühe diagnostische Marker für bestimmte Krebstypen taugen, bleibt abzuwarten.

Literatur:

Christine G. Joseph et al. (2914): Association of the Autoimmune Disease Scleroderma with an Immunologic Response to Cancer (Open Access)

Ami A. Shah et al. (2015a): Cancer-induced autoimmunity in the rheumatic diseases (Open Access)

Ami A. Shah et al. (2015b): Examination of autoantibody status and clinical features that associate with cancer risk and cancer-associated scleroderma (Open Access)

Pauline Zaenker et al. (2016): Autoantibody production in cancer – The humoral immune response towards autologous antigens in cancer patients

Update: Assoziation von Autoimmunthyreoiditis mit weiteren Autoimmunerkrankungen

Vor fünf Jahren habe ich hier eine Übersichtsarbeit von A. P. Weetman zusammengefasst, „Diseases associated with thyroid autoimmunity: explanations for the expanding spectrum“. Da die Zusammenfassung immer noch recht häufig gelesen wird, hier ein kurzes Update: ein Hinweis auf eine Studie, von der ich wegen der Elsevier-Paywall nur das Abstract lesen konnte.

Die Autoren haben bei gut 3000 Patienten mit Autoimmunthyreoiditis*, gut 1000 Menschen ohne bekannte Schilddrüsenerkrankung und gut 1000 Menschen mit einem Kropf die Prävalenz anderer Autoimmunerkrankungen verglichen. Bei den StudienteilnehmerInnen mit einer Autoimmunerkrankung der Schilddrüse waren folgende weitere Autoimmunerkrankungen signifikant häufiger als in beiden Kontrollgruppen: chronische Autoimmun-Gastritis, Vitiligo, rheumatoide Arthritis, Polymyalgie, Zöliakie, Diabetes, Sjögren-Syndrom, Multiple Sklerose, Lupus (SLE), Sarkoidose, Alopecia areata, Psoriasisarthritis, systemische Sklerose und Hepatitis-C-bedingte Kryoglobulinämie. Leicht, aber statistisch nicht signifikant erhöht waren auch die Prävalenzen von Nebennierenrindeninsuffizienz (M. Addison) und Colitis ulcerosa. Bei etlichen Patienten mit Autoimmunthyreoiditis und chronischer Gastritis wurde eine dritte Erkrankung gefunden, am häufigsten Vitiligo oder Polymyalgie.

* Da ich den Rest des Artikels nicht kenne, weiß ich nicht, ob in ihm zwischen den beiden Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse, nämlich Hashimoto-Thyreoiditis und Morbus Basedow, unterschieden wurde. Sinnvoll wäre das.

Poupak Fallahi et al. (2016): The association of other autoimmune diseases in patients with autoimmune thyroiditis: Review of the literature and report of a large series of patients

T-Zellen mit Stoffwechselproblemen

Es geht, wie so oft, um Ressourcen-Allokation. Wir können jede Kalorie nur einmal ausgeben: zum Nachdenken, für die Vermehrung, im Dienste der Abwehr – am besten dort, wo sie im Moment am dringendsten benötigt wird. Und wenn gerade alles im Lot ist, lagern wir sie ein für kommende Notlagen.

Wohin die Energie fließt, das regelt der Stoffwechsel oder Metabolismus. Er umfasst sowohl biochemische Reaktionswege, auf denen einfachen Rohstoffe unter Energieeinsatz zu komplexeren Strukturen aufgebaut werden, als auch Pfade, auf denen komplexe Biomoleküle zu einfachen Komponenten zerlegt werden, wobei Energie frei wird. Kurz: Metabolismus = Anabolismus + Katabolismus. Damit sich diese Prozesse nicht in die Quere kommen, laufen sie oftmals in getrennten innerzellulären Räumen oder zu unterschiedlichen Zeiten ab.

