Frank Ryan: Virolution – Die Macht der Viren in der Evolution, Kap. 6

Einführende Bemerkungen zum Buch und Notizen zu Kapitel 5 gibt es hier. Es folgen meine noch nicht allgemeinverständlich aufbereiteten Notizen zum nächsten Kapitel:

6. Viren als Geburtshelfer der Evolution

Ein endogenes Retrovirus kann nur gemeinsam mit den Nachfahren der Überlebenden der ersten Seuche überleben. Beide gehen eine dauerhafte Symbiose ein; selektiert wird von nun an auf der Ebene der Partnerschaft.

Aus dieser Perspektive ist die derzeitige Aids-Pandemie die erste Stufe einer solchen neuen Dynamik, während die Koala-Leukämie-Epidemie bereits etwa 100 Jahre länger wütet und schon die nächste Stufe der aggressiven Symbiose erreicht hat: Die meisten Individuen sind infiziert, der Genotyp, der nicht mit dem Virus leben kann, ist weitgehend ausgerottet, und die Endogenisierung schreitet rasch voran.

Wohl kein anderes Genom ist so stark mit Retroviren kontaminiert wie das menschliche. Wir sind gewissermaßen holobiontische Verbünde aus Wirbeltier- und Virenelementen. Virale Gene und Steuerungssequenzen, die für diese Symbiose nützlich sind, sollten von der Selektion stark konserviert worden sein.  

Vermutlich haben sich auch die Transposons, die wohl nicht näher mit den Retroviren verwandt sind, aus Viren oder Virenvorgängern entwickelt. 2007 haben John Pace und Cédric Feschotte eine umfassende Analyse der Aktivität menschentypischer Transposons vorgelegt. Sie schätzten die Zahl der Insertionen auf etwa 98.000 und die Zahl der Transposonfamilien im Humangenom auf mindestens 40. Während der Radiation der Säugetiere und der Evolution der frühen Primaten waren Transposons sehr aktiv, aber vor etwa 37 Mio. Jahren folgte wohl ein massenhaftes Transposonsterben.

Laut Luis Villarreal fällt das Transposonsterben in dieselbe Zeit wie eine besonder starke Kolonisation des Primatengenoms durch eine Familie endogener Retroviren namens HERV-K. Alle anderen HERV-Familien sind bereits früher (wohl vor 100-40 Mio. Jahren) eingedrungen, sodass HERV-K am menschentypischsten ist. Villarreal vermutet, dass neu eindringende Virenstämme ältere Kolonisten verdrängen können.

Die ersten endogenen Retroviren wurden in den 1960er-/1970er-Jahren bei leukämieanfälligen Hühnern und Mäusen gefunden. 1981 wiesen Malcolm A. Martin und Maurice Cohen erstmals endogene retrovirale Sequenzen im Humangenom nach, 1984 dann ein komplettes virales Genom auf Chromosom 7. Bei diesem Virus, ERV3 (später: HERV-R) genannt, enthalten das gag– und das pol-Gen Stopcodons, die eine Aktivierung der Gene verhindern. Das env-Gen und die beiden regulatorischen LTRs sind aber auf ganzer Länge konserviert, was darauf hindeutet, dass ERV3 eine wichtige Rolle in unserer Evolution spielte und wohl noch heute eine Funktion hat.

Die Klassifikation der (je nach Definition) 30-50 HERV-Familien folgt der Primer-Transfer-RNA; K zum Beispiel steht in der Biochemie für die Aminosäure Lysin. Die Familien lassen sich weiter in über 200 Gruppen mit je eigener Entwicklungsgeschichte unterteilen. All diese Kolonisierungen dürften nach dem Schema abgelaufen sein, das wir bei HIV und der Koala-Epidemie beobachten; wir sind also Nachfahren der Überlebenden von zahlreichen Seuchen.

Einige HERV-K-Invasionen haben erst während der letzten 10 Mio. Jahre stattgefunden, also während der Menschwerdung. Von den zehn bekannten Untergruppen vollständiger HERV-K kommen acht ausschließlich bei Menschen vor. Einer der LTRs dieser HERV-K-Untergruppen enthält eine Sequenz, die auch im Code von HIV-1 vorkommt; beide Virusfamilien sind wohl verwandt.

1996 führte Roy Britten zehn Beispiele für endogene retrovirale Sequenzen an, die die Expression eines nützlichen Gens regulieren: sieben beim Menschen, zwei beim Seeigel und eines bei der Maus. Beim Menschen betrifft dies das Keratingen, Gene des Immunsystems, das Gen für das Parathormon (Nebenschilddrüsenhormon), das Brustkrebsgen BRCA-1, das Gen für das Stärkeabbauenzym Amylase und ein Gen, das mit dem Wilms-Tumor (Nierentumor bei Kindern) in Verbindung gebracht wird.

HERVs scheinen große Deletionen, Duplikationen und Chromosomenumbauten induziert und so die menschliche Evolution maßgeblich beeinflusst zu haben.

Da Viren miteinander konkurrieren, könnte es sein, dass die HERVs den menschlichen Fötus geschützt haben, indem sie andere Viren fernhielten.

