Pietro Invernizzi, Future directions in genetic for autoimmune diseases. Journal of Autoimmunity, 33/1, 2009, S. 1-2, doi: 10.1016/j.jaut.2009.03.001
Notizen, noch nicht allgemein verständlich aufbereitet
Etwa 5-10% der Allgemeinbevölkerung haben Autoimmunerkrankungen. Viele betroffene Frauen haben einen hohen Anteil peripherer Blutzellen mit nur einem X-Chromosom. Außerdem scheint es bei der Autoimmunität einen X-Chromosom-Dosiseffekt zu geben. Bei den meisten Autoimmunerkrankungen haben betroffene Frauen einen abnormen Estrogen- oder Prolaktin-Stoffwechsel, und die Krankheiten brechen i. A. nach der Pubertät oder vor der Menopause aus.
Was spricht dafür, dass genetische Faktoren die Prädisposition für Autoimmunerkrankungen stark beeinflussen? Erstens kommen in vielen Familien mehrere Autoimmunerkrankungen vor, was auf Gemeinsamkeiten in der Pasthogenese hinweist. Zweitens gibt es entsprechende geoepidemiologische Belege, z. B. unterschiedliche Häufigkeiten in genetisch unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Drittens haben eineiige Zwillinge häufiger dieselbe Autoimmunerkrankung als zweieiige Zwillinge. Viertens gibt es Assoziationen zwischen Autoimmunerkrankungen und genetischen Polymorphismen sowohl bei MHC- als auch bei Nicht-MHC-Genen.
Die meisten Autoimmunerkrankungen sind nicht auf ein einzelnes Gen zurückzuführen.
Das X-Chromosom enthält eine Reihe von geschlechts- und immunsystembezogenen Genen, die die Sexualhormonspiegel festlegen und die Immuntoleranz aufrechterhalten. Veränderte Kopienzahlen oder strukturelle Abnormitäten der X-Chromosomen führen zu genetischen Störungen wie dem Turner-Syndrom (X0), dem Klinefelter-Syndrom (XXY) oder Ovarialinsuffizienz, die oft mit Autoimmunerkrankungen einhergehen. Mutationen in X-gekoppelten Genen verursachen eine Reihe von primären Immundefizienzsyndromen, die ebenfalls oft von Autoimmunerkrankungen begleitet werden. Neben genetischen spielen auch epigenetische Defekte eine Rolle, also erbliche Änderungen der Genexpression.
Zur Zeit wird daher die Hypothese vertreten, dass die Empfänglichkeit für und der hohe Frauenanteil bei Autoimmunerkrankungen mit Dosiseffekten durch die beiden X-Chromosomen zusammenhängen könnte: mit erhöhten Dosen bei Krankheiten wie SLE und verringerten Dosen bei anderen wie PBC, Sklerodermie oder Hashimoto-Thyreoiditis.
Entsprechend ist der Anteil monosomischer Blutzellen bei Frauen mit SLE normal, bei Frauen mit PBC, Sklerodermie und Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse aber signifikant höher, was auf eine Haploinsuffizienz X-gekoppelter Gene hindeutet. Dafür scheinen relative viele Männer mit Klinefelter-Syndrom (also mit einer erhöhten X-Dosis) SLE zu haben, während Frauen mit dem Turner-Syndrom offenbar vor SLE geschützt sind.
Das X-Chromosom hat sehr komplexe epigenetische Eigenheiten. Insbesondere wird in weiblichen Zellen ein Exemplar inaktiviert, um in beiden Geschlechtern dieselbe Dosis der Produkte der X-gekoppelten Gene zu erreichen. Die Inaktivierung läuft i. A. zufällig ab; Frauen sind also funktionelle Mosaiken der X-gekoppelten Gene, in denen bei je etwa 50% der Zellen das X-Chromosom des einen Elternteils aktiv bleibt. Manchmal ist die X-Chromosom-Inaktivierung (XCI) aber nichtzufällig, und die Nichtzufälligkeit/Asymmetrie nimmt oft mit den Jahren zu. Zudem können etwa 15% der X-gekoppelten Gene der Inaktivierung entgehen; bei vielen gesunden Frauen bleiben dauerhaft beide Allele aktiv.
[Der kurze Artikel ist das Editorial der ersten Sonderausgabe des Journal of Autoimmunity, die ausschließlich der Rolle der Geschlechtschromosomen-Defekte bei Autoimmunerkrankungen gewidmet war. In derselben Ausgabe erschien auch ein Review von Invernizzi et al. über X-Chromosomen-Defekte bei Autoimmunerkrankungen, den ich ebenfalls ausgewertet habe.]