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Action und Substanz: Teile des Zellstoffwechsels machen aus dem Zucker Glukose Energiewährung wie ATP. Andere Zweige des Stoffwechsels produzieren Protein- und Lipidbausteine wie Amino- oder Fettsäuren.

Energie ist eine knappe Ressource; jede Investition in einen Lebensbereich wird mit einem Mangel in einem anderen Bereich erkauft. Das gilt zum einen für ganze Organismen und ihre Organe, etwa für Guppies. Ein Forscherteam hat einen Stamm dieser Aquarienfische über einige Generationen hinweg auf besonders große und besonders kleine Gehirne hin selektiert und dann die Stärke der Immunreaktionen auf transplantierte Guppy-Schuppen gemessen: Die angeborene Abwehr wird schwächer, wenn mehr Energie in die Ausbildung und den Unterhalt eines großen Gehirns fließt. Die erworbene Abwehr bleibt dagegen gleich stark (A. Kotrschal et al., 2016, PDF).

Das gilt aber auch für einzelne Zelltypen wie Tumorzellen oder die Zellen des Immunsystems, die mit Krebszellen einiges gemeinsam haben – etwa die Fähigkeit zur raschen Vermehrung, für die in kurzer Zeit viel Energie benötigt wird. Die Energiequelle ist Glukose oder Traubenzucker, der aus dem Blut in die Zellen gelangt. Naive, d. h. noch nicht mit einem passenden Antigen konfrontierte T-Zellen haben zunächst einen niedrigen Energieumsatz. Sobald sie aber ein zu ihren Rezeptoren passendes Antigen präsentiert bekommen und dadurch aktiviert werden, geht es los: Sie müssen sich massiv vermehren, u. U. weit und mühsam an ihren Einsatzort wandern und eine Menge Wirkstoffe wie Zytokine herstellen. Anschließend leben einige von ihnen als sogenannte Gedächtniszellen noch Jahre bis Jahrzehnte weiter, um bei einem erneuten Auftreten desselben Antigens, also der Rückkehr derselben Gefahr, sehr schnell wieder aktiv zu werden.

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Wird eine naive T-Zelle durch ein Antigen aktiviert (Blitz), kurbelt sie die Glykolyse (G) an, um als Effektor-T-Zelle schnell schlagkräftig zu werden und sich zu vermehren. Als langlebige Gedächtniszelle (M für memory) setzt sie sie danach stärker auf die oxidative Phosphorylierung (O).

Ihr Stoffwechsel passt sich dem Bedarf in diesen drei Lebensphasen an, wobei jede T-Zell-Subpopulation (etwa CD4+, CD8+ oder Treg) ein etwas anderes Programm verfolgt.

Im Ruhezustand gewinnen die naiven T-Zellen Energie aus allen möglichen Quellen, nämlich Glukose, Fettsäuren und Aminosäuren, und zwar größtenteils in ihren Mitochondrien, den Kraftwerken unserer Zellen. Die darin ablaufenden Stoffwechselwege heißen Citratzyklus und oxidative Phosphorylierung, kurz OXPHOS. Sie sind sehr effizient, liefern also sehr viel von dem Energieträgermolekül ATP – das aber recht langsam: ideal für ruhende T-Zellen, die gemächlich durch die Blutgefäße und die Lymphknoten patrouillieren und auf die Präsentation eines Antigens warten, das zu ihren Rezeptoren passt.

Bei ihrer Aktivierung schalten die T-Zellen auf einen als Glykolyse bezeichneten Stoffwechselweg um, der stattdessen im Zellplasma abläuft und Glukose abbaut, um daraus möglichst rasch ATP und die einfachen Grundbausteine Pyruvat und Lactat zu gewinnen. Aus diesen Zwischenprodukten wird dann Zellsubstanz aufgebaut (im Wesentlichen Nukleinsäuren, Fette und Proteine) und die Zellteilung sowie die Wirkstoffproduktion angetrieben. Die Glykolyse hat eine schlechtere Energiebilanz als die Stoffwechselwege in den Mitochondrien, aber dafür ist sie schnell – und auf Tempo kommt es an, wenn eine T-Zelle ihr passendes Antigen erkannt hat und sich rasant vermehren muss, um die Gefahrenquelle zu bekämpfen, bevor der Körper großen Schaden nimmt.