Bei einer Schwangerschaft gräbt der Embryo sich nach sechs Tagen in die Gebärmutterschleimhaut ein, und es entsteht eine Placenta. Diese versorgt den Embryo mit Nährstoffen und führt Abfallstoffe ab. Da die Hälfte der Antigene des Embryos vom Vater stammt und dem mütterlichen Immunsystem fremd ist, verhindert sie außerdem den direkten Kontakt zwischen fötalen Antigenen und den Blutzellen der Mutter. Das wird durch den Syncytiotrophoblasten möglich, eine durchgängige Grenzschicht ohne Zellwände, also eine vielkernige Riesenzelle (Syncytium).

Eigentlich sind Wirbeltierzellen gar nicht imstande, Syncytien zu bilden. Retroviren wie HIV-1 können Säugetierzellen aber dazu bringen. Im Jahr 2000 wurde ein Protein entdeckt, das Placentazellen eine solche Verschmelzung ermöglicht: Syncytin-1. Es gehört nicht zu unserem Wirbeltiererbe, sondern wird vom Envelope- oder env-Gen des HERV-W codiert. Drei Jahre später zeigte sich, dass HERV-FRD ein zweites Syncytin codiert, das ebenfalls bei der Bildung des Syncytiotrophoblasten zum Einsatz kommt. Dieses Syncytin-2 scheint außerdem an der Immunsuppression an der Placenta mitzuwirken. Daraus ergab sich ein Modell der Placentabildung, in dem diese beiden HERVs sowie ERV3 beim Placenta-Aufbau koordiniert aktiv werden. Allerdings hat ungefähr ein Prozent der europiden Menschen eine ERV3-Mutation, ohne dass dies Schwangerschaften beeinträchtigen würde.

In jeder großen Säugeitergruppe, die man daraufhin untersucht hat (darunter Nagetiere, Huftiere, Primaten), fand man jeweils spezifische Virengruppen, die am Placenta-Aufbau beteiligt sind.

Auch in anderen Organen und Geweben werden ERV3-Gene exprimiert, vor allem in Drüsen wie den Eierstöcken oder Nebennieren, die Hormone herstellen, oder den Talgdrüsen, die durch Hormone gesteuert werden. Vielleicht wird ERV3 also hormonabhängig exprimiert. Außerdem wird ERV3 in vielen fötalen Gewebetypen, den Nieren, der Zunge, dem Herzen, der Leber und dem Zentralnervensystem stark exprimiert. Dieses Muster deutet auf eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Zellen in diesen Geweben und Organen hin, die durch die symbiotische Integration von ERV3 im Zuge der Menschwerdung möglich wurde.

Eine Durchmusterung des Humangenoms nach intakten HERV-Envelope-Genen ergab 16 HERV-Gene, die alle in gesundem Gewebe exprimiert werden. Drei davon werden in der Placenta exprimiert (s. o.), zwei in hoher Dosis in der Schilddrüse und den Nebenneiren, wo sie evtl. etwas mit der Hormonausschüttung zu tun haben. Alle 16 werden, wenn auch unterschiedlich stark, in den Hoden abgelesen – wie überhaupt in den männlichen Fortpflanzungsorganen aller möglicher Tiere (z. B. auch Taufliegen) viele Gene und Steuerungssequenzen endogener Retroviren aktiv sind. Höchstwahrscheinlich sind sie an der Spermienproduktion beteiligt.

Der LTR von ERV-L scheint als Promotor für die meisten wichtigen Transkriptionen im gesunden menschlichen Dickdarm zu dienen. Außerdem wurden ausgeprägte env– und gag-Gen-Expressionen in zentralen Strukturen des gesunden menschlichen Gehirns nachgewiesen. Unter anderem werden dort Syncytin-1 und -2 hergestellt, und zwar in noch größeren Mengen als in der Placenta oder jedem anderen Organ, das man bislang untersucht hat. Was diese Proteine in unserem Gehirn tun und ob sie sich irgendwie von den placentalen Syncytinen unterscheiden, ist unbekannt.

In Regionen des Mäuse- und des Humangenoms, die etwas mit der Immunabwehr oder der Reaktion auf äußerliche Reize zu tun haben, sind oft auch „springende Gene“ anzutreffen (Van Langemaat et al., „Transposable elements in mammals promote regulated variations in diversifications of genes with specialized functions“. Trends in Genetics 19(10): 530-536, 2003).

Am aktivsten sind HERV-K-Elemente in der Haut, der Schilddrüse, der Placenta, den Fortpflanzungsorganen. In keinem einzigen menschlichen Gewebe kommen überhaupt keine HERV-Transkripte vor. Aufgrund der Allgegenwart und mutmaßlich großen evolutionären Bedeutung der HERVs haben Genetiker bereits die Einrichtung eines HERV-Transkritpom-Projekts gefordert (Flockerzi et al., „Expression patterns of transcribed human endogenous retrovirus HERV-K(HML-2) loci in human tissues and the need for a HERV transcriptome project. BMC Genomics 9: 354, 2008).

[Fortsetzung: Kapitel 7]

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