Notizen zu Lori H. Schwacke et al., „Anaemia, hypothyroidism and immune suppression associated with polychlorinated biphenyl exposure in bottlenose dolphins (Tursiops truncatus)“, Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, 25. Mai 2011, doi:10.1098/rspb.2011.0665
[Die Arbeit hat nichts mit Autoimmunerkrankungen zu tun – wohl aber mit einer umweltgiftbedingten Schilddrüsenunterfunktion und weiteren damit einhergehenden Schädigungen. Daher nehme ich sie in meine Materialsammlung auf.]
Polychlorierte Biphenyle (PCBs) wurden in den USA in den späten 1970er-Jahren verboten. Sowohl Versuche als auch epidemiologische Untersuchungen deuten darauf hin, dass sie das Immun-, das Hormon- und das Fortpflanzungssystem massiv schädigen können. Zudem weiß man, dass PCBs sehr stabil sind und sich in der Nahrungskette anreichern. Im Fettgewebe von Großen Tümmlern an der Südküste von Georgia (USA) wurden in den letzten Jahren extreme PCB-Konzentrationen von bis zu 2900 Milligramm pro Kilogramm gemessen.
[Zur Verdeutlichung: Das sind knapp 3 Gramm pro Kilogramm oder 0,3 Prozent! Stoffe, die mehr als 50 Milligramm PCB pro Kilogramm enthalten, müssen in Spezialanlagen entsorgt werden. Ich wusste zwar, dass PCBs sich in der Nahrungskette akkumulieren, aber dieser Wert macht mich fassungslos.]
Es handelt sich um Aroclor 1268, ein seltenes Gemisch stark chlorierter Biphenyle, das in einer ehemaligen Chlor-Alkali-Fabrik nahe Brunswick, Georgia, verwendet wurde und heute nicht nur in der unmittelbaren Nähe des Fabrikgeländes im Turtle/Brunswick-Flussdelta, sondern auch im Umkreis von etlichen Dutzend Kilometern in hohen Konzentrationen vorliegt.
In PCB-belasteten Delfinpopulationen sind etliche schwere Epidemien mit stark erhöhter Sterblichkeit aufgetreten, was vermuten ließ, dass die Verbindungen das Immunsystem der Tiere beeinträchtigen. Aus ethischen und logistischen Gründen war es aber bislang schwer, einen solchen Kausalzusammenhang direkt nachzuweisen.
Die Autoren haben die Hypothese, dass eine langfristige Kontamination mit stark chlorierten PCBs Delfine krank macht, nun überprüft, indem sie 29 Delfine mit einer Ringwade einfingen, sie teils noch im Wasser und teils an Bord untersuchten und anschließend wieder freiließen. Trächtige Weibchen wurden nur im Wasser untersucht. Für immunologische und hämatologische Tests sowie Hormonanalysen wurde den Tieren Blut abgezapft; zur Bestimmung des PCB-Gehalts wurden ihnen Proben aus der Haut und dem Fettgewebe entnommen. Einigen Tieren wurde zudem unter örtlicher Betäubung ein Zahn gezogen, um das Alter zu bestimmen, das großen Einfluss auf das Immun- und Hormonsystem hat und bekannt sein muss, um die Werte richtig deuten und miteinander vergleichen zu können.
Im Fettgewebe der Delfine wurden 55 unterschiedliche PCB-Verbindungen, sieben polybromierte Diphenylether und eine Reihe weiterer chlororganischer Verbindungen nachgewiesen, und zwar in Konzentrationen zwischen 10,3 und 761 Mikrogramm pro Gramm (= Milligramm pro Kilogramm) Fettgewebe. Bei erwachsenen Weibchen fallen die Spitzenwerte geringer aus als bei Jungtieren und Männchen, da ein Teil der PCBs mit der Muttermilch auf die Jungtiere übertragen wird.
Viele der gefangenen Delfine waren für ihr geschätztes Alter ungewöhnlich klein.
26 Prozent der Tiere waren anämisch; ihr Blut enthielt sehr wenig Hämoglobin. Neben normozytären und mikrozytären Anämien wurde auch eine makrozytäre Anämie nachgewiesen; das heißt: die roten Blutkörperchen oder Erythrozyten waren teils normal groß, teils zu klein und teils zu groß. Die Eisenkonzentration im Blut korrelierte negativ mit der PCB-Konzentration im Fett.
Ein Eisenmangel geht häufig mit Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) einher – so auch hier: Alle untersuchten Schilddrüsenhormonwerte (Thyroxin gesamt, freies Thyroxin, Triiodthyronin) korrelierten negativ mit der PCB-Konzentration im Fett, auch wenn man das Alter der Tiere berücksichtigte.
14 Prozent der Tiere hatten erhöhte Leberwerte und 17 Prozent erhöhte Elektrolytwerte, was auf Leber- und Nierenschäden hindeutet.
Bei 31 Prozent der Delfine war die Konzentration des Enzyms Laktatdehydrogenase (LDH) erhöht, was auf Zellschädigungen schließen lässt.
Bei Stimulierung mit dem Mitogen Concanavalin A (Con A) vermehrten sich die T-Lymphozyten umso stärker, je höher die Triiodthyronin-Konzentration im Blut war, und umso schwächer, je stärker die Delfine mit PCB belastet waren. Auch zwei Indikatoren für die angeborene Immunabwehr, die Neutrophilen- und die Monozyten-Phagozytose, korrelierten signifikant negativ mit der PCB-Konzentration. Die B-Zell-Proliferation scheint hingegen durch die PCBs nicht beeinträchtigt zu werden.
