Die Evolution des Immunssystems, Teil 2: adaptive Immunabwehr

Notizen zum 16. Kapitel des Lehrbuchs Janeway’s Immunobiology von Kenneth Murphy, Paul Travers und Mark Walport, 7. Auflage, Garland Science, 2008 – Teil 2: S. 720-730 (Fortsetzung von Teil 1)

Die Evolution der adaptiven Immunabwehr bei den Kiefermäulern wurde offenbar durch ein Transposon möglich, das sich in ein Gen für ein mutmaßlich immunglobulinartiges Protein einfügte. Dadurch gewann das Gen die Fähigkeit zur somatischen Rekombination.

Das Gen muss den Genen der Immunglobulin-Superfamilie sehr ähnlich gewesen sein, und das Protein diente womöglich schon als Antigen-Rezeptor – vielleicht in einer lymphozytenartigen Zelle oder in einer Phagozytose betreibenden Zelle wie einem Makrophagen oder einem polymorphnukleären Leukozyten, die dann die Fähigkeit zur Phagozytose verlor und dank der Ausbildung variabler Antigen-Rezeptoren neue Aufgaben übernahm.  

Im Gegensatz zur alten Lehrmeinung kennt man heute bei mindestens zwei Wirbellosen Beispiele für eine extreme Diversifizierung von Proteinen aus der Immunglobulin-Superfamilie, die vermutlich der Erkennung einer Vielzahl von Pathogenen dienen:

Bei Drosophila gehören neben den Hämozyten auch die Fettkörperzellen zum Immunsystem, die beispielsweise antimikrobielle Defensine in die Hämolymphe sezernieren. In der Lymhe findet sich auch das Protein Dscam (Down syndrome cell adhesion molecule). Es gehört zur Immunglobulin-Superfamilie und opsoniert vermutlich eindringende Bakterien, um ihre Vernichtung durch Phagozytose zu erleichtern. Das Protein enthält viele (meist 10) immunglobulinartige Domänen, von denen einige auf dem Gen durch zahlreiche alternative Exons codiert sind. Drosophila kann durch alternatives Splicing schätzungsweise 38.000 unterschiedliche Isoformen von Dscam herstellen. Indizien deuten darauf hin, dass dieses Gen die Pathogenabwehr flexibler gemacht hat.

In der Süßwasserschnecke Biomphalaria glabrata sezernieren Hämozyten einige FREPs (fibrinogen-related proteins), die vermutlich zur angeborenen Immunabwehr gehören, in die Hämolymphe. Wird die Schnecke – ein Zwischenwirt für die Pärchenegel der Gattung Schistosoma, die beim Menschen Schistosomiasis oder Bilharziose verursachen – von Parasiten befallen, steigt die FREP-Konzentration. Die Immunglobulin-Domänen könnten mit Pathogenen in Wechselwirkung treten, während die Fibrinogen-Domäne lektinartige Wirkung entfalten, also zur Ausfällung des Komplexes führen könnte. Die FREPs, die eine Schnecke exprimiert, sind erheblich vielfältiger als die Gene in der Keimbahn. Der genaue Mechanismus dieser Diversifizierung ist noch unbekannt, und wir wissen nicht, in welchem Zelltyp sie sich abspielt. Der Vorgang erinnert aber an die somatische Hypermutation bei der humoralen Immunantwort der Vertebraten (Antikörperproduktion in den B-Lymphozyten).

In beiden Fällen wissen wir nicht, ob es eine klonale Expansion und ein immunologisches Gedächtnis gibt. Das ist im folgenden Beispiel anders.

Selbst die Knorpelfische, die älteste überlebende Gruppe der Kiefermäuler, haben bereits ein Lymphgewebe, T-Zell-Rezeptoren und Immunglobuline und verfügen somit über eine adaptive Immunabwehr. Diese beruht bei allen Kiefermäulern auf dem Zusammenbau der Antigen-Rezeptoren durch V(D)J- oder somatische Rekombination auf der Basis von RAGs (recombination activating genes). Seit kurzem weiß man, dass auch die überlebenden Kieferlosen eine flexible Pathogenabwehr bzw. Allograftabstoßung und ein immunologisches Gedächtnis haben.

Unter den Proteinen, die in den lymphozytenähnlichen Zellen des Meerneunauges (Petromyzon marinus) exprimiert werden, sind keine, die an T-Zell-Rezeptoren oder Immunglobuline erinnern. Die Zellen produzieren jedoch viel mRNA von Genen mit multiplen LRR-Domänen. (Aus LRR-Domänen sind auch die Toll-like receptors zur Pathogen-Erkennung aufgebaut; siehe Teil 1.) Diese sogenannten VLRs (variable lymphocyte receptors) haben eine konstante Stielregion, mit der sie über eine Glycosylphosphatidylinositol-Bindung an die Plasmamembran binden können, und werden entweder an der Zelle verankert oder wie Antikörper ins Serum sezerniert. Sie entstehen durch somatische Rekombination.

