Frank Ryan: Virolution – Die Macht der Viren in der Evolution, Kap. 8

Fortsetzung meiner Exzerpte der Kapitel 5 und 6 und 7 von Ryans Buch, wiederum noch nicht allgemein verständlich aufbereitet

8. Autoimmunkrankheiten

Etwa 5 % der Menschen in den Industrieländern leiden unter Autoimmunkrankheiten: In unterschiedlichen Organen treten Entzündungen auf, die nicht eindeutig auf Infektionen zurückzuführen sind. Zur Diagnose ist oft der Nachweis bestimmter gegen körpereigenes Gewebe gerichteter Antipkörper nötig.

Zu den häufigsten Autoimmunkrankheiten gehört der Systemische Lupus erythematodes (SLE), bei dem das Immunsystem die eigene Doppelstrang-DNA angreift, sodass man DNA-spezifische Antikörper findet. Bei 85 % der Patienten mit rheumatoider Arthritis ist ein Antikörper nachweisbar, der sich gegen  Immunglobulin G (IgG) richtet, ein Protein, das zur normalen Immunantwort gehört. Im Falle von Typ-1-Diabetes greifen weiße Blutkörperchen und Antikörper die Betazellen in den Langerhans-Inseln an, die in der Bauchspeicheldrüse Insulin herstellen. In Tests werden Antikörper gegen die Glutamat-Decarboxylase 65 (GAD65) nachgewiesen, ein für die Arbeit der Langerhans-Inseln notwendiges Enzym. Bei Multipler Sklerose (MS) führen Angriffe des Immunsystems auf die Myelinscheiden zur Demyelinisierung von Axonen im Zentralnervensystem. Alle Autoimmunerkrankungen lassen sich durch die Gabe von Steroiden beeinflussen, die die Immunantwort unterdrücken. Auch Beta-Interferon und ähnliche Medikamente verbessern den Zustand vieler Patienten.  

Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn ist eine Autoimmunerkrankung, bei der die Schleimhaut des Dickdarms angegriffen wird und oft auch die Milz sich verändert (Hyposplenismus). Bei Patienten mit Hyposplenismus gibt es überhaupt keine Antikörperreaktion auf Fremdkörper im Blut. Die Milzschädens scheinen also Zeichen für eine generelle Fehlfunktion des Immunsystems zu sein. Auch bei rheumatoider Arthritis und SLE fand man Milzveränderungen. Viele Colitis-ulcerosa-Patienten haben multiple Autoantikörper, die sich gegen mehrere Organe und Gewebetypen richten und auch bei anderen Autoimmunkrankheiten nachgewiesen wurden. Oft erkranken sie Jahre später tatsächlich an einer dieser anderen Krankheiten. Das spricht dafür, dass es genetische Prädispositionen für Autoimmunkrankheiten gibt.

Nature hat 2005 eine Reihe von Übersichtartikeln zum damaligen Kenntnisstand über Autoimmunerkranungen veröffentlicht. Eine mögliche Rolle von HERVs wurde darin aber noch nicht angesprochen.

Humane Leukozyten-Antigene (HLA) befähigen weiße Blutkörperchen zur Erkennung fremder Proteine, sei es bei Bakterieninfektionen oder bei Organtransplantationen; sie werden von den Genen des menschlichen Haupthistokompatibilitätskomplexes (MHC) codiert, der auf unserem Chromosom 6 angesiedelt ist. Sie präsentieren den T-Lymphozyten Bruchstücke der fremden Proteine. Die T-Lymphozyten sind auf die Vernichtung von Zellen spezialisiert, die an ihrer Oberfläche Antigene tragen, und lösen die weitere Immunantwort aus.

Vor über 20 Jahren kam die These auf, dass Retroviren etwas mit den evolutionären Ursprüngen und der Funktionsweise des MHC zu tun haben – und insofern wohl auch mit Autoimmunkrankheiten. Schon 1990 stellten Arthur M. Krieg und Alfred D. Steinberg fest, dass viele mit HIV-1 infizierte Patienten zugleich an allen möglichen Autoimmunkrankheiten leiden, darunter Hämolytische Anämie, Polymyositis, Vitiligo, Nephritis und Sjögren-Syndrom.

