Alkohol-, Kaffee- und Fischkonsum gehen mit verlangsamter Zustandsverschlechterung bei RR-MS einher

Weinstock auf dem Dach des Weinmuseums bei Nacht

Man stößt ja an den seltsamsten Orten auf nützliche Hinweise. Auf diese Arbeit, die die Blogbeiträge über Hashimoto und Alkohol sowie über Rheuma und Alkohol gut ergänzt, wurde ich gestern bei der „Langen Nacht der Museen“ im Kölner Weinmuseum aufmerksam.  (Kurzzusammenfassung, noch nicht allgemein verständlich aufbereitet)

M. B. D’hooghe et al.: Alcohol, coffee, fish, smoking and disease progression in multiple sclerosis. European Journal of Neurology 2012, 19: 616-624, doi: 10.1111/j.1468-1331.2011.03596.x (closed access, aber der ganze Artikel steht an anderer Stelle online – einfach mal Google fragen!)

Abstract: Die Autoren haben 1372 Personen mit Multipler Sklerose aus dem Register der flämischen MS-Gesellschaft befragt, um Zusammenhänge zwischen Ernährung bzw. Genussmittelkonsum und dem Tempo der Verschlechterung ihres Gesundheitszustands zu ermitteln. Outcome: Zeit bis zum Erreichen des EDSS 6, also bis die Betroffenen für eine Strecke von 100 Metern einen Stock oder eine andere Gehhilfe benötigten.

In der Gruppe mit schubförmig remittierender MS (RR-MS) schritt die Erkrankung bei denen, die regelmäßig Alkohol, Kaffee und Fisch zu sich nahmen, langsamer voran als bei denjenigen, die diese Nahrungsmittel nie zu sich nahmen. Das Rauchen von Zigaretten war dagegen mit einem höheren Risiko verbunden, bereits EDSS 6 erreicht zu haben. 

In der Gruppe mit primär progredienter MS (PP-MS) war kein Zusammenhang zwischen Alkohol-, Kaffee- oder Fischkonsum und dem Krankheitsverlauf zu erkennen. Allerdings hatten Betroffene, die gerne fettreiche Fischsorten aßen, ein höheres Risiko, EDSS 6 erreicht zu haben, als Betroffene, die fettarme Fischsorten bevorzugten.

Die Ergebnisse unterstützen die Hypothese, dass dem Verlauf von RR-MS und von PP-MS unterschiedliche Mechanismen zugrunde liegen.

Ergebnisse:

Alkohol: RR-MS: Wer keinen Alkohol trinkt, erreichte im Durchschnitt nach 25,0 Jahren und im Alter von 57,0 Jahren EDSS 6; bei regelmäßigem Alkoholkonsum dauerte es durchschnittlich 32,0 Jahre bzw. bis zum Alter von 63,0 Jahren (p = 0,001). PP-MS: keine merklichen Unterschiede zwischen Abstinenzlern und Alkoholkonsumenten. Wurde nicht nach Alkohol, sondern spezifisch nach Wein gefragt, waren die Ergebnisse ganz ähnlich. (Leider keinerlei Angaben zu Bier oder Spirituosen.)

Kaffee/Tee: RR-MS: Bei keinem Konsum im Durchschnitt 25,0 Jahre bis zum Erreichen von EDSS 6 (im Alter von 56,0 Jahren); bei regelmäßigem Konsum 30,0 Jahre (im Alter von 60,0 Jahren). PP-MS: keine merklichen Unterschiede zwischen Kaffeetrinkern und Nichtkaffeetrinkern. Regelmäßiger Teekonsum beeinflusste dagegen die Zeit bis EDSS 6 weder bei RR- noch bei PP-MS.

Fisch: RR-MS: Bei regelmäßigem Konsum (mind. 2 Mal pro Woche) 31 Jahre bis  EDSS 6 (im Alter von 58); wer weniger als ein mal pro Monat Fisch aß, erreichte EDSS 6 im Durchschnitt nach 24 Jahren (im Alter von 56). PP-MS: kein merklicher Unterschied; allerdings scheint eine Vorliebe für fettreichen Fisch den Krankheitsfortgang zu beschleunigen; andererseits waren sowohl Freunde von fettreichem als auch Freunde von fettarmem Fisch beim Erreichen von EDSS 6 im Durchschnitt 55,0 Jahre alt.

