Da ist der Wurm drin: Können Darmparasiten Autoimmunerkrankungen eindämmen?

Peitschenwurm-Ei

A. ist 14 Monate alt, als bei ihr eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung (CED) diagnostiziert wird. Das Kind kränkelt ständig, die Medikamente haben starke Nebenwirkungen. Nach eingehenden Recherchen entschließen sich die Eltern zu einer umstrittenen, in ihrem Land nicht zugelassenen Therapie: Im Ausland lassen sie ihrer Tochter eine Dosis Peitschenwurm-Eier verabreichen, die aus dem Stuhl eines Spenders gewonnen wurden. Diese Darmparasiten entwickeln sich im Verdauungstrakt und lösen eine Abwehrreaktion aus, die die Würmer nicht abtötet, aber das Immunsystem des Kindes so umstimmt, dass die Läsionen im Darm abheilen und die Blutwerte sich normalisieren.

Eine Wundergeschichte, wie sie zu Tausenden im Internet kursieren – von Anbietern unorthodoxer Therapien und missionarisch beseelten Betroffenen lanciert? Überprüfen lassen sich die Anekdoten kaum. Aber die Fachliteratur zeigt, dass solche Verzweiflungstaten ein solideres evolutionsbiologisches Fundament haben als viele etablierte Therapien.  

Alte Freunde

Seit jeher pflegen Menschen und Würmer innige Beziehungen: In Ötzis Leichnam wurden ebenso Darmparasiten nachgewiesen wie in präkolumbianischen Mumien. Etwa zwei Milliarden Menschen sind mit Würmern infiziert, darunter bis zu 1,3 Milliarden mit Hakenwürmern wie Necator americanus und etwa eine Milliarde mit Peitschenwürmern wie Trichuris trichiura. Haken- und Peitschenwürmer gehören zu den Fadenwürmern, die mit zwei weiteren Wirbellosenstämmen zu den Würmern zusammengefasst werden: den Kratzwürmern und den Plattwürmern, zu denen die Bilharziose-Erreger Schistosoma zählen.

Ein Teil des Lebenszyklus der Haken- und der Peitschenwürmer läuft im Boden ab. Während Peitschenwurmeier direkt über verunreinigte Lebensmittel usw. in den Verdauungstrakt gelangen, bohren sich die Larven der Hakenwürmer in die Haut, gelangen so in den Blutkreislauf und über diesen in die Lunge. Dort lösen sie einen Hustenreiz aus, der sie in den Rachen befördert; durch anschließendes Verschlucken erreichen sie ihr Ziel: den Dünndarm, in dessen Schleimhaut sie sich verbeißen, um vom Blut ihrer Wirte zu leben. In großer Zahl können sie Anämie verursachen.

Dass sich manche Menschen solche Schmarotzer freiwillig einverleiben, liegt an einer faszinierenden geoepidemiologischen Beobachtung: In den Tropen und Subtropen, in denen wegen der hygienischen und klimatischen Bedingungen die meisten Kinder Würmer haben, sind Allergien, Autoimmunerkrankungen, CED, aber auch Depressionen und Autismus selten. Umgekehrt verhält es sich in den Industrienationen, in denen diese Krankheiten sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch ausbreiten. Sind Würmer womöglich nicht nur Krankheitserreger, sondern auch „alte Freunde“, die uns aufgrund der wechselseitigen evolutionären Anpassung vor überschießenden Immun- und Entzündungsreaktionen schützen?

Umgekehrte Wurmkuren

Epidemiologische Daten reichen nicht aus, um diese Frage zu beantworten; bei Tierversuchen stellt sich die Frage der Übertragbarkeit der Ergebnisse; Studien, bei denen Kranke mit Parasiten infiziert werden, können gegen das Prinzip „primum non nocere“ (vor allem nicht schaden) verstoßen.

Umso aufmerksamer werden Personen untersucht, die sich willentlich selbst infizieren. 2004 schluckte ein Mann, der an schwerer Colitis ulcerosa litt, Peitschenwurm-Eier. Mitte 2005 war er symptomfrei und benötigte kaum noch Medikamente. Als nach drei Jahren die Beschwerden zurückkehrten, schluckte er noch einmal 2000 Eier; prompt verbesserten sich Befinden und histopathologischer Befund (Broadhurst et al., 2010).

Der Immunologe David Pritchard reiste mit einem Team 2004 nach Neuguinea, um sich dort mit Hakenwurmlarven zu infizieren und zu ermitteln, ab welcher Larvenzahl Komplikationen auftreten. Sein Kollege Alan Brown entschloss sich anschließend, kein Wurmmittel zu nehmen, sondern die Würmer zum Zwecke der weiteren Erforschung im eigenen Leib nach Großbritannien zu importieren.