Allerdings enthält das einzige, unvollständige VLR-Gen weder die typischen Signale für ein RNA-Splicing noch die Rekombinationssignalsequenzen (RSS), die wir aus den Immunglobulin-Genen kennen. Vielmehr wird das unvollständige Gen von einer Vielzahl von DNA-Kassetten flankiert, die jeweils ein bis drei LRR-Domänen enthalten. Jeder Neunaugen-Lymphozyt exprimiert ein vollständiges und einzigartiges VLR-Gen, das durch Rekombination aus diesen flankierenden Regionen und dem Keimbahn-VLR-Gen entstanden ist. Offenbar werden zuerst zufällige LRR-Einheiten eingebaut, die die N-terminale Untereinheit vervollständigen; dann werden zentrale LRR-Domänen hinzugefügt; schließlich werden nichtcodierende Regionen aus der C-terminalen LRR-Domäne herausgeschnitten. Der molekulare Mechanismus wird noch erforscht; es könnte sich um Genkonversion handeln.

Alle Kiefermäuler, auch wir, verdanken ihre adaptive Immunabwehr einem besonderen Ereignis bei einem unbekannten Urahn: Ein mobiles DNA-Element oder Transposon, das die ursprünglichen RAGs enthielt, fügte sich in eine Wirtssequenz ein, die vermutlich einem Immunglobulin-Gen oder einer V-Region eines T-Zell-Rezeptor-Gens ähnelte. Transposons enthalten stets zwei Elemente: eine Sequenz für eine Transposase, also eine DNA-Rekombinase, die einen DNA-Doppelstrang aufschneiden kann, um das Transposon einzufügen oder wieder auszuschneiden, und terminale Wiederholungsseqneunzen, die von der Transposase erkannt werden. Die DNA des Wirts wird durch das Einfügen und Ausschneiden dauerhaft verändert, denn die kurzen Wiederholungssequenzen bleiben in ihr zurück, und die entstehende Lücke wird von den fehleranfälligen Reparatursystemen der Zelle geschlossen.

Offenbar wurden nach der Einfügung des Transposons in einem zweiten Schritt dessen Rekombinase-Sequenzen von den terminalen Wiederholungssequenzen getrennt. Aus den im Immunrezeptor-Gen zurückgebliebenen Wiederholungssequenzen wurden die Rekombinationssignalsequenzen (RSS), die heute die Gensegmente von Immunglobulin- und T-Zell-Rezeptor-Genen flankieren, und aus den Transposase-Sequenzen wurden die Gene RAG-1 und RAG-2, die jetzt eine Rekombinase codieren, die für das Rearrangement der Antigen-Rezeptor-Gene nötig ist.

Die Herkunft aus einem Transposon erklärt, warum RAG-1 und RAG-2 keine Introns enthalten, wie sonst bei Säugetiergenen üblich. So löst sich auch ein weiteres Rätsel: In der ausgeschnittenen DNA, die keine Funktion erfüllt, werden die RSS ganz genau aneinandergefügt, während in der verbleibenden DNA, also den exprimierten Immunglobulin- bzw. T-Zell-Rezeptor-Genen, die Enden sehr fehleranfällig verbunden  werden. Aus Transposon-Perspektive ist das logisch, denn für das Transposon ist die verbleibende Wirtssequenz irrelevant. Und die Fehlerreparatur im ursprünglichen Immunglobulin-Gen hat für eine Sequenzvielfalt gesorgt, die der Erkennung möglichst vieler Pathogene nützt und daher erhalten blieb.

Proteine mit immunglobulinartigen Domänen finden sich im gesamten Tier-, Pflanzen- und Bakterienreich. Die Mitglieder der Immunglobulin-Superfamilie übernehmen eine Vielzahl von Funktionen. Sie lassen sich in vier Familien unterteilen: V (wie die variablen Immunglobulin-Domänen), C1 und C2 (wie die konstanten Domänen) sowie I. Die ersten drei finden sich in vielen Proteinen des Immunsystems. Die Urdomäne, in die das Transposon hineingesprungen ist, war vermutlich eine V-Domäne, die wohl gemeinsam mit einer C1-Domäne einen Transmembranrezeptor bildete, denn das ist die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen T-Zell-Rezeptoren und Immunglobulinen.

Die meisten Tiere erzeugen ihre Antigenrezeptor-Vielfalt überwiegend ganz ähnlich wie wir Menschen: durch somatische Rekombination. Manche Tiere fügen zunächst stets dieselben V- und J-Gensegmente zusammen, um diese rekombinierte V-Region anschließend zu diversifizieren. Bei Hühnern geschieht dies durch Genkonversion in der Bursa Fabricii, bei Kaninchen in einem ähnlichen lymphatischen Organ.