Das Immunsystem lernt sofort dazu, wenn es mit einem neuen Eindringling konfrontiert wird (adaptive Immunabwehr). Dabei muss es stets zwischen Fremd und Selbst unterscheiden. Aber wie konnte dieses System entstehen, dass sich in seiner Entwicklungsfähigkeit so grundlegend von den übrigen Organen unterscheidet? Offenbar trat es beim Aufkommen der ersten Wirbeltiere, die vermutlich heutigen Knochenfischen ähnelten, recht abrupt auf.

In einem Übersichtsartikel über die Wechselwirkungen zwischen Viren und ihren Wirten – von den ersten Wirbellosen mit ihrem nicht lernfähigen über die ersten Wirbeltiere mit ihrem adaptiven Immunsystem bis zum Menschen – vertritt Luis Villarreal die These, dass die Wurzel der Selbst-Erkennung in den evolutionären Wechselwirkungen zwischen Bakterien und Bakteriophagen zu suchen sei (Villarreal, L., „The source of self: genetic parasites and the origins of adaptive immunity“, Annals of the New York Academy of Sciences 1178: 194-232, 2009).

Den Mechanismus nennt er „addiction module“ (Abhängigkeitsmodul): Das Virus deponiert sein komplettes Genom im Bakterium, hält es aber auf einem winzigen Plasmid von den bakteriellen Genen getrennt. Es codiert unter anderem ein langlebiges Bakteriengift und ein kurzlebigeres Gegenmittel, das dieses Gift neutralisiert. Wenn das Bakterium im Rahmen seiner Abwehr das virale Plasmid abstößt oder vernichtet, zerfällt das Gegengift schneller als das Gift, und das Bakterium stirbt. Zudem schwärmen neue Viruspartikel aus der toten Bakterienzelle aus und infizieren weitere bis dahin virusfreie Bakterien. Das Abhängigkeitsmodul unterteilt die Bakterienpopulation bald in zwei Teilpopulationen: eine mit dem gefährlichen, aber zugleich vor weiteren Infektionen schützenden Virus und eine andere ohne dieses Zusatzmodul. Immunologisch betrachtet, so Villarreal, ist damit eine einfache Form der Selbst-Erkennung etabliert.

Sobald der blanke Eigennutz von Virus und Bakterium erst einmal einem solchen Mutualismus gewichen ist, setzt die Selektion auf der Ebene der Partnerschaft an. Das Phagen-Genom verliert mit der Zeit seine Fähigkeit zur Ansteckung und ist damit endgültig auf das Bakterium angewiesen. Das Bakterium wiederum ist durch die viralen Gene gegen Infektionen mit anderen, verwandten Viren immun – so, wie man es manchmal bei Tieren und ihren endogenen Retroviren beobachtet. Man könnte das gesamte adaptive Immunsystem, das ständig dazulernen muss, um eine Selbstvernichtung zu verhindern, als riesiges „addiction module“ auffassen.

Wohl jedes fünfte der 421 Gene im erweiterten Haupthistokompatibilitätskomplex (extended main histocompatibility complex, xMHC) spielt eine wichtige Rolle im Immunsystem. Das xMHC ist offenbar durch zahlreiche Duplikationen aus einer einfachen Urform entstanden, gefolgt von einer Auffächerung in fünf MHC-Klassen (Dawkins, R., et al., „Genomics of the major histocompatibility complex: haplotypes, duplication, retroviruses and disease. Immunological Reviews 167: 275-304, 1999).

Wie wir wissen, können HERV-Rekombinationen zu solchen Duplikationen führen. Man fand zehn Duplikationseinheiten, in denen MHC-Klasse-1-Sequenzen jeweils eng mit HERV-16-Sequenzen benachbart sind. Womöglich erfüllen die HERVs noch heute wichtige Aufgaben in der Immunabwehr. Das könnte zu neuen Therapieansätzen führen.

Nur wenige der mehreren hundert Krankheiten, die mit dem menschlichen xMHC in Verbindung gebracht wurden, können schon auf bestimmte Gene zurückgeführt werden:

  • Morbus Bechterew mit HLA-B27,
  • Typ-1-Diabetes mit DRB1, DQA1 und DQB1,
  • Zöliakie mit HLA-DQ2 und HLA-DQ8.

Andere Krankheiten wie SLE sind wohl nicht auf Defekte in einzelnen Genen zurückzuführen; die Prädispositionen sind auf viele Gene in der xMHC-Region verteilt. Ganz unterschiedliche Krankheiten wie Typ-1-Diabetes, Autoimmunthyreoiditis, Morbus Addison, SLE und Myasthenia gravis scheinen mit jeweils typischen Gen-Gruppen zusammenzuhängen, die über den ganzen MHC verstreut sind.

