Im Rahmen meiner Hintergrundlektüre und „Konkurrenzproduktanalyse“ habe ich mir vor einigen Wochen dieses Sachbuch der amerikanischen Journalistin Donna Jackson Nakazawa angeschafft (Touchstone, 2008, 328 Sn., € 18,20). Der etwas reißerische Untertitel „Bodies gone haywire in a world out of balance – and the cutting-edge science that promises hope“ ließ Schlimmes befürchten, aber das Buch hat mich trotz einiger Schwächen positiv überrascht. Ich habe viel daraus gelernt, und etwas widerwillig räume ich ein, dass es sogar zu einer Veränderung meiner Einschätzung der industriellen Entwicklung und meiner politischen Überzeugungen beiträgt. Kurz gesagt: Widerstrebend kehre ich gerade zu einigen „grünen“, zivilisationskritischen Ansichten zurück, von denen ich mich in den letzten 20 Jahren zugunsten einer optimistischeren, fortschrittszugewandteren Einstellung verabschiedet hatte. Das Kranksein bestimmt das Bewusstsein.
Von der biologischen Seite der Medizin, vom Aufbau und Wirken des Immunsystems versteht Nakazawa nicht viel. Das ist einerseits gut, denn so hat sie nicht das Buch schreiben können, das ich schreiben möchte. Andererseits führt das zu Fehlern, die biologische oder medizinische Laien womöglich nicht bemerken. So bezeichnet die Autorin Antikörper – die von den Lymphozyten produzierten Immunglobuline, also Proteine – mehrmals als „fighter cells“.
Irritierend auch die apodiktische Aussage des Neurologen und Neurowissenschaftlers Douglas Kerr vom Johns Hopkins Hospital im Vorwort zum Buch: Der deutliche Anstieg der Prävalenzen für Autoimmunerkrankungen wie Lupus, MS oder Typ-1-Diabetes in den letzten Jahrzehnten sei nicht durch Verbesserungen in der Früherkennung oder veränderte Diagnosekriterien zu erklären. Nakazawa selbst ist vorsichtiger und sagt: „nicht ausschließlich„.
Die Autorin hat selbst mehrere Autoimmunerkrankungen, „wie 23,5 Millionen weitere Amerikaner“, und sie hat schwere gesundheitliche Krisen sowie die bei Autoimmunerkrankungen fast schon obligatorische Ärzte-Odyssee hinter sich. Neben ihrem eigenen Fall schildert sie etliche andere Schicksale auf typisch amerikanische Weise, was mich aber weniger gestört hat als befürchtet, denn sie findet stets vom Einzelfall zu allgemeinen Aussagen zurück. Zahlreiche Endnoten machen Aussagen, die einem seltsam oder zu pauschal vorkommen, überprüfbar.
Obwohl Nakazawa mit Verve die Auffassung vertritt, industriell erzeugte, dem Immunsystem nicht vertraute Substanzen seien für den dramatischen Anstieg der Erkrankungszahlen verantwortlich, bleibt sie fair und warnt vor Überreaktionen. So betont sie im Abschnitt über bleihaltige Impfstoffe mehrmals, dass Impfungen zahllosen Menschen unendliches Leid erspart haben: Impfgegner finden hier wenig Munition. Allerdings haben die WHO-Studien, denen zufolge es keinen belastbaren Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus gibt, sie nicht überzeugt. (Zwischen Autismus und Autoimmunstörungen scheint es ebenfalls Zusammenhänge zu geben – daher befasst sie sich mit diesen Studien.)
Der von ihr dokumentierte Anstieg der Prävalenzen von Lupus, Multipler Sklerose, Autoimmunthyreoiditis, Typ-1-Diabetes und weiteren Autoimmunerkrankungen in den letzten etwa vier Jahrzehnten ist erschreckend. Er spielt sich vor allem in den Industriestaaten ab, wie zahlreiche geoepidemiologische Studien belegen. Dr. Bhagirath Singh, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Infektionen und Immunität an den Canadian Institutes of Health Research, nannte Autoimmunerkrankungen bereits 2005 die achthäufigste Todesursache bei Frauen; die Krankheiten verkürzen das Leben der Patienten ihm zufolge um durchschnittlich 15 Jahre.
Im Vergleich zum „Krieg gegen den Krebs“ ist die Erforschung von Autoimmunerkrankungen Nakazawa zufolge chronisch unterfinanziert, und weder die Allgemeinbevölkerung noch die meisten Ärzte haben ein adäquates Problembewusstsein. In einer Umfrage konnten 90 Prozent der befragten Amerikaner keine einzige Autoimmunkrankheit nennen. Ein Patient muss im Durchschnitt sechs Ärzte aufsuchen, bevor er die richtige Diagnose für seine Autoimmunerkrankung erhält. 45 Prozent der Patienten (und vor allem Patientinnen) müssen sich zuvor anhören, sie seien Hypochonder oder hysterisch. In der Hälfte dieser Fälle verstreichen über solche Abwiegeleien fünf unwiderbringliche Jahre, in denen das entgleiste Immunsystem sein Zerstörungswerk im Körper fortführen kann, bevor endlich eine Diagnose erfolgt und eine Therapie begonnen werden kann.
