X-Chromosomen-Defekte bei Autoimmunerkrankungen

Bei der X-Chromosom-Inaktivierung treten manchmal Fehler auf.

Pietro Invernizzi et al.: Female predominance and X chromosome defects in autoimmune diseases. Journal of Autoimmunity 33/1, 2009, S. 12-16, doi:10.1016/j.jaut.2009.03.005

Notizen, noch nicht allgemein verständlich aufbereitet

Abstract

Der Empfänglichkeit für alle möglichen Autoimmunerkrankungen könnten Veränderungen der Geschlechtschromosomen zugrunde liegen.

1. Epidemiologie der Autoimmunerkrankungen

Schätzungsweise 5% der US-Bevölkerung haben mindestens eine Autoimmunerkrankung. Meist trifft es Frauen.

Frauenanteil > 90%: Hashimoto-Thyroiditis/Hypothyreose, Sjögren-Syndrom; > 80%: Systemischer Lupus erythematodes, primär biliäre Zirrhose, Morbus Basedow/Hyperthyreose, Sklerodermie/systemische Sklerose, Nebennierenrindeninsuffizienz/Morbus Addison; > 70%: rheumatoide Arthritis; > 60%: Myasthenia gravis, Multiple Sklerose, perniziöse Anämie.  

Tiermodelle haben Unterschiede in den Immunantworten der beiden Geschlechter offengelegt. Lymphozyten aus Mäuseweibchen, die kein Testosteron herstellen können, reagieren stärker auf Alloantigene als Lymphozyten aus Männchen. Bei Frauen werden viele Autoimmunerkrankungen während der Schwangerschaft schwächer. Neben Sexualhormonen könnte auch der fetale Mikrochimerismus (FMC) eine Rolle spielen: In den Körpern von Müttern werden oft noch lange nach der Geburt „ausgewanderte“ Zellen der Feten nachgewiesen, die zu Autoimmunität führen könnten. Diese Hypothese ist aber umstritten.

2. Einflüsse von MHC- und Nicht-MHC-Genen

Bei den meisten Autoimmunerkrankungen sind MHC-Allele mit der Empfänglichkeit assoziiert. Die Mechanismen sind noch unklar. Vermutlich beeinflussen bestimmte MHC-Allele die Immugenität. MHC-Polymorphismen können das Repertoire der T-Zellen und damit Prädispositionen beeinflussen.

Alle genetischen Faktoren, die die normale Immunabwehr beeinflussen, stehen potenziell unter Verdacht, auch bei Autoimmunerkrankungen eine Rolle zu spielen – darunter die Gene für die Antigen-Aufbereitung und -Präsentation, für die Lymphozyten-Vermehrung und -Differenzierung, für Immunglobuline, die T-Zell-Rezeptoren und die Moleküle der Immundestruktion.

3. Rolle der Sexualhormone

Bei Menschen gibt es einen Geschlechtsdimorphismus in der Immunabwehr: Frauen haben stärkere zelluläre und humorale Immunreaktionen als Männer, die sie besser gegen bestimmte Infektionen schützen, aber als Nebenwirkung das Autoimmunitätsrisiko erhöhen. Estrogene verstärken die humorale Immunität, Androgene und Progesterone wirken oft als Immunsuppressoren. Die Belege sind allerdings nicht eindeutig.

4. Mikrochimerismus

Bei einer Schwangerschaft dringt gelegentlich eine kleine Zahl fetaler Zellen in den mütterlichen Blutkreislauf ein; von dort aus können sie alle möglichen Gewebe infiltrieren und sich Jahrzehnte lang halten. Bei Frauen, die unter Sklerodermie litten, hat man einen erhöhten Gehalt an männlicher DNA (aus ihren Söhnen) gefunden. Auch in der Schilddrüse von Patientinnen mit verschiedenen Schilddrüsenerkrankungen wie Morbus Basedow wurde fetales Gewebe nachgewiesen. Bei primär biliärer Zirrhose (PBC) scheinen fetale Zellen hingegen keine Rolle zu spielen.

Auch einen maternalen Mikrochimerismus gibt es, also das Eindringen mütterlicher Zellen in den Fetus. Diese Zellen können während der gesamten Kindheit überleben und sind folglich noch in Erwachsenen nachweisbar. Bei neonatalem Lupus erythematodes könnten mütterliche Zellen entweder zum Ziel der fetalen Immunabtwort werden oder aber an der Gewebereparatur beteiligt sein.