Gedächtnis-T-Zellen sind dagegen wieder auf den Citratzyklus und OXPHOS angewiesen, denn sie müssen sehr lange überleben, um als Archiv für ehemalige Infektionen und andere überstandene Gefahren zu dienen. Sie müssen aber, solange sie nicht reaktiviert werden, kaum Immunsystem-Wirkstoffe herstellen oder einlagern, können also Aminosäuren und Fettsäuren aus nicht mehr benötigten Proteinen und Lipiden ruhig abbauen bzw. in Energieträgermoleküle umwandeln.

Ein Forscherteam um Zhen Yang ist 2015 der Frage nachgegangen, ob die autoreaktiven T-Zellen, die bei Autoimmunerkrankungen auftreten, womöglich einen charakteristisch veränderten Zellstoffwechsel aufweisen. Ihre Idee: Eine Stoffwechselstörung, etwa eine ständige Überproduktion von Energie, könnte die Immunzellen chronisch überaktiv machen – und eine chronische Entzündung unter Beteiligung autoreaktiver T-Zellen ist für Autoimmunerkrankungen typisch, etwa für rheumatoide Arthritis (RA) oder systemischen Lupus erythematodes (SLE). Dann könnte man diese Erkrankungen womöglich durch Eingriffe in den Stoffwechsel der T-Zellen bremsen oder gar heilen.

Das wäre natürlich zu schön gewesen. Leider stellt sich die Lage komplexer dar: Sowohl bei RA als auch bei SLE ist der Stoffwechsel der T-Zellen verändert – aber nicht gleichartig.

Bei RA fahren frisch stimulierte CD4+-T-Zellen die Glykolyse nicht so schnell hoch wie bei Gesunden; sie produzieren nicht so viel ATP und Lactat, teilen sich aber trotzdem lebhaft. Die Bremse ist ein Glykolyse-Enzym mit dem furchteinflößenden Namen 6-Phosphofructo-2-Kinase/Fructose-2,6-Bisphosphatase 3, das wir zum Glück PFKFB3 nennen dürfen. An diesem Enzym herrscht in den T-Zellen von Rheumatikern Mangel, da das entsprechende Gen viel zu schwach abgelesen wird. Die Zwischenprodukte, die sich vor diesem Nadelöhr in der Glykolyse anstauen, weichen auf einen anderen Stoffwechselweg aus: den Pentosephosphatweg. Das führt zu einem Mangel an sogenannten reaktiven Sauerstoffspezies (ROS). Ein ROS-Mangel wiederum geht mit starken Gelenkentzündungen einher; ROS schützt vor Arthritis.

Warum das Enzym PFKFB3 nicht richtig abgelesen wird, ist unklar. Die T-Zellen von RA-Patienten altern vorzeitig. Aber ob diese zelluläre Frühvergreisung durch Energiedefizite aufgrund des Enzymmangels zustande kommt oder umgekehrt das Enzym nicht richtig abgelesen wird, weil die Zellvergreisung das Erbgut schädigt und die Gen-Expression beeinträchtigt, weiß man nicht. Jedenfalls sterben T-Zellen, die nicht genug ATP produzieren, vorzeitig ab. Der dadurch drohende Lymphozyten-Mangel (Lymphopenie genannt) zwingt den Organismus, die Produktion neuer naiver T-Zellen zu beschleunigen. Das geschieht bei älteren Erwachsenen nicht etwa im Thymus, der sich ja bereits zurückgebildet hat, sondern durch verstärkte Teilung der schon im Körper kreisenden naiven T-Zellen: die sogenannte homöostatische T-Zell-Proliferation. Bei diesem Prozess scheinen sich autoreaktive T-Zellen bevorzugt zu vermehren, was zu einer Autoimmunerkrankung führen kann.