Knorpelfische haben dagegen zahlreiche Kopien von unterschiedlichen VL-JL-CL– und VH-DH-JH-CH-Kassetten, zwischen denen die Rekombination stattfindet. Bei Rochen und Sandtigerhaien werden einige der Immunglobulin-Gene nicht durch somatische Rekombination erzeugt. Stattdessen enthält bereits das Keimbahn-Genom eine Vielzahl an „vorrekombinierten“ VL– und manchmal auch VH-Regionen; die Rezeptorvielfalt entsteht offenbar durch Aktivierung der Transkripte der unterschiedlichen Kopien. Dieser Mechanismus ist vermutlich erst nach der Aufspaltung der Knorpelfische entstanden, als in einer Keimbahn einmal die RAG-Gene aktiviert wurden und einige der Immunglobulin-Loci rearrangierten.

Offenbar bringt dieses System für die Rochen und Sandtigerhaie Vorteile mit sich – vielleicht während der frühen Entwicklung, wenn das komplexe Repertoire der adaptiven Abwehr noch nicht voll entwickelt ist. Die Knorpelfische verfügen zudem über mindestens zwei Typen schwerer Immunglobulin-Ketten, die in den später entstandenen Kiefermäulern fehlen. Diese Vielfalt lässt vermuten, dass die Immunglobuline bei den frühen Knorpelfischen noch recht neu waren und Varianten aufkamen, die sich dann selektiv bewähren mussten.

Bei Organismen, die älter sind als Knorpelfische, hat man niemals T-Zell-Rezeptoren oder Immunglobuline gefunden – aber sobald sie auftauchten, sahen sie den heute bei Säugern vorkommenden Formen schon erstaunlich ähnlich. Und schon bei den ältesten Knorpelfischen hatten sie sich offenbar in mindestens zwei Systeme aufgetrennt (α:β- und γ:δ-T-Zell-Rezeptoren).

Wie zu erwarten, sind auch die Widerparte der T-Zell-Rezeptoren – die MHC-Moleküle – in etwa zur selben Zeit aufgekommen: Bei Wirbellosen und Kieferlosen finden wir sie nicht, bei Knorpelfischen und allen anderen Kiefermäulern wohl. Offenbar haben die MHC-Komplexe bereits während der Aufspaltung von Kieferlosen und Knorpelfischen der Präsentation von Pathogen-Peptiden gedient, und der Selektionsdruck durch die Pathogene hat sehr rasch zu jenem Polymorphismus geführt, der die MHC-Moleküle heute auszeichnet.

Die Gene der MHC-Klasse I werden in klassische (Ia) und nicht klassische (Ib) Loci unterteilt. Schon bei den Haien kommen beide Unterklassen vor, aber wahrscheinlich sind die Klasse-Ib-Gene der Haie nicht die direkten Vorfahren der entsprechenden Gene bei uns. Vielemehr dürften sich einige Ib-Gene wie CD1 bereits vor der Abspaltung der Knorpelfische von den übrigen Wirbeltieren entwickelt haben. Was die übrigen Klasse-I-Gene angeht, so dürften sie sich bei den Knorpelfischen, Fleischflossern, Strahlenflossern, Amphibien und Säugetieren unabhängig voneinander in klassische und nicht klassische Loci aufgeteilt haben.

Alle typischen MHC-Eigenschaften scheinen also bereits von Anfang an vorhanden gewesen zu sein; wir kennen keine Zwischenformen, die uns ihre Evolution verständlich machen könnten.

Welcher Selektionsdruck mag zur raschen Ausprägung einer adaptiven Immunabwehr bei den höheren Wirbeltieren geführt haben – vielleicht die Entwicklung von Kiefern im Verbund mit harter, scharfkantiger Nahrung wie Muscheln oder Knochentieren? Verletzungen im Mundraum könnten zu einer Zunahme von Infektionen geführt haben. Dagegen spricht allerdings, dass auch einige Weichtiere, insbesondere Kopffüßer mit Schnäbeln, Tiere mit harten Schalen oder Knochen fressen, ohne dass ihr Immunsystem einen ähnlichen Weg eingeschlagen hätte.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auf die allmähliche Diversifizierung der wenigen einfachen Komponenten des frühen Immunsystems ein abrupter und immer noch rätselhafter Schub folgte: die Entstehung der adaptiven Immunabwehr. Sobald dessen Grundlagen gelegt waren, schritt die Entwicklung wieder gemächlich voran.

Ganz am Anfang standen antimikrobielle Peptide, die später um bewegliche phagozytierende Zellen ergänzt wurden. Systeme der angeborenen Immunabwehr wie der alternative Weg der Komplementaktivierung und später der Lektin-Signalweg machten die Phagozytose dann effizienter. Wie wir heute wissen, gab es auch bei den Kieferlosen bereits eine Form von adaptiver Abwehr, die ohne Immunglobuline und T-Zell-Rezeptoren auskam. Letztere sind dann nach einer Transposon-Invasion sehr rasch aus einer noch unbekannten Vorform hervorgegangen.

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