Jasper Lawrence litt an schwerstem Asthma und reiste 2006 nach Kamerun, wo er barfuß in Latrinen und auf wurmverseuchten Böden herumlief, um sich zu infizieren. Seine Symptome verschwanden. Heute leben in seinem Darm nicht nur Haken-, sondern auch Peitschenwürmer. In Kooperation mit einer Praxis in Mexiko bietet er Interessenten aus den USA für etwa 2900 Dollar Trips über die Grenze an, bei denen sie sich mit dem Nachwuchs seiner Würmer infizieren können.

Poo it yourself

Vielen Interessenten in den USA fehlt das Geld oder die Chance, bei der FDA eine Ausnahme vom Verbot der Therapie mit lebenden Darmparasiten zu erwirken. So bildet sich dort eine Do-it-yourself-Szene heraus, die in Blogs, Foren und Wikis Tipps zur Kultur der Würmer austauscht (Jabr, 2011). Doch eine wesentliche Zutat zum Aufblühen der Selbsthilfeszene fehlt noch: Es gibt kaum zuverlässige Spender, die bereit wären, eier- oder larvenhaltigen Kot zu verschicken.

In Deutschland scheint es keine entsprechende Szene zu geben. Vereinzelt berichten CED-Patienten, bei denen die marktgängigen Medikamente versagt haben, von ihren Versuchen mit Trichuris-suis-Eiern, die von der Firma Ovamed angeboten werden. Selbst im Erfolgsfall übernehmen die Krankenkassen die Kosten (etwa 3500 Euro für 10 Eier-Portionen) bislang nicht. Allerdings führt ein Pharmaunternehmen derzeit eine Phase-III-Studie zur Wirksamkeit und Sicherheit von Trichuris-suis-Gaben bei CED durch, deren Ergebnisse 2012 vorliegen sollen.

Wirksamkeitsnachweise

In den USA werden bereits seit 2005 CED-Patienten versuchsweise mit Trichuris-suis-Eiern behandelt. Fast 80% der Teilnehmer mit Morbus Crohn vermeldeten Besserung; bei Colitis ulcerosa ist der Prozentsatz geringer, aber allemal höher als in den Kontrollgruppen.

Dass Darmparasiten im Darm Reaktionen auslösen, die nebenbei günstig auf benachbarte Entzündungsherde einwirken, klingt einleuchtend. Erstaunlicherweise gibt es aber auch nichtlokale Wirkungen: In einer argentinischen Studie an 12 Multiple-Sklerose-Patienten fielen die neurologischen Schäden bei den mit Würmern behandelten Probanden signifikant geringer aus als in der Kontrollgruppe, und in ihrem Blut wurden mehr entzündungshemmende Zytokine nachgewiesen. Auch in einer Phase-I-Studie an 18 US-amerikanischen MS-Patienten ließen Schweinepeitschenwürmer die entzündlichen Läsionen im Zentralen Nervensystem deutlich zurückgehen.

Einer japanischen Studie zufolge treten bei Menschen, die mit dem Zwergfadenwurm infiziert sind, seltener Autoimmunerkrankungen der Leber auf. Im Tiermodell verhinderte eine frühzeitige Infektion mit Schistosoma den Ausbruch von Typ-1-Diabetes; auch Morbus Basedow konnte bei Mäusen durch Schistosoma-Gaben unterbunden werden.

Immunmodulation

Die Vorfahren unserer Würmer haben vermutlich vor über 500 Mio. Jahren die Knorpelfische besiedelt. Erste Hinweise auf den für die Würmerabwehr wichtigen Th2-Zweig der Immunabwehr finden sich bei Knochenfischen, die vor 450 Mio. Jahren aufkamen. Wahrscheinlich sind T-Helferzellen vom Typ 2 (Th2) und ihre entzündungshemmenden Zytokine evolutionär in Reaktion auf parasitäre Würmer entstanden.

Die zelluläre, von Th1-Zellen dominierte Immunantwort wirkt vor allem gegen körpereigene Zellen, die von Viren befallen wurden, und kann Wurmlarven wenig anhaben. Auf die Dauer würde sie eher dem Wirt schaden; daher klingt sie nach einem Wurmbefall rasch ab. Die Würmer lösen stattdessen eine starke Th2-Reaktion und die Bildung von regulatorischen T-Zellen (Tregs) aus. Th2-Zellen regen beispielsweise die Schleimproduktion und Darmperistaltik an, durch die einige Würmer ausgeschieden und die Schäden, die die übrigen anrichten, minimiert werden. Aber auch eine dauerhafte Th2-Antwort kann zu Leber- und Nierenschäden führen; sie wird daher bei einem Wurmbefall rechtzeitig heruntergeregelt.

