Trotz ergiebiger Autoimmun-Fachlektüre in den letzten Wochen hat die Kraft zum Bloggen nicht gereicht. Kurz vor dem Jahreswechsel möchte ich wenigstens berichten, wie ich das Jahr 2011, mein Sabbatjahr, vorläufig beurteile.
Wie bereits im August in meiner Rezension des Buches „The Autoimmune Epidemic“ von Donna Nakazawa Jackson angedeutet, bin ich 2011 durch die Fachlektüre vor allem zum ökologischen Denken zurückgekehrt, das mich in den 1980ern stark geprägt hat. Die Artikel über Humane Endogene Retroviren (HERVs), das Human Metagenome Project, die Hologenom-Theorie, molekulare Mimikry, die Zusammenhänge zwischen Infektionen und Autoimmunerkrankungen, die Symbiosen von Pflanzen oder Tieren und Mikroorganismen, evolutionär konservierte mikrobielle Antigene usw., die ich in den letzten Wochen gelesen habe, haben mir erneut verdeutlicht, dass wir Entgleisungen der angeborenen und der erworbenen Immunabwehr nur richtig verstehen werden, wenn wir nicht mehr angestrengt auf das Humangenom starren, sondern akzeptieren, dass wir Gemeinschaftswesen sind: Ökosysteme, in denen zahlreiche virale Gene, mikrobielle Genome, Einzeller und auch größere Mitbewohner wie Würmer maßgebliche Rollen spielen (oder spielten).
Um nur eine Beispiel zu nennen, das ich demnächst ausführlicher vorstellen möchte: Die verheerende Autoimmunerkrankung Systemischer Lupus erythemathodes (SLE) trifft vor allem junge amerikanische Frauen mit afrikanischen Vorfahren, viel seltener aber Afrikanerinnen. Diese Diskrepanz ist nur zu einem geringen Teil durch die schlechtere medizinische Versorgung und damit auch schlechtere Diagnostik in Afrika zu erklären. Tatsächlich scheinen Genvarianten, die eine Präsdisposition für SLE vermitteln, zugleich vor Infektionen mit dem Malariaerreger Plasmodium zu schützen. So konnten sich diese potenziell nachteiligen, aber in Gegenwart von Plasmodium vorteiligen Genvarianten in der Bevölkerung der Malaria-Endemiegebiete halten, und umgekehrt sorgten die allgegenwärtigen Erreger dafür, dass das Immunsystem nicht aus dem Lot geriet. Bei der gewaltsamen Verfrachtung afrikanischer Sklaven nach Amerika ging der Vorteil des Schutzes vor den Symbionten verloren: Es war, als hätte beim Jahrtausende währenden Tauziehen zwischen den SLE-Genvarianten und Plasmodium eine der Parteien einfach losgelassen; seither wütet SLE unter der afroamerikanischen Bevölkerung.
Viele weitere Symbiosen, die zu einem großen Teil weniger virulent verliefen als Malaria-Epidemien, haben die Evolution unseres Immunsystems über Jahrzehntausende geprägt. Wenn wir diese artenreichen Lebensgemeinschaften heute durch moderne Hygienemaßnahmen radikal zurückdrängen, dürfen wir uns über aus dem Lot geratene Immunsysteme nicht wundern. Das soll selbstverständlich nicht heißen, dass wir ab sofort keine Seifen, keine Wurmkuren und keine Antibiotika mehr verwenden sollten. Aber wir sollten so viel wie möglich über die Wechselwirkungen zwischen unseren traditionellen „Mitbewohnern“ und dem menschlichen Immun-, Nerven- und Hormonsystem in Erfahrung bringen, um unbeabsichtigte Nebenwirkungen unserer verbesserten modernen Lebensverhältnisse kompensieren zu können.
In den letzten Wochen ist es mir kaum gelungen, die vielen neuen Erkenntnisse aus meiner Lektüre hier im Blog zu vermitteln: Ich bin permanent erschöpft und schaffe kaum das Allernötigste. Ich hoffe, dass das bald anders wird. Falls nicht, wird das Buch wohl später fertig als geplant. So ist das halt im Leben, wenn die Gesundheit nicht mitspielt. Hauptsache, es geht voran – wenn auch in kleinen Schritten!