Dieses Buch habe ich Ende 2009/Anfang 2010 für Spektrum Akademischer Verlag aus dem Englischen übersetzt. Es hat in meinen Augen große Schwächen, die kürzlich in einer Rezension für die Zeitschrift GEHIRN&GEIST von der Biochemikerin Christiane Jost gut auf den Punkt gebracht wurden.
Dennoch bin ich dem Autor irgendwie zu Dank verpflichtet, denn wenn ich nicht just Anfang 2010, als die ersten verwirrenden und scheinbar unzusammenhängenden Symptome meiner Hashimoto-Thyreoiditis auftraten, das Kapitel über die Autoimmunkrankheiten übersetzt hätte, wäre ich sicher nicht so schnell darauf gekommen, was mit mir nicht stimmte: Wahrscheinlich hätte ich heute noch nicht die richtige Diagnose. Eine Mischung aus Glück und Verstand – und biologischem Vorwissen.
Bald kam mir der Gedanke, dass das hochinteressante Thema „humane endogene Retroviren und Autoimmunerkrankungen“, das Ryan in seinem überfrachteten Buch unter anderem anreißt, eigentlich ein eigenes, besser illustriertes, umfassender recherchiertes und klarer strukturiertes Buch verdient. Das war die Initialzündung zu „Friendly Fire“.
Es folgen meine Notizen zu Kapitel 5, noch nicht allgemeinverständlich aufbereitet. Die Notizen zu den Kapiteln 6-8 (endogene Retroviren als Geburtshelfer der Menschen, als Krankheitserreger und als Beteiligte an Autoimmunerkrankungen) reiche ich in den nächsten Tagen nach.
5. Das Paradoxon des Humangenoms
Nur etwa 1,5 % unseres Genoms sind wirbeltierspezifisch, während allein die sogenannten humanen endogenen Retroviren 9 % einnehmen. (Retroviren sind Viren, deren Erbgut aus RNA besteht, sodass es in den Wirtszellen zunächst von dem Enzym reverse Transkriptase in DNA umgeschrieben werden muss, bevor es sich in das Genom der Wirtszelle integrieren kann. Endogen heißt, dass diese Viren sich mittlerweile dauerhaft in unser Genom integriert haben.)
Darüber hinaus stellen sogenannte LINEs (long interspersed nuclear elements) und SINEs (short interspersed nuclear elements), die vermutlich aus Viren hervorgegangen sind, 21 % respektive 13 % des Humangenoms. LINEs sind 6000-8000 Basenpaare lang und enthalten pol-Sequenzen, die die reverse Transkriptase codieren, während die 100-400 Basenpaare kurzen SINEs unvollständige env-Sequenzen enthalten. Zu den SINEs zählen die etwa 300 Basenpaare langen sogenannten Alu-Sequenzen, von denen es im Humangenom ungefähr 1,2 Millionen Exemplare gibt.
Insgesamt stammen wohl mindestens 43 % des Humangenoms von Viren ab. Bei 52,5 % der Sequenzen sind Funktion und Herkunft noch unbekannt.
André Lwoff hat 1949 den Ausdruck „Prophage“ für die in das Bakteriengenom integrierten Phagen-Gene geprägt. (Phagen oder Bakteriophagen sind Viren, die Bakterien infizieren.) Entsprechend nannte Howard Temin die in DNA umgeschriebenen und in ein Wirbeltier-Genom integrierten Gene eines Retrovirus „Provirus“. Lwoff und Temin glaubten, die Viren seien ursprünglich aus Elementen ihrer Wirtsgenome entstanden.
Die normale Umwelt eines Virus ist das Wirtsgenom und seine Umgebung: Chromosomen, Translationskomplex und genetischer Steuerungsapparat.
Ständig fusionieren Virengenome mit unterschiedlichen Genomen aller möglicher Lebensformen. Die meisten dieser Fusionen spielen sich außerhalb der Keimbahn (Abfolge der Ei- und Samenzellen) ab, vererben sich daher nicht und haben keine direkten Auswirkungen auf die Evolution.
Retroviren können jedoch in die Keimbahn eindringen und werden dann erblich. Durch diese sogenannte Endogenisierung wird aus einem infektiösen, horizontal übertragenen, exogenen Retrovirus ein vertikal übertragenes endogenes Retrovirus. Durch die dynamische Wechselwirkung des Viren- und des Wirtsgenoms entsteht ein neues, holobiontisches Genom.
Wirtswechsel: Oft springt ein Virus von einem Nagetier auf ein anderes Säugetier über. Auch die Viren, die bei Koalas Leukämie auslösen, sind eng mit der Gattung der murinen Leukämie-Retroviren verwandt. Weitere nahe Verwandte finden sich in den Genomen von vier Landwirbeltierklassen: Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren. Die Infektion liegt in den meisten Fällen so weit zurück, dass die ehemaligen Virengene gut ins Wirtsgenom integriert sind. In mindestens zwei Fällen kam es aber in jüngerer Zeit zu einem Klassen- bzw. Unterklassenwechsel: einmal von einem Vogel auf den Ameisenbär (einen Ursäuger), einmal vom Gibbon (Virus: GaLV) auf den Koala. Die Unterschiede zwischen verschiedenen GaLV-Stämmen sind ebenso groß wie zwischen GaLV und dem Koala-Leukämievirus. Bei den betroffenen Koalas sind die Virengene zudem an ganz verschiedenen Stellen und in unterschiedlicher Stückzahl ins Genom insertiert, was – ebenso wie das noch sehr aggressive Verhalten des Virus in den Koalas – darauf hindeutet, dass der Wirtswechsel erst kürzlich stattfand.