Die Liste der Autoimmunerkrankungen oder Störungen mit Autoimmun-Komponente wird immer länger. Beispielsweise gilt selbst Narkolepsie seit 2009 als Autoimmunstörung; Nakazawa hatte die Krankheit 2008 im Anhang ihres Buches noch in der Liste der „mutmaßlich“ mit Autoimmunität zusammenhängenden Erkrankungen angeführt. Ihr zufolge spielen auch bei der Entstehung der weit verbreiteten Arteriosklerose Autoimmuneffekte eine Rolle.
Einige der Missstände, die Nakazawa beschreibt, betreffen uns Europäer weniger als die amerikanische Bevölkerung. So sind bestimmte Substanzen in Kosmetika, die das Risiko einer Autoimmunerkrankung erhöhen, insbesondere in dunklen Haarfärbemitteln und in Nagellack, in Europa längst verboten. Überhaupt erscheint die aus amerikanischer Sicht strenge europäische Umwelt- und Verbraucherschutzgesetzgebung, hierzulande von interessierter Seite oft als Bürokratiemonster verschrien, in einem sehr positiven Licht, wenn man erfährt, welche ökologischen, gesundheitlichen und sozialen Dramen sich in den USA bis heute abspielen. Ein ganzes Kapitel ist der Aufdeckung des Zusammenhangs zwischen PCB- und bleiverseuchten Böden und lokalen Lupus-Clustern in Buffalo, New York, gewidmet. Hätten sich die Lupus-Fälle nicht in einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Armenviertel gehäuft, sondern in einem Stadtviertel wohlhabender Weißer, so hätten die Betroffenen sicherlich früher die richtige Diagnose und eine bessere Therapie erhalten; die gefährlichen Industriebrachen wären früher gesperrt, die Bevölkerung wäre besser aufgeklärt und der verseuchte Boden früher abgetragen worden.
Nakazawa erklärt in groben Zügen den mutmaßlichen Mechanismus, über den industriell hergestellte Substanzen in Individuen mit einer entsprechenden genetischen Prädisposition zum Ausbruch von Autoimmunerkrankungen führen (molekulare Mimikry), und stellt die möglichen negativen Einflüsse von für sich genommen harmlosen Infektionen (insbesondere mit dem Epstein-Barr-Virus), Impfstoffen und Schwermetallen dar. Auch der Klimawandel kommt zu Sprache, da sich mit der Erwärmung die Verbreitungsgebiete vieler Krankheitserreger verschieben.
Unbefriedigend finde ich die Darstellung der Hygiene-Hypothese, also der Vorstellung, dass unser „zu sauberes“ Dasein zu einem Überschießen des „unterbeschäftigten“ Immunsystems führen kann. Meines Wissens ist diese Hypothese vor allem in Bezug auf Rinder- und Schweineparasiten durchaus ernst zu nehmen, aber Nakazawa und die von ihr befragten Experten tun sie mit dürren Worten als unplausibel ab. Mögliche Zusammenhänge zwischen Autoimmunerkrankungen und Allergien kommen zur Sprache, werden aber ebenfalls relativ knapp abgehandelt. Das gesamte Buch ist eben auf die „Umweltgift“-Hypothese zugeschnitten, die ja tatsächlich einiges für sich hat.
Ein Kapitel ist der Erforschung der Autoimmunerkrankungen und der Entwicklung neuer Therapieansätze gewidmet: anschauliche Beispiele für Thomas Kuhns Konzept des mühsamen Paradigmenwechsels. Innovative Forscher müssen gegen starke Widerstände anarbeiten.
Das umfangreiche letzte Kapitel stellt Möglichkeiten vor, sich selbst und seine Familie wenigstens ansatzweise vor vermeidbaren Risiken für das Immunsystem zu schützen. Haushaltschemikalien, Kosmetika, Spielzeuge, überhaupt Kunststoffe, imprägnierte oder mit Nanopartikeln beschichtete Textilien, unsere Nahrung – alles kommt auf den Prüfstand. Obwohl ich in diesem Blog keine Behandlungsempfehlungen o. ä. abgeben möchte, werde ich das Thema Ernährung in einem separaten Artikel behandeln, um Interessenten einige Ansatzpunkte zur weiteren Recherche zu liefern.
Alles in allem ein informatives, auch beunruhigendes Buch, dessen Schwächen man relativ leicht erkennt und das aufgrund der angeführten Fachliteratur zur eigenen vertiefenden Recherche einlädt.