Rauchen: RR-MS: Gelegentliches Rauchen scheint die Zeit bis EDSS 6 deutlich zu verkürzen (20,0 Jahre. Alter: 50,0 – allerdings nur 23 Personen!); Nichtraucher und tägliche Raucher liegen mit 28,0 Jahren (Alter: 60 bzw. 57) etwa gleichauf. [Siehe Kommentar in der Diskussion!] PP-MS: keine signifikanten Unterschiede zwischen Rauchern und Nichtrauchern.

Relative Risiken: Gegenüber Abstinenzlern (1,0) hatten Betroffene mit RR-MS, die regelmäßig Alkohol tranken, ein verringertes Risiko (0,61), EDSS 6 erreicht zu haben. Kaffeekonsum und Fischkonsum waren mit einem Risiko von 0,60 verbunden. Bei PP-MS lagen alle Risiken in der Nähe von 1 – nur bei einer Präferenz für fetten Fisch stieg es auf 1,56.

Diskussion:

Die Ergebnisse dieser Studie sind nicht mit den Resultaten von Fall-Kontroll- oder Kohorten-Studien zum Risiko, MS zu bekommen, zu vergleichen: Letzteres scheint bei Kaffee-, Spirituosen- und Tabakkonsum zu steigen, wobei nur der Zusammenhang mit dem Rauchen wirklich eindeutig ist. Die Risikofaktoren, die eine MS-Erkrankung wahrscheinlicher machen, müssen nicht mit den hier untersuchten Risikofaktoren für eine rasche Verschlimmerung des Zustands bei einmal ausgebrochener Krankheit identisch sein.

Dass die Assoziation zwischen Weinkonsum und RR-MS-Verlauf ähnlich ausfällt wie die Assoziation zwischen Alkoholkonsum und RR-MS-Verlauf, bestätigt andere Studien, denen zufolge es nicht auf die Art des alkoholischen Getränks ankommt.

Da ein rascher Krankheitsfortgang auch das Konsumverhalten beeinflussen kann, lässt sich die Richtung des kausalen Zusammenhangs nicht eindeutig bestimmen. Möglicherweise wirkt ein moderater Alkoholkonsum günstig auf das Immunsystem (Abschwächung der systemischen Entzündung). Resveratrol aus Rotwein hat anderen Studien zufolge entzündungshemmende und antioxidative Eigenschaften, aber die Ergebnisse dieser Studie lassen einen rotweinspezifischen Effekt fraglich erscheinen.

Der hier dokumentierte Zusammenhang zwischen Kaffeekonsum und verlangsamtem Erkrankungsverlauf ist neu. Bei kaffeetrinkertypischen Dosen scheint Koffein die Produktion entzündungsfördernder Zytokine wie TNF-α zu unterdrücken und außerdem die Nervenzellen zu schützen, vermutlich durch Phosphodiesterase-Inhibition und einen unspezifischen Adenosinrezeptor-Antagonismus. Der inverse Zusammenhang zwischen Kaffeekonsum und Krankheitsverlauf könnte theoretisch ebenfalls durch verändertes Konsumverhalten nach der Diagnose bedingt sein, aber dagegen spricht, dass der Zusammenhang bei PP-MS nicht zu finden ist.

Zusammenhänge mit Teekonsum wurden nicht gefunden. (Leider wurde nicht spezifisch nach grünem Tee gefragt, dessen Polyphenol EGCG im Tiermodell den Verlauf von EAE verlangsamt und offenbar sowohl entzündungshemmend wirkt als auch Nervenzellschäden verringert.) Der Unterschied zum Kaffee-Ergebnis könnte durch den deutlich niedrigeren Kaffeingehalt von Tee zu erklären sein (etwa die Hälfte pro Tasse).