Die Autoren weisen darauf hin, dass Anämie bereits bei Primaten nachgewiesen wurde, die über längere Zeit Aroclor 1254 und 1248 ausgesetzt waren. Die PCB-Werte im Fettgewebe der Delfine waren allerdings wesentlich höher als bei den Laboraffen in den älteren Studien – offenbar werden die stark chlorierten und dafür etwas weniger toxischen Verbindungen in Aroclor 1268 stärker akkumuliert als die schwächer chlorierten, giftigeren Verbindungen in Aroclor 1254 und 1248.
Wie PCBs den Schilddrüsenhormonspiegel senken, ist noch nicht ganz aufgeklärt. Mehrere Stoffwechselwege kommen in Frage. PCBs können die Hormonproduktion in der Schilddrüse stören oder auf die Enzyme einwirken, die für ihren Abbau zuständig sind. Bei Ratten, denen man mit Aroclor 1254 zuführte, stieg zum Beispiel – vielleicht über den Aryl-Hydrocarbon-Rezeptor-Signalweg – die Aktivität der Uridindiphosphat-Glucoronosyltransferase (UGT) in der Leber, sodass das Thyroxin schneller abgebaut wurde. Zwar gehören die dioxinähnlichen PCBs aus Aroclor 1254 nicht zu den Hauptbestandteilen von Aroclor 1268, aber einige von ihnen wurden dennoch in den Delfinen aus Georgia nachgewiesen.
Die PCBs könnten aber auch den Thyroxintransport ins periphere Gewebe beeinträchtigen. Einige PCBs haben eine ähnliche Struktur wie T4 und könnten an seiner Stelle an das Thyroxintransportprotein Transthyretin binden. Allerdings sind dies schwächer chlorierte PCBs, wie sie in Aroclor 1268 kaum vorkommen. Außerdem müsste bei einer starken Konkurrenz um die Bindungsstellen der Transportproteine der freie T4-Spiegel erhöht sein, während die bei den Delfinen gemessenen FT4-Werte tatsächlich niedrig sind.
Schilddrüsenhormone spielen eine Schlüsselrolle im Stoffwechsel und Wachstum. Ihr Mangel könnte erklären, warum die Delfine aus Georgia so klein bleiben (auch wenn die Stichprobe für ein signifikantes Ergebnis nicht groß genug war).
Unklar ist, ob die niedrigen Schilddrüsenhormonspiegel auch zur Schwächung der angeborenen und erworbenen Immunabwehr führen. In einer Studie an Mäusen fiel die mitogeninduzierte T-Zell-Proliferation bei Hypothyreose schwächer aus, und T3-Gaben normalisierten die Lage. T3 reguliert offenbar die Zytokinproduktion, die wiederum sowohl das Verhalten der Lymphozyten als auch die angeborene Immunabwehr beeinflusst. Die PCBs könnten die Immunabwehr allerdings auch direkt beeinträchtigen. Eine in den Georgia-Delfinen nachgewiesene Hauptkomponente von Aroclor 1268, PCB 180, verringert in vitro die Immunfunktionen.
Eine reduzierte T-Zell-Antwort kann vor allem die Anfälligkeit für Vireninfektionen erhöhen, während eine Schwächung der angeborenen Immunabwehr Bakterien-, Pilz- und Protozoeninfektionen erleichtert.
Weniger als ein Prozent der 1957 bis 1975 in den USA verkauften PCBs waren Aroclor 1268, sodass es nur wenige toxikologische Studien zu diesem stark chlorierten Gemisch gibt. In den Delfinen wurden aber auch schwach chlorierte Biphenyle nachgewiesen; wahrscheinlich tragen beide Verbindungsgruppen zur Gesamttoxizität bei. Andere schlecht aubbaubare organische Verbindungen wie DDT wurden zwar ebenfalls nachgewiesen, aber höchstens in gleicher Konzentration wie an anderen Abschnitten der US-Küste, an denen die Delfine keine Beeinträchtigungen zeigen. Daher ist nicht anzunehmen, dass sie signifikant zum Zustand der Tiere in Georgia beigetragen haben.
Im Allgemeinen sind PCBs umso inerter, also schlechter abbaubar, je stärker sie chloriert sind; zugleich sind sie etwas weniger giftig als schwächer chlorierte PCBs. Die Kombination dieser beiden Eigenschaften macht die immense Aufkonzentration von Aroclor 1268 im Gewebe der Großen Tümmler möglich.
PCBs werden in den USA schon lange nicht mehr hergestellt oder eingesetzt, verbleiben aber aufgrund ihrer schlechten Abbaubarkeit noch sehr lange in den marinen Ökosystemen. Zahnwale und Delfine stehen am Ende langer Nahrungsketten und leiden daher besonders darunter. In der Nähe industrialisierter Küstenabschnitte kam es schon öfter zu Massensterben von Delfinen.
Am Ende ihrer Studie weisen die Autoren darauf hin, dass es an den Küsten von Georgia noch eine Lebensform am Ende der marinen Nahrungsketten gibt: den Menschen. Sie empfehlen weitere Untersuchungen.