Bei Tieren ist bereits nachgewisen, dass Viren Autoimmunerkrankungen auslösen können. Evtl. ähneln diese Viren Antigenen der Tiere, sodass das Immunsystem bei ihrer Bekämpfung zugleich körpereigenes Gewebe vernichtet.

Ein endogenes Retrovirus vom Typ HERV-K10 codiert offenbar ein Superantigen, das evtl. die Typ-1-Diabetes-Autoimmunreaktion auslöst. Superantigene sind Bakterien- oder Virengifte, die das Immunsystem schädigen und zu zerstörerischen Überreaktionen führen.

Im Kreislauf von Patienten mit unterschiedlichsten Autoimmunerkrankungen wie SLE, rheumatoider Arthritis, Alopecia areata, Sjögren-Syndrom, kongenitalem komplettem Herzblock, primär biliärer Zirrhose, Typ-1-Diabetes und Multipler Sklerose wurden Antikörper gegen diverse HERV-Antigene nachgeweisen. Allerdings könnten z. B. Sequenzen in den HERV-LTRs einfach Bestandteile der normalen Infektionsabwehr und Entzündungsreaktion sein.

In den Langerhans-Inseln von Typ-1-Diabetes-Patienten wurde das env-Gen[-Produkt?] von HERV-K18 nachgewiesen. HERV-K18-Superantigene können durch Alpha-Interferon induziert werden, das bei Entzündungen ausgeschüttet wird. Es löst eine schnelle Vermehrung eines Typs von T-Lymphozyten aus, die mit insulinabhängigem Diabetes in Verbindung gebracht werden. Interferone sind wichtige Regulatoren der Immunreaktion auf Virusinfektionen; das könnte erklären, wie ein in eine Zelle eingedrungenes infektiöses Virus eine HERV-vermittelte Superantigen-Reaktion und so Überreaktionen auf eigenes Gewebe auslösen kann.

1997 wiesen Hervé Perron und Kollegen in MS-Patienten das sogenannte MS-assoziierte Retrovirus (MSRV) nach, das sich später als endogenes Retrovirus aus der HERV-W-Familie erwies, zu der auch das Syncytin-1 codierende HERV gehört. 2001 zeigten sie, dass T-Lymphozyten stark auf das env-Gen[-Produkt?] des Virus reagieren, und vermuteten, dass es ein Superantigen sein könnte. Allerdings fand man auch im Blut von Patienten mit anderen neurologischen Störungen und von Gesunden [Produkte von?] MS-Viren-Sequenzen, wenngleich in geringerer Konzentration.

Auch mit HERV-H/RGH (einem der beiden endogenen Viren, die noch Virenpartikel herstellen können) und mit ERV-9 wurde MS in Zusammenhang gebracht.

In den Plaques, also den schon geschädigten Teilen des Gehirns, werden die Gene des MS-Virus viel stärker exprimiert als außerhalb. Bei chronischer MS wird das env-Gen besonders stark exprimiert, und zwar nicht in Nervenzellen, sondern in den Mikrogliazellen und Astrozyten ringsum (Dolei, A., et al., „Multiple sclerosis-associated retrovirus (MSRV) in Sardinian MS patients. Neurology 58: 471-473, 2002).

Auch Syncytin-1 wird genau in den Regionen der akuten Demyelinisierung gebildet und ruft dort die Ausschüttung von Substanzen hervor, die Oligodendrozyten abtöten – jene Zellen, die die Myelinscheide bilden. Aber wie kann ein Protein, das offenbar im normalen Gehirnstoffwechsel eine Rolle spielt, zugleich an einer solchen Entzündung beteiligt sein? 2007 zeigte sich, dass die Zytokine, die bei Entzündungen auftreten, an der Syncytin-1-Kontrolle in Astrozyten beteiligt sind.

Die MSRV-Konzentration im Blut könnte ein nützlicher prognostischer Marker für den individuellen Therapieerfolg bei MS sein (Mameli et al., „Inhibition of multiple sclerosis-associated retrovirus as biomarker of interferon therapy. Journal of Neurovirology 14(1): 73-77, 2008).