Die Assoziation zwischen langsamer RR-MS-Verschlechterung und hohem Fischkonsum könnte entweder einfach auf einen gesünderen Lebensstil der jüngeren, noch mobileren Patienten oder aber auf eine Schutzwirkung einer fischreichen Kost, z. B. der mehrfach ungesättigten Fettsäuren, zurückzuführen sein. Diese wirken entzündungshemmend, vermutlich durch eine Hemmung der IL-1- und TNF-α-Produktion. Auch die Vitamin-D-Zufuhr durch den Fisch könnte sich positiv auswirken.

Das erhöhte Risiko einer schnellen Zustandsverschlechterung bei PP-MS-Patienten mit hohem Konsum fettreicher Fische ist nicht leicht zu erklären. Vielleicht liegt es an der Anreicherung von Schwermetallen und Dioxin im Fettgewebe der Fische, die die Nervenschädigung beschleunigen.

Dass vor allem das gelegentliche (nicht aber das tägliche) Rauchen so stark mit einer beschleunigten Zustandsverschlechterung bei RR-MS assoziiert ist, könnte ein Artefakt durch die geringe Fallzahl sein (nur 23 Gelegenheitsraucher, im Vergleich zu 655 Nichtrauchern und 203 Täglichrauchern). [Mir kommen die Zahlen in Ergebnistabelle 2 dennoch sehr seltsam vor: Der p-Wert für den Unterschied – aber welchen: den zwischen Nichtrauchern und Gelegenheitsrauchern oder der zwischen Nichtrauchern und Gelegenheits- sowie Täglichrauchern? – soll kleiner als 0,001 sein, obwohl die mittlere Zeit zwischen Diagnose und Erreichen von EDSS 6 sowohl bei Nichtrauchern als auch bei täglichen Rauchern 28,0 Jahre beträgt. Da kann etwas nicht stimmen.] Rauchen verstärkt Autoimmunreaktionen und schwächt zugleich die Infektionsabwehr. Die Mechanismen bei MS sind noch nicht gut verstanden.

Methodische Schwächen der Studie: Die MS-Patienten, die sich beteiligt haben, sind eher repräsentativ für die MS-Gesellschaft als für die Gesamtheit der MS-Patienten in Flandern. Die Gruppe mit PP-MS war größer als erwartet, hatte einen für PP-MS untypischen leichten Frauenüberschuss und enthielt etliche Personen, die mit Immunmodulatoren behandelt wurden (die bei PP-MS eigentlich nicht angezeigt sind). Evtl. haben sich einige Teilnehmer bei der MS-Klassifikation vertan, oder das nicht für alle MS-Patienten gleichermaßen attraktive Serviceangebot der MS-Gesellschaft sorgte für einen Bias, oder die Neurologen einiger PP-MS-Patienten haben off label Immunmodulatoren verschrieben.

In der Querschnittstudie wurde nur das derzeitige Ernährungs- und Konsumverhalten abgefragt und nicht die Vorgeschichte (kumulierte Aufnahmemengen oder Verhaltensveränderungen). Der derzeitige Konsum kann natürlich nicht für den bereits durchschrittenen Krankheitsverlauf verantwortlich sein, aber die Autoren hoffen, dass er relativ konstant war und für einen bestimmten Lebensstil steht. Dennoch kann ein umgekehrter Kausalzusammenhang (Gesundheitsverschlechterung -> weniger Alkohol, Kaffee usw.) nicht ausgeschlossen werden.

Die Resultate gestatten es nicht, Alkohol, Kaffee und Fisch eine eindeutige Schutzwirkung bei RR-MS zuzusprechen. Allerdings sprechen die Unterschiede in den Assoziationen bei RR- und PP-MS, die genau dem Unterschied im Anschlagen von Immunmodulatoren bei RR- und PP-MS entsprechen, dafür, die Hypothese einer Schutzwirkung bei RR-MS weiter zu untersuchen.

Ein Gedanke zu „Alkohol-, Kaffee- und Fischkonsum gehen mit verlangsamter Zustandsverschlechterung bei RR-MS einher

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