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Homöostatische T-Zell-Proliferation: Das Repertoire der naiven T-Zellen mit unterschiedlichen Rezeptoren (oberste Reihe: drei Zellklone) bleibt normalerweise bis ins Alter erhalten, weil Verluste durch Teilung der übrigen Zellen kompensiert werden. Bei einer Lymphopenie, also dem massenhaften vorzeitigen Sterben von T-Zellen, wird die homöostatische Proliferation verstärkt. Dabei können Klone verloren gehen (weiß) und autoreaktive T-Zellen (schwarz) sich so stark vermehren, dass eine Autoimmunerkrankung ausbricht.

Auch die T-Zellen von Lupus-Patienten haben einen auffälligen Stoffwechsel. Aber sie produzieren ihr ATP primär auf dem OXPHOS-Weg in den Mitochondrien, nicht durch Glykolyse. Sie produzieren mehr ROS als normale T-Zellen, nicht weniger. Ihre Energiegewinnung ist gestört; sie bauen weder Glukose noch Fettsäuren noch Aminosäuren so effizient ab wie normale T-Zellen. Vor allem freie Fettsäuren häufen sich wegen des gestörten Abbaus an. Der gestörte Fettstoffwechsel wirkt sich auch auf die Fähigkeit der T-Zell-Rezeptoren zur Wahrnehmung von Antigenen aus: Die Zellmembranen von SLE-Patienten enthalten übermäßig viele Glycosphingolipide, also Lipide mit außen anhängenden Zuckermolekülen. Diese speziellen Lipide lagern sich in der ansonsten nahezu flüssigen Zellmembran gerne zu festeren Regionen zusammen, sogenannten Lipid-Flößen, in die wiederum viele T-Zell-Rezeptoren eingebettet sind. Wohl daher nehmen die T-Zellen von Lupus-Patienten besonders leicht Autoantigen-Signale wahr und aktivieren dann ihrerseits B-Zellen, die Autoantikörper herstellen.

Was lehren uns diese gegensätzlichen Stoffwechseldefekte von T-Zellen bei zwei wichtigen Autoimmunerkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis? Dass die Erkrankungsmechanismen ganz verschieden sein können, auch wenn es sich in beiden Fällen um chronische Entzündungen handelt, bei denen das Immunsystem körpereigenes Gewebe angreift. Dass es daher vermutlich nicht das eine Heilmittel geben und überhaupt noch lange dauern wird, bis wir Autoimmunerkrankungen heilen können. Aber auch, dass man vor lauter Botenstoffen, Signalkaskaden und Erbinformationsableserei den Energiehaushalt des Immunsystems nicht außer Acht lassen darf: Das ist nicht etwa reine Information, die da zwischen und in den Zellen weitergeleitet wird. Es sind vielmehr Substanzen, deren Herstellung und Beseitigung zur rechten Zeit, am rechten Ort und in der rechten Menge Kraftakte und logistische Meisterleistungen des Zellstoffwechsels sind.

Thymus-Veränderungen und Autoimmunerkrankungen

Wenn schon die Struktur des Thymus, die Funktion einiger seiner Bestandteile und die Vor- und Nachteile seiner Rückbildung ab der Kindheit nicht vollständig aufgeklärt sind, wundert es nicht, dass auch das Verhältnis zwischen einer normalen oder abweichenden Entwicklung des Thymus und allen möglichen Autoimmunerkrankungen strittig ist.

Wie so oft sind zum Beispiel Ursache und Wirkung nicht leicht zu unterscheiden: Entwickelt sich der Thymus wegen einer Autoimmunerkrankung merkwürdig? Zieht eine anomale Entwicklung des Organs die Entlassung autoreaktiver T-Zellen in die Peripherie und damit eine Autoimmunstörung nach sich? Schaukeln sich beide Entwicklungen gegenseitig hoch? Oder sind sowohl die Autoimmunerkrankung als auch die Fehlentwicklung des Thymus Folgen von etwas Drittem, etwa einer genetischen Abweichung in den T-Zell-Vorläufern?

