Bevor die Tab-Leiste des Browsers explodiert und meine Bookmarks wegen Nichtbeachtung Harakiri begehen, notiere ich hier in aller Eile ein paar Stichworte zu aktueller (na ja, fast aktueller) Mikrobiom-Literatur.
Und damit die Männerquote bei den Wissenschaftler-Porträts im Buch nicht weiter bei traurigen 100 Prozent liegt, habe ich Lynn Margulis in die Galerie aufgenommen – jene 2011 verstorbene US-amerikanische Biologin, die für symbiotische Organismen (also z. B. Mensch + Mikrobiom) den Begriff „Holobionten“ geprägt hat.
Ruth Williams (2014): Repurposed Retroviruses: Die T-Zell-unabhängige Aktivierung von B-Zellen durch Polysaccharid-Antigene geht bei Mäusen offenbar mit einer Transkription zahlreicher DNA-Sequenzen aus endogenen Retroviren (ERVs) einher, und die dabei entstehende RNA wird zum Teil vom Enzym Reverse Transkriptase in DNA-Stränge rückübersetzt. Das ist vermutlich keine funktionslose oder gar schädliche Nebenwirkung, sondern Teil des B-Zell-Aktivierungsmechanismus.
Kate Yandell (2015): Commensal Defense: Bacteroidetes in unserer Darmflora entgehen der Vernichtung durch antimikrobielle Peptide, mit denen unser Organismus Pathogene im Verdauungstrakt vernichtet, durch ein Enzym, das die Lipopolysaccharide (LPS) in ihrer Membran verändert. Diese im Resistenzgen IpxF codierte Phosphatase knipst negativ geladene Phosphatgruppen von den LPS ab, wodurch die positiv geladenen antimikrobiellen Peptide schlechter an unsere Symbionten binden als an die Pathogene.
Andrea Grignolio et al. (2014): Towards a liquid self: how time, geography, and life experiences reshape the biological identity: Theorie-Artikel über ein neues, „verflüssigtes“ Immunsystem-Konzept, unter anderem mit einem Abschnitt zum Mikrobiom. Darin nichts Neues: der Mensch als Superorganismus mit einem Metagenom; Einteilung der Mikroorganismen in Pathogene, Probiotika und Kommensalen (wobei das keine „natürlichen“ Kategorien sind und die Einteilung stets nur den derzeitigen Kenntnisstand abbildet); Wechselwirkungen mit dem Immunsystem, z. B. Inhibition von Pathogenen durch konkurrierende Probiotika, Stärkung der Epithelbarriere, Beeinflussung der Zytokin-Expression; „Fernwirkung“ der Darmflora, z. B. im ZNS (etwa bei MS); Einfluss von Kost und Mikrobiom auf die Immunsystemreifung; Veränderungen im alternden Mikrobiom (weniger Butyrat-Produzenten, mehr Enterobakterien, zugleich mehr proinflammatorische Signale – unklar, was Ursache und was Folge) …
What’s in My Gut? An Access Conversation with Dr. Les Dethlefsen: Interview mit einem Autor der Studie „Dynamics of the Human Microbiota„, in der untersucht wird, wie das Mikrobiom verschiedener Menschen auf drei Typen von Störungen reagiert: Ernährungsumstellung, Darmreinigung und Antibiotika. Leider noch zu früh für Ergebnisse.
Anna Azvolinsky (2105): Gut Microbes Influence Circadian Clock: Bericht über eine in Cell veröffentlichte Studie, der zufolge die Darmflora bei Mäusen mit Stoffwechselprodukten die circadiane Expression von Genen in der Mäuseleber beeinflusst – so, wie umgekehrt die innere Uhr (z. B. über die Zeit der Nahrungsaufnahme) die Zusammensetzung der Darmflora beeinflusst. Eine sehr fettreiche Ernährung von Labormäusen stört die Zusammensetzung des Mikrobioms und die Genexpressionsrhythmik in der Leber, was zu starkem Übergewicht der Tiere führt. Keimfrei aufgezogene Mäuse werden bei derselben Kost nicht so dick, und die circadiane Rhythmik der Genexpression in ihrer Leber ist nicht gestört. Offenbar erstreckt sich die Uhr-Störung durch die Dysbiose auch auf das zentrale Nervensystem. Das entscheidende Stoffwechselprodukt der probiotischen Bakterien ist die kurzkettige Fettsäure Butyrat. Bei sehr fettreicher Kost bricht die circadiane Rhythmik der Butyrat-Herstellung zusammen; dafür beginnt die Schwefelwasserstoff-Produktion im Tagesrhythmus zu schwanken.
Boer Deng (2015): Darmflora der Extreme entdeckt und J. C. Clemente et al. (2015): The microbiome of uncontacted Amerindians: Yanomami, die bis vor kurzem völlig isoliert lebten, haben ein genetisch und funktionell reichhaltigeres Mikrobiom als alle anderen bislang untersuchten Menschen: In ihren Proben (Stuhlproben, Haut- und Schleimhautabstrichen) sind etwa doppelt so viele mikrobielle Gene nachweisbar wie bei durchschnittlichen US-Amerikanern. Die Unterschiede zwischen den individuellen Mikrobiomen in der Gruppe waren dagegen kleiner als in anderen Gruppen. Man fand auch Gene, die Bakterien gegen natürliche und synthetische Antibiotika resistent machen – obwohl die Gruppe vermutlich seit Jahrtausenden genetisch isoliert ist. Evtl. wandern Darmbakterien schneller als Menschen, oder die Belastung von Böden und Handelsgütern mit Antibiotika hat die Herausbildung von Resistenzen gefördert.
Kerry Grens (2015): Maturation of the Infant Microbiome: Bericht über eine Untersuchung der Mikrobiom-Reifung während des ersten Lebensjahrs von 98 schwedischen Babies. Gestillte Babies behalten länger ein „junges“ Mikrobiom als solche, die mit der Flasche ernährt werden – und zwar auch noch, nachdem feste Kost eingeführt wird. Es ist also weniger die neue Nahrung, die die Mikrobiom-Zusammensetzung verändert, als vielmehr der Wegfall der Muttermilch. Die Studie bestätigte auch, dass das Mikrobiom von Kindern, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, anfangs stärker durch das mütterliche Haut- und Mund-Mikrobiom geprägt ist, während im Mikrobiom von vaginal geborenen Kindern mehr Arten aus dem Stuhl der Mutter vorkommen. Während anfangs im Mikrobiom viele Gene vorkommen, deren Produkte für den Abbau von Zuckern aus Muttermilch zuständig sind, treten Gene, deren Produkte Stärke, Pektine und komplexere Zucker abbauen können, erst nach dem Abstillen in den Vordergrund – auch wenn schon vorher entsprechende Kost beigefüttert wird.