Alles in allem hat die Vielzahl negativer Studienergebnisse das Interesse an Mikrochimerismus als möglicher Mitursache von Autoimmunerkrankungen jedoch etwas erschlaffen lassen.

5. Geschlechtschromosomen

Das X-Chromosom umfasst 155 Mio. Basenpaare und enthält etwa 1000 Gene. In den Zellen von Frauen wird eines der beiden X-Chromosomen inaktiviert; der kompakte Heterochromatinkörper im Zellkern wird als Barr-Körperchen bezeichnet. Die X-Chromosom-Inaktivierung (XCI) ist während des gesamten Lebens der jeweiligen Zelle und ihrer Nachkommen irreversibel.

Das X-Inaktivierungszentrum (XIC), das die mehrstufige Inaktivierung steuert, besteht aus mehreren nichtcodierenden DNA-Elementen und Genen (Xist, Tsix, Bindestellen für regulatorische Proteine usw.). Manche Gene in pseudoautosomalen Regionen des X-Chromosoms haben Entsprechungen auf dem Y-Chromosom und dürfen daher nicht mit inaktiviert werden, damit sie bei Männern und Frauen in derselben Dosis transkribiert werden können. Dieser Mechanismus könnte die Defekte von Menschen mit einer abnormen Zahl von X-Chromosomen (X0 und XXY) erklären.

6. X-Chromosom und Immunsystem

Die sog. primären Immundefizienzsyndrome (PID) sind monogenetische Störungen; bei ihnen kann ein einzelnes Gen für die oft mit ihnen verbundene Prädisposition für Autoimmunerkrankungen verantwortlich gemacht werden. Das immune dysregulation, polyendocrinopathy, enteropathy, x-linked syndrome (IPEX) kommt durch verschiedene Mutationen im Gen des Transkriptionsfaktors fork head box P3 (FoxP3) im Genlokus Xp11.23 zustande und geht zu beinahe 100% mit Autoimmunität einher.

Zu Autoimmunstörungen kommt es auch bei 20-80% aller Fälle des Hyper-IgM-Syndroms, das auf einen Defekt des CD40-Liganden (CD40LG) zurückgeht, eines Gens in der Region Xq26. (Unerklärliche Erhöhungen des IgM sind auch für PBC typisch, wenn auch wahrscheinlich in Zusammenhang mit den B-Gedächtniszellen.)

Eine dritte PID, das Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS), ist eine rezessive X-gekoppelte Erbkrankheit, die durch Mutationen im WAS-Gen zustande kommt und bei bis zu 40% der Betroffenen zu Störungen des Immunsystems führt. Das WAS-Protein ist ein Zytoplasma-Protein, das ausschließlich in blutbildenden Zellen exprimiert wird und bei WAS-Patienten zu Signal- und Zytoskelettstörungen führt. Sein Gen liegt am Lokus XP11.22-p11.23.

Die X-gekoppelte rezessive PID XL-EDA-ID geht zu 20% mit Autoimmunerkrankungen einher und ist eine Entwicklungsstörung durch Mutationen im NEMO-Gen (nuclear factor-kappaB essential modulator). Die ebenfalls x-gekoppelte rezessive PID XSCID wird durch Mutationen der Interleukin-2-Rezeptor-Gamma-Kette verursacht, einer wichtigen Signalkomponente vieler Interleukin-Rezeptoren. Das Gen liegt am Lokus Xq13.1.

Kürzlich wurde ein Zusammenhang zwischen dem Gen für das Methyl-CpG-bindende Protein 2 (MECP2) in der Region Xq28 und SLE entdeckt. Das Peptid reguliert die epigenetische Transkription methylierungssensitiver Gene.

7. X-Chromosom-Inaktivierung und Autoimmunerkrankungen

Normalerweise entscheidet der Zufall, welches der beiden X-Chromosomen in weiblichen Zellen inaktiviert wird: In etwa 50% der Körperzellen ist es das von der Mutter geerbte, in der anderen Hälfte das vom Vater geerbte Chromosom. Abweichungen von diesem Zufallsprinzip sind nicht immer pathogen: Wenn eines der beiden X-Chromosomen Deletionen oder andere Defekte aufweist, wird es bevorzugt stillgelegt. Deshalb kommen manche X-gekoppelte Krankheiten auch bei Frauen zum Ausbruch.