Ich versuche gar nicht erst, aus der Literatur ein stimmiges Gesamtbild abzuleiten, sondern stelle die Aussagen verschiedener Autoren einfach nebeneinander.

1. Thymome und Autoimmunerkrankungen

Eric A. Engels (2010): Epidemiology of thymoma and associated malignancies (Volltext)

Bei Thymomen (Tumoren aus Thymus-Epithelzellen) gelangen häufig abnorm konditionierte T-Zellen in den Kreislauf, die wahrscheinlich für die mit Thymomen assoziierten Autoimmunerkrankungen wie Myasthenia gravis (MG) verantwortlich sind. Was Thymome verursacht, ist unbekannt.

C. R. Thomas, C. D. Wright und P. J. Loehrer (1999): Thymoma: state of the art (PDF)

10-15 Prozent der MG-Patienten haben ein Thymom; 30 Prozent der Patienten mit einem Thymom haben MG. Mit Thymomen sind außerdem unter anderem assoziiert (bei weniger als 5-10 Prozent der Patienten): akute Perikarditis, Morbus Addison (Nebennierenrindeninsuffizienz), Agranulozytose, Alopecia areata, Colitis ulcerosa, Morbus Cushing, hämolytische Anämie, limbische Enzephalopathie, Myokarditis, nephrotisches Syndrom, Panhypopituitarismus, perniziöse Anämie, Polymyositis, rheumatoide Arthritis, Sarkoidose, Sklerodermie, sensorimotorsche Radikulopathie, Stiff-Person-Syndrom, systemischer Lupus erythematosus (SLE) und Thyroiditis. Die meisten dieser Krankheiten sind Autoimmunerkrankungen.

2. Thymus-Involution und Autoimmunerkrankungen

M. Meunier et al. (2013): Incomplete thymic involution in systemic sclerosis and rheumatoid arthritis (nur Abstract gelesen)

In der Studie wurde bei Patienten mit systemischer Sklerose (SSc) und rheumatoider Arthritis (RA) nach Thymus-Anomalien gesucht, wie sie für andere Autoimmunerkrankungen bereits nachgewiesen wurden. Alle Studienteilnehmer waren mindestens 40 Jahre alt. Eine unvollständige Thymus-Involution (Thymus-Reste über 7 mm dick) trat signifikant häufiger bei Patienten mit SSc (15 Prozent) und RA (14 Prozent) auf als in der Kontrollgruppe (0 Prozent).

Brandon D. Coder et al. (2015): Thymic Involution Perturbs Negative Selection Leading to Autoreactive T Cells That Induce Chronic Inflammation (nur Abstract gelesen)

Die Thymus-Involution und die aus ihr folgende vermehrte Freisetzung autoreaktiver T-Zellen erhöht den Autoren zufolge das Risiko für Autoimmunerkrankungen im Alter. In der Studie sollte an Foxn1-Knockout-Mäusen untersucht werden, ob das auch für chronische Entzündung (Inflammaging) gilt: ja. Wird das Gen Foxn1 „ausgeknockt“, läuft die Involution beschleunigt ab, während der Rest des Körpers jung bleibt. Die Involution führt dazu, dass T-Zellen kurz nach Verlassen des Thymus aktiviert werden, was mit Anzeichen einer chronischer Entzündung einhergeht: Zell-Infiltration in Nicht-Lymphgewebe, erhöhte TNF-α-Produktion, erhöhter IL-6-Spiegel im Serum. Nicht eine verminderte Treg-Produktion, sondern ein Versagen der negativen Selektion durch einer verringerte Aire-Expression führt zur Entstehung autoreaktiver T-Zell-Klone.  Weiterlesen