Eine Skizze fürs Buch:
Was darin noch fehlt, sind die Zahlen: Untersucht wurden Schulkinder in der finnischen Region Karelien (linkes Wappen) und in der russischen Republik Karelien (rechtes Wappen), Durchschnittsalter 11 Jahre.
Sie gehören überwiegend zur selben ethnischen Gruppe, sodass Risiko-Genorte für die Erkrankungen ungefähr gleich stark vertreten sind. Die Vitamin-D-Konzentrationen in ihrem Blut und im Blut ihrer Mütter sind nahezu gleich, und sie nehmen etwa gleich viele glutenhaltige Getreideprodukte zu sich – in Russland sogar etwas mehr und evtl. auch früher. Die finnischen Kinder werden im Durchschnitt erheblich länger gestillt als die russischen.
Im finnischen Teil Kareliens ist bei ihnen
- die Prävalenz von Typ-1-Diabetes 6-mal so groß wie im russischen Teil,
- die Prävalenz von Zöliakie 4,6-mal so groß wie im russischen Teil,
- der Anteil mit Antikörpern gegen Schilddrüsen-Autoantigene 5,5- bis 6,5-mal so groß wie im russischen Teil,
- die Prävalenz von Allergien deutlich höher als im russischen Teil.
Im russischen Teil Kareliens sind
- Wurminfektionen, z. B. Spulwurminfektionen, erheblich häufiger als im finnischen Teil,
- 73% der Kinder mit Helicobacter pylori infiziert, während es im finnischen Teil 5% sind,
- Infektionen mit Hepatitis A, Toxoplasma gondii und Enteroviren erheblich häufiger als im finnischen Teil, und
- prozentual erheblich mehr Kinder ohne Diabetes oder Allergien Hepatitis-A-seropositiv als Kinder, die an Diabetes und/oder Allergien leiden.
Das Bruttosozialprodukt beträgt in Finnland gut 40.000 US-$, in der russischen Republik Karelien 5780 US-$ pro Kopf. Alles in allem stützen diese Zahlen die Hygiene- oder Alte-Freunde-Hypothese.
Die Prävalenz von Typ-1-Diabetes ist in Finnland höher als in jedem anderen Land der Welt; 2006 hat sie 63 pro 100.000 erreicht.
Hallo,
sehr intressant. Gerade bei Zöliakie gibt es ja andere Befunde, die Stillen eine protektive Wirkung zuschreiben. Jetzt wäre es interessant diese Studie in Gänze zu lesen, um entscheiden zu können ob ggf. (Sekundär)Infektionen als Kovariaten eben die Hygiene- oder Alte-Freund-Hypothese stützen und die „Stillen schützt vor Zöliakie“-Hypothese nicht in Frage stellen, oder ob die Studie für letztere Hypothese ein schwerer Schlag ist. Angesichts der genannten Prävalenz in Finnland, denke ich, daß das der Fall sein könnte.
Wie sehen Sie diese Diskussion?
Gruß,
Christian Meesters
Lieber Christian Meesters,
stimmt, ich habe vergessen, die Quellen anzugeben. Die Zahlen stammen aus
* Seiskari T et al. Co-occurence of allergic sensitization and type 1 diabetes. Annals of Medicine 2010, 42:352-359 (dort vor allem die Angaben zur negativen Korrelation zwischen HAV-Seroposititivät und Diabetes und/oder Allergien bei russisch-karelischen Kindern sowie zum jeweiligen Bruttosozialprodukt pro Kopf) und
* Kondrashova A. Epidemiology and Risk Markers of Autoimmune Diseases in Russian Karelia and in Finland. Dissertation, 2009, Universität von Tampere (die T1D-, Zöliakie- und sonstigen Prävalenzen sowie die Aussagen zum Stillen, zum Vitamin-D-Status, zur Häufigkeit der Risikoallele usw.).
Die längere mittlere Stillzeit in Finnland muss einer Schutzwirkung des Stillens nicht per se widersprechen: Wenn die Hygiene- oder Alte-Freunde-Hypothese zutrifft, kommt es womöglich nur darauf an, dass die kindliche Darmflora möglichst früh durch – unter anderem mütterliche – Bakterien usw. angereichert wird. Dafür reicht u. U. eine kurze Stillzeit oder anderer intensiver Hautkontakt völlig aus.
Über die Natur der im russischen Teil Kareliens vermutlich weiter verbreiteten Schutzfaktoren sagen die Arbeiten erklärtermaßen nichts aus. Die höheren HAV-, Helicobacter- und sonstigen Infektionsraten im russischen Teil sind nur Marker für die hygienischen Verhältnisse, insbesondere für fäkal-orale Infektionen. Nach allem, was ich in den letzten Jahren gelesen habe, sind für mich frühzeitige Wurminfektionen sehr interessante Kandidaten.