Von diesem Ablauf, der sich in Jahrmillionen der gegenseitigen Anpassung eingespielt hat, profitieren beide Seiten: Die Schäden im Wirt werden begrenzt, und die von den ersten eingedrungenen Parasiten ausgelöste Th2-Reaktion hält später kommende Konkurrenten fern. Die Zurückdrängung der Würmer in den Industriestaaten könnte dieses austarierte Gleichgewicht gestört haben: Ohne die Parasiten bewirkt unser Immunsystem u. U. chronische Entzündungen und Abwehrreaktionen auf harmlose Substanzen oder körpereigenes Gewebe. Insofern ist die Idee, das System durch Zufuhr der fehlenden Komponente wieder ins Lot zu bringen, nicht dumm. Allerdings sollten die Risiken sorgfältig gegen die Aussichten abgewogen werden.

Zu Risiken und Nebenwirkungen …

Necator americanus, der „amerikanische Mörder“, konsumiert etwa 0,01-0,03 ml Blut am Tag. 10 bis 25 Larven werden gut vertragen, während 50 oder mehr Larven schwere Verdauungsstörungen und Brechreiz auslösen können. In hohen Dosen ist Necator also schädlich; die Zahl muss anhand von Stuhlproben regelmäßig kontrolliert werden.

Schweinepeitschenwürmer haben gegenüber Hakenwürmern den Vorteil, dass sie nicht durch den gesamten Körper wandern, und im Unterschied zu T. trichuris überlebt T. suis in unserem Darm nur einige Wochen. Dennoch geht ihre Anwendung gelegentlich mit Nebenwirkungen einher, wie eine aktuelle Doppelblindstudie zeigt: Testpersonen, die Wurmeier geschluckt hatten, bekamen öfter Blähungen, Diarrhö oder Bauchschmerzen als Teilnehmer aus der Kontrollgruppe (Bager et al., 2011).

Die Ärztlichen Beiräte der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft und des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose raten von Trichuris-suis-Therapien ab, weil Organschädigungen oder eine abgeschwächte Immunität gegenüber anderen Krankheitserregern nicht auszuschließen seien. Auch könnten u. U. weitere Erreger aus den Schweinen in den menschlichen Körper übertragen werden.

Einiges deutet darauf hin, dass ein Wurmbefall aufgrund der Immunsuppression die Wirksamkeit von Impfungen schwächt. Problematisch sind auch Mehrfachinfektionen; die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Parasitenarten sind noch kaum erforscht und hängen offenbar von der Reihenfolge der Infektionen, dem Entwicklungsstadium der Parasiten sowie dem Alter und der Gesundheit der Wirte ab. Wie bei allen Naturheilmitteln macht die unzureichende Standardisierung die Resultate unberechenbar.

Unkontrollierte Do-it-yourself-Anwendungen bergen weitere Risiken: Negative Resultate werden womöglich weniger sorgfältig dokumentiert als Fälle, in denen die Würmer geholfen haben. Selbst gut informierte Laien dürften Schwierigkeiten haben, eine harmlose Wurmart von einer weniger harmlosen zu unterscheiden; die Empfänger müssen sich auf die Ehrlichkeit und Hygiene der Spender verlassen. Die Versuchung ist groß, die Würmer auch bei weiteren Erkrankungen auszuprobieren, beispielsweise bei Autismus. Bei Kleinkindern und anderen nicht Einwilligungsfähigen stellt sich zudem die ethische Frage, wer entscheiden darf, sie einer experimentellen Therapie zu unterziehen.

Bleibt zu hoffen, dass eine beschleunigte Zulassung von Studien mit lebenden Würmern oder Wurmextrakten zur Entwicklung standardisierter Medikamente führt, die eine Untergrund-Wurmzüchterszene obsolet machen.

Literatur

Bager, P., et al.: Symptoms after Ingestion of Pig Whipworm Trichuris suis Eggs in a Randomized Placebo-Controlled Double-Blind Clinical Trial. PLoS ONE, August 2011, 6(8): e22346; DOI: 10.1371/journal.pone.0022346

Broadhurst, M. J., et al: IL-22+ CD4+ T Cells Are Associated with Therapeutic Trichuris trichiura Infection in an Ulcerative Colitis Patient. Sci Transl Med 2, 60ra88 (2010); DOI: 10.1126/scitranslmed.300150o

Grant, B.: Opening a Can of Worms. The Scientist, Februar 2011, http://the-scientist.com/2011/02/01/opening-a-can-of-worms/

Jabr, F.: Citizen scientists eat worms to treat disorders. New Scientist 2824 (2011), S. 6f.; DOI: 10.1016/S0262-4079(11)61868-X

Pritchard, D.: Can parasites be good for you? The Biochemical Society, August 2009, S. 28ff.

 

[Dieser Text wurde ursprünglich im September 2011 unter anderem Titel bei spektrumdirekt veröffentlicht.]

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