Gestern und heute habe ich wieder zahllose Browser-Tabs gesichtet und geschlossen, neue Tabs geöffnet, PDFs heruntergeladen, Artikel ausgedruckt, andere nicht ausgedruckt, aber abgespeichert, die neue Literatur in Kurznotation in meine Scrivener-Datei für Band 2 eingetragen, einen zum Bersten vollen Aktenordner auf zwei verteilt und einen der Ordner alphabetisch durchsortiert.
Dabei habe ich über meine Recherche-„Methode“ nachgedacht, die im größtmöglichen Kontrast zu den systematischen Literatursuchen steht, wie sie in dem Institut praktiziert werden, in dessen Kommunikationsressort ich arbeite. Das ist in Ordnung so, denn ich schreibe Sachbücher und keine wissenschaftlichen Gutachten oder Metaanalysen. Kostenpflichtige, nicht allgemein zugängliche Datenbanken spielen bei mir keine Rolle. Ich besorge mir vor allem Open-Access-Literatur und Artikel, die jemand ungeschickter- oder frecherweise in einem frei zugänglichen Repository abgelegt hat, obwohl sie nicht frei zugänglich sein sollten – ergänzt um die eine oder andere Arbeit, die mir nette Menschen hinter der jeweiligen Bezahlschranke hervorzaubern. An Schattenbibliotheken wie Sci-Hub traue ich mich nicht heran. Mein wichtigstes Recherche-Tool ist tatsächlich Google, und zwar meist sowohl Google Scholar als auch die allgemeine Suche, denn die beiden ergänzen sich prächtig.
Meine Suchvorgänge sind kreative Prozesse, bei denen die Zahl der geöffneten Suchfenster und Fundstellen-Tabs an- und wieder abschwillt, manchmal im Minuten- oder Stundentakt, manchmal über Tage und Wochen hinweg. Diese Recherchen kommen mir oft vor wie lebende Wesen, die pulsieren und atmen, die ihre Pseudopodien in alle möglichen Richtungen und Winkel ausstrecken und dann wieder einziehen, die Jahresringe bilden, die ab und zu Äste absterben lassen und neue Triebe bilden … Sie erinnern mich an Dictyostelium discoideum, jene soziale Amöbe, die sich durch totes Laub und Humus vorantastet und die auch Labyrinthe durchwandern kann.
Ob mich eine Arbeit so weit interessiert, dass ich mir den Volltext besorge und sie abspeichere, hängt nicht vom Impact Factor der Fachzeitschrift ab, in der sie publiziert wurde. In meinen Dateiordnern und Aktenordnern liegen durchaus einige Artikel aus den Frontiers-Journals, die keinen guten Ruf genießen, und ein paar Arbeiten aus stark bullshit-kontaminierten Feldern wie den Ernährungswissenschaften (mit freundlicher Unterstützung von Danone & Co.). Ausschlusskriterien sind eher eine völlig krude Schreibe (oft von Asiaten), die es unmöglich macht, die Aussagen nachzuvollziehen, oder ein hoher „Laberfaktor“. Bei einigen sehr renommierten Autoren winke ich inzwischen ab, weil sie ihre Namen offenbar auf alles schreiben, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, und alle paar Monate eine neue Sau durchs Dorf treiben.
Reviews sind mir willkommen, aber es müssen keine systematischen Reviews sein, und ich lese auch viele Einzelstudien. Hoch erfreut reagiere ich auf aussagekräftige grafische Abstracts und überhaupt auf gute Grafiken, die mir Ideen für meine Strichzeichnungen liefern. Die Arbeiten sollten möglichst nicht älter als drei, vier Jahre sein – es sei denn, ich bin durch eine Rückwärtssuche zur „Mutter aller Probleme“ vorgedrungen, zu einer älteren Arbeit, in der etwa ein heute noch relevantes Konzept vorgestellt wurde. Da ich mittlerweile sieben Jahre an meinem Projekt sitze, ist ein erheblicher Teil meiner Funde schon wieder überholt: Die Immunologie und die Mikrobiom-Forschung sind hochdynamische Forschungsfelder. Deshalb kann ich mich auch nicht auf die Lektüre und allgemein verständliche Zusammenfassung von Fach- und Lehrbüchern beschränken: Die Bücher, die ich bräuchte, gibt es nicht. Darum schreibe ich sie ja.