Weit mehr Frauen als Männer erkranken an SLE. Die Erkrankung geht mit einer starken Beeinträchtigung der Lymphozyten und der Bildung von Antikörpern gegen den Zellkern und gegen Doppelstrang-DNA einher. Das Enzym DNAse I hilft, DNA-Abfälle in Zellen zu zerlegen, sodass sie recycelt werden können. Mäuse, denen DNAse I fehlt, zeigen SLE-artige Symptome und haben ein ähnlich abnormes Blutbild. Bei einigen SLE-Patienten hat man Mutationen im DNAse-I-Gen gefunden (Yasumoto et al., „Mutation of DNASE1 in people with systemic lupus erythematosus. Nature Genetics 28: 313-314). Diese Mutation dürfte die Fähigkeit der Zellen zur Entsorgung von DNA-Abbauprodukten aus dem Zellen beinträchtigen.

Gibt es womöglich HERV-Interaktionen am Ort des DNAse-I-Gens in der MHC-Region auf Chromosm 6? Zur HERV-E-Familie gehört der HERV-Klon 4-1, ein vollständiges endogenes Retrovirus, das noch alle in den gag-, env– und pol-Regionen codierten Proteine herstellen kann. Es hat sich über das ganze Humangenom ausgebreitet und an 85 Stellen integriert. Die Messenger-RNA der gag-Sequenz tritt in den Lymphozyten von SLE-Patienten in erhöhter Stückzahl auf (Sekigawa, I., et al.: „Systemic lupus erythematosus and human endogenous retroviruses. Modern Rheumatology 13: 107-113, 2003). Das in der env-Region codierte Protein p15E kann, wie einige andere HERV-Proteine, in vitro abnorme Immunreaktionen auslösen.

Um sich durch Interferon-Ausschüttung gegen eindringende Viren wehren zu können, muss der menschliche Körper zunächst die Gegenwart fremder DNA und RNA erkennen (Stetson, D. B., et al., „Trex1 prevents cell-intrinsic initiation of autoimmunity“. Cell 134: 587-598, 2008). Nicht nur Blutzellen, sondern auch Zellen im Gewebe können fremde DNA registrieren. Dann wird in den Zellen eine starke antivirale Reaktion ausgelöst, die von speziellen Interferonen koordiniert wird. Allerdings unterscheidet das innerzelluläre Reaktionssystem nicht immer genau zwischen viraler und humaner DNA bzw. RNA. Es versagt vor allem, wenn sich wegen eines Defekts im Entsorgungssystem DNA- und RNA-Abbauprodukte in den Zellen ansammeln.

Normalerweise entsorgt das Enzym Trex1 DNA-Abbauprodukte aus Zellen. Bestimmte Mutationen im Trex1-Gen führen zum Aicardi-Goutières-Syndrom, das bei Kleinkindern zu schweren Hirnhautentzündungen und folglich zu Störungen der körperlichen und geistigen Entwicklung führt. Andere Trex1-Mutationen verursachen Chilblain- oder Frostbeulen-Lupus, einer Form von Lupus erythematosus – womöglich auch SLE.

Bei Mäusen führt Trex1-Mangel zu einer Anhäufung von DNA-Abbauprodukten in den Zellen, die wiederum Autoimmunreaktionen auslöst, die das Herz lethal schädigen. Der akkumulierte DNA-Abfall besteht überwiegend aus Resten von LINE-1-Elementen, LTRs und SINEs, also von Produkten endogener Retroviren. Trex1 reagiert offenbar spezifisch auf retrovirale DNA-Sequenzen.

Wahrscheinlich ist eine starke Fluktuation der retroviralen Elemente im Zellstoffwechsel ganz normal; üblicherweise entsorgt Trex1 ihre Überreste. Fehlt Trex1, sammeln sie sich an und lösen eine überschießende interferonvermittelte Imunantwort aus, die zu einer Autoimmunkrankheit führt.

Daraus wurde die These abgeleitet, dass Trex1 als Abwehrmechanismus gegen Autoimmunreaktionen entstanden sein könnte, die sonst bei der Fülle endogener Retroviren im Humangenom wohl noch viel häufiger aufträten. Um dieses Modell auf Autoimmunerkrankungen im Allgemeinen auszudehnen, könnte man es um infektiöse Viren als externe Auslöser erweitern, die das gewebebasierte Erkennungssystem in den befallenen Organen überlasten.

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