Asymmetrien in der Inaktivierung nehmen mit dem Alter zu, vielleicht, weil einer der elterlichen Genotypen einen biologischen Vorteil mit sich bringt. [Wie passt das zu der Aussage, eine Inaktivierung sei während des gesamten Lebens der jeweiligen Zelle und ihrer Nachkommen irreversibel? Überleben Zellen mit dem vorteilhaften elterlichen Genotyp eher als Zellen, bei denen das „bessere“ X-Chromosom stillgelegt wurde?] Über 10% aller gesunden Frauen über 50 haben ein signifikant asymmtrisches Inaktivierungsprofil. Eine extreme Asymmetrie führt allerdings zur Hemizygotie der X-gekoppelten Allele, kann daher X-gekoppelte Mutationen oder Polymorphismen entweder maskieren oder demaskieren und dadurch die Empfindlichkeit für Krankheiten beeinflussen.

In mehreren Studien konnte keinerlei Zusammenhang zwischen XCI und verschiedenen Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes, MS oder SLE nachgewiesen werden. Bei SLE ist allerdings die DNA-Methylierung gestört; es könnte sein, dass Gencluster, die mit der SLE-Prädisposition in Verbindung stehen, auf dem X-Chromosom liegen und die Demethylierung dieser Gene auf dem inaktiven X-Chromosom die höhere Empfindlichkeit von Frauen für diese Krankheit erklärt. Bei Frauen mit SLE ist beispielsweise CD40LG, ein auf dem X-Chromosom codiertes B-Zellen-Kostimulationsmolekül, in B- und T-Zellen überexprimiert und sein Gen zugleich untermethyliert.

Die Autoren konnten keinen Zusammenhang zwischen XCI-Asymmetrien und primär biliärer Zirrhose (PBC) feststellen. Bei Sklerodermie und Schilddrüsen-Autoimmunerkrankungen scheint es dagegen wohl einen Zusammenhang mit einer extrem asymmetrischen XCI zu geben; bei 8 von 10 Patientinnen mit Sklerodermie war z. B. ganz überwiegend das mütterliche X-Chromosom inaktiviert. Auch bei Frauen mit dem Sjögren-Syndrom, das häufig zusammen mit PBC oder SLE auftritt, war die XCI häufig asymmetrisch.

8. X-Chromosom-Monosomie

Sowohl Frauen mit organspezifischen Autoimmunerkrankungen wie PBC oder Thyreoiditis als auch Patientinnen mit systemischen Erkrankungen (allerdings außer SLE) haben in ihren peripheren mononukleären Blutzellen (PBMCs) eine erhöhte X-Monosomie-Häufigkeit. Diese Monosomie könnte zur Haploinsuffizienz jener X-gekoppelter Gene führen, die normalerweise nicht inaktiviert werden, weil beide Allele gebraucht werden. Folglich könnten autoreaktive T-Zellen nicht mehr von Selbstantigenen tolerant gemacht werden, die von einem der beiden X-Chromosomen codiert werden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass X-gekoppelte Gene nötig sind, damit das Immunsystem im Gleichgewicht bleibt; ihre Dysregulierung könnte B- oder T-Zellen direkt beeinflussen. Ergänzend könnten Gene auf dem Y-Chromosom vor Autoimmunerkrankungen schützen.

Monosomie oder größere Defekte auf dem X-Chromosom wie Deletionen sind charakteristisch für das Turner-Syndrom und Ovarialinsuffizienz, zwei Störungen, die oft mit Autoimmunerkrankungen einhergehen. Eine fortschreitende Haploinsuffizienz für bestimmte X-gekoppelte Gene in peripheren Lymphozyten könnte ein weit verbreitetes Merkmal der Immunseneszenz (Veränderung des Immunsystems im Alter) sein. Möglich ist auch, dass ein bestimmter X-gekoppelter Haplotyp, der durch die erworbene Hemizygotie des X-Chromosoms zutage tritt, bei Individuen mit entsprechender Prädisposition Autoimmunerkrankungen auslöst.

Bei einer Analyse des peripheren Bluts von 166 PBC-Fällen konnten die Autoren zwar nachweisen, dass sehr häufig  ein X-Chromsom verloren gegangen war, aber die elterliche Herkunft des verbleibenden X-Chromosoms konnten sie nicht bestimmen, da die Eltern der bei der Diagnose i. A. schon recht alten Patientinnen meist nicht mehr lebten. Sinnvoll wäre in ihren Augen ein systematisches Screening spezifischer X-gekoppelter Haplotypen von Genen, die der XCI entgehen können.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.