Die Koala-Retrovirus-Epidemie zeigt, wie schnell aus einer sexuell übertragenen Seuche eine Symbiose wird. Dieses Tempo deutet für Ryan darauf hin, dass die Fähigkeit zur Endogenisierung eine Anpassungsleistung des Virus ist.
Nicht nur Retrovieren gehen Symbiosen ein. 2007 wurde eine Lentiviren-Endogenisierung beim Wildkaninchen nachgewiesen, 2008 wurde ein Fall bei einem Primaten bekannt: beim Grauen Mausmaki aus Madagaskar.
Der Virusforscher Luis Villarreal hat untersucht, wie Viren die Evolution ihrer Wirte beeinflussen. Darin sieht Ryan den Schlüssel zu der Frage, wieso das Humangenom so viel virales Material enthält.
Villarreal widerspricht der Ansicht vieler Kollegen, denen zufolge Viren erst entstanden sein könnten, als es schon Zellen gab, da sie obligate Zellparasiten sind. Ihm zufolge können Viren auf jedem Replikatorsystem parasitieren, selbst auf anderen Viren. Ja, jeder Replikator lockt geradezu zwangsläufig Parasiten an. Schon in der präbiotischen Welt dürfte das so gewesen sein. Die meisten Sequenzen in viralen Genomen kommen sonst nirgends vor, dürften also nicht aus Bakterien, Pflanzen oder Tieren stammen.
Der herkömmliche Fitnessbegriff ist auf Viren, die in die Keimbahn ihres Wirts eingedrungen sind, nicht anwendbar, denn wie misst man das Replikationsvermögen von etwas, das durch die Endogenisierung quasi unsterblich geworden ist?
In das menschliche bzw. vormenschliche Genom sind 200 unterschiedliche Virengruppen eingedrungen. Sie sind nun Teil eines neuen, holobiontischen Organismus. Durch die Vereinigung mit viralen Genomen, die an die Manipulation von Wirbeltiergenomen vorangepasst waren, hat unser Genom ein immenses Innovationspotenzial gewonnen.
Innerhalb des Genoms gibt es weder Antikörper noch Immunzellen, die die virale Replikation behindern könnten, sondern nur genetische und epigenetische Mechanismen, die die Vermehrung des viralen Materials beeinflussen.
Wir haben es mit einem Artbildungsmechanismus zu tun, der nicht zum Verzweigungsmodell der Modernen Synthese passt (Stammbaum, Aufspaltung von Arten), sondern auch das Verschmelzen separater Genome umfasst.
Villarreal zufolge sind Retroviren ursprünglich als Parasiten mariner Wirbelloser entstanden. Bei jedem größeren Schritt auf dem Weg zum Menschen, z. B. der Entstehung der Wirbeltiere, hat sich die Zahl der Retrovirenstämme explosionsartig vervielfacht. Die natürliche Selektion hat aus den Gensequenzen der endogenisierte Viren die Vorläufer der heutigen LINEs und SINEs erschaffen.
Exkurs Mitochondrien: Diese „Kraftwerke der Zellen“ sind der Endosymbionten-Theorie zufolge aus Sauerstoff atmenden Bakterien hervorgegangen, die vor über einer Milliarde Jahren in Einzeller eingedrungen sind. Die Sequenzierung ihres Restgenoms zeigte, dass ihr nächster lebender Verwandte der Fleckfieber-Erreger Rickettsia prowazekii ist. Eine Milliarde Jahre holobiontische Koevolution haben dazu geführt, dass ungefähr 300 Gene aus den ehemaligen Bakterien in den Zellkern übertragen und viele weitere Gene über Bord geworfen wurden. Einige Gene verblieben in den Mitochondrien. Ähnlich radikale Genom-Umbauten dürfte es auch nach jeder Retroviren-Endogenisierung gegeben haben.
Das Genom eines typischen Retrovirus ist beiderseits durch sog. LTRs (long terminal repeats) begrenzt, die keine Gene, sondern Steuerungssequenzen sind. Die Virengene befinden sich dazwischen, in drei Funktionseinheiten: gag, pol und env. Die gag-Gene codieren Proteine aus dem Inneren des Virus. Die pol-Gene sind für die reverse Transkriptase und einige weitere wichtige Enzyme wie die Integrase zuständig, die die Virussequenz in die DNA des Wirtes integriert. Die env-Gene codieren die Hüllenproteine des Virus.
Wie etabliert sich ein Retrovirus im Wirtsgenom? Wenn das Virus sexuell übertragen wird, löscht die Seuche zunächst große Teile der Wirtspopulation aus, denn anfangs ist das Virus noch sehr aggressiv, sodass nahezu jedes virusfreie Tier, das sich mit einem Nachfahren eines Überlebenden paart, stirbt. Währenddessen vermehren sich die viralen Elemente und integrieren sich an weiteren Stellen in das Wirtsgenom, sodass im neuen holobiontischen Organismus zahlreiche vorangepasste Gene und Steuerungssequenzen als evolutionäre Spielmasse zur Verfügung stehen. Das hatte gravierende Auswirkungen auf die Menschwerdung und beeinflusst heute unsere Gesundheit, wie in den Kapiteln 6-8 ausgeführt wird.