Hintergrund/Ergänzungen zum vorigen Artikel über eine Säugetier-Sialinsäure als Xenoautoantigen:
Ajit Varki, Pascal Gagneux: Human-specific evolution of sialic acid targets: Explaining the malignant malaria mystery? PNAS 106(35), 2009, 14739-14740
Plasmodium falciparum verursacht schwere Malaria beim Menschen; nächster Verwandter, P. reichenowi, infiziert Schimpansen und Gorillas, richtet bei ihnen aber weniger Schaden an. Übertragung P. falciparum durch Anopheles-Mücken. Nach Mückenstich infizieren die injizierten Sporozoiten Leberzellen -> Merozoiten, die in die zirkulierenden roten Blutkörperchen (RBCs) eindringen und deren zyklische asexuelle Vermehrung Schübe hohen Fiebers auslösen. P. falciparum exprimiert mehrere Bindungsproteine, die spezifische Ziele auf den RBCs erkennen – vor allem die Sialinsäuren an den Enden der Glykanketten an den Glycophorinen (den häufigsten Oberflächenglykoproteinen) der RBCs.
Das „Sialom“ oder Sialinsäure-Repertoire des Wirts muss sich ständig weiterentwickeln, da die Pathogene schnell evolvieren. Z. B. kam es vor etwa 2-3 Mio. Jahren zu einer Alu-vermittelten Deletion im CMAH-Gen unserer Vorfahren -> keine Biosynthese von Neu5Gc mehr, dafür Akkumulation des Ausgangsstoffes Neu5Ac. Bei den übrigen Menschenaffen kommen beide Sialinsäuren vor. Das wichtigste RBC-Bindungsprotein der Merozoiten von P. falciparum bindet bevorzugt Neu5Ac, das von P. reichenowi bevorzugt Neu5Gc. Der Verlust von Neu5Gc könnte unsere Vorfahren kurzfristig von schwerer Malaria befreit haben. Demnach wäre P. falciparum später entstanden, als das Erkennungsprotein EBA-175 so mutierte, dass es Neu5Ac auf den Erythrozyten erkannte. Vermutlich gab es ein Zwischenstadium, indem EBA-175 beide Formen binden konnte.
Die Mutation, die zum Verlust der Erkennung von Neu5Ac und zugleich zu einer erhöhten Schädlichkeit von P. falciparum führte, könnte sich erst vor recht kurzem ereignet haben. Der Mangel an genetischer Diversität bei P. falciparum deutet auf ein Alter von etwa 10.000 Jahren hin; neolithische Revolution, Landwirtschaft -> neue Mücken-Lebensräume in Menschennähe. Der Hauptüberträger Anopheles gambiae hat sich auf Menschen und ihre Siedlungen spezialisert.
Bei Schimpansen ist die Malaria-Diversität größer. Rich et al. kamen zu dem Schluss, dass alle P.-falciparum-Stämme auf einen der vielen P.-reichenowi-Stämme zurückgehen, also auf einen einzelnen Übergang von einem Schimpansen auf einen Menschen. Neuerdings scheint P. falciparum auch Nicht-Sialinsäure-Ziele auf den RBCs zu erkennen -> neue Runde im Wettrüsten.
Woher die extrem hohe Virulenz? Schimpansen: wechselnde Schlafstätten, relativ großer Abstand zwischen den ausgewachsenen Tieren; Menschen: Behausungen, Enge, steigende Siedlungsgrößen/Bevölkerungsdichten seit dem Neolithikum -> Mücken stechen mehrere Menschen -> vermehrte Sekundärinfektionen. Auch das geringe Alter von genetischen Varianten, die teilweise vor Malaria schützen (z. B. bestimmte Hämoglobin-Typen), deutet darauf hin, dass P.-falciparum-Epidemien ein relativ junges Phänomen sind.
(Abb. 1.: Menschenaffen- und Anopheles-Mücken-Stammbaum und mutmaßliche Plasmodium-Evolution)
Darius Ghaderi et al.: Sexual selection by female immunity against paternal antigens can fix loss of functional alleles. PNAS 108(43), 2011, 17743-17748
(ebenfalls das Team von Varki, Gagneux usw.)
Hypothese: Anti-Neu5Gc-Antikörper könnten in den weiblichen Fortpflanzungstrakt eindringen und Neu5Gc-positive Spermien (präzygotische Inkompatibilität) oder Embryonen attackieren . Die so bedingte sexuelle Seketion könnte zur raschen Verbreitung der 2-3 Mio. Jahre alten CMAH-Mutation in der gesamten Population unserer Vorfahren beigetragen haben. Fortpflanzungsversuche mit CMAH(-/-)-Mäusen und mit menschlichen Antikörpern, die Schimpansenspermien attackieren, scheinen das zu bestätigen.
Alle Zelloberflächen sind mit komplexen Glykanen dekoriert, die viele Funktionen erfüllen und oft eine rasche Evolution durchlaufen. Sialinsäuren bilden oft die Endglieder der Ketten und sind an der Zellerkennung bei Infektionen, in der Entwicklung und bei der Immunregulation beteiligt. Umgekehrt nutzen Pathogene sie ihrerseits, um in Wirtszellen einzudringen. [Siehe Fußnote in Varki/Gagneux: Rollenzuweisung „Rezeptor“ und „Ligand“ ist bei Erkennung durch Bindungsproteine oft willkürlich, ja irreführend!]
Unter den knapp 70 bekannten Genen, die direkt an Sialinsäure-Stoffwechsel- und -Erkenungsmechanismen beteiligt sind, hat über ein Dutzend menschenspezifische Veränderungen durchlaufen – vielleicht infolge des CMAH- und damit Neu5Gc-Verlusts. Ein Alu-Element ist vor schätzungsweise 3,2 Mio. Jahren ins CMAH-Gen gesprungen; schon vor 2,9 Mio. Jahren war die Mutation in der Menschheit fixiert. Anfangs dürften CMAH(-/-)-Individuen einen Vorteil gehabt haben, da Pathogene, die sich auf die Neu5Gc-Erkennung spezialisiert hatten, nicht in ihre Erythrozyten eindringen konnten. Aber die Pathogene dürften sich rasch umgestellt haben.
Warum dennoch die rasche und vollständige Fixierung der Mutation? Sexuelle Selektion: Weibliches CMAH(-/-)-Immunsystem bekämpfte Spermien u./o. Embryonen, die Neu5Gc exprimierten (Anti-Neu5Gc-Antikörper im Fortpflanzungstrakt) -> geringere Fortpflanzungsrate bei Paarung mit CMAH(-/+)- oder CMAH(+/+)-Männern. Sobald das CMAH(-)-Allel eine gewisse Häufigkeit erreicht hatte, führte dies zur Fixierung, obwohl der ursprüngliche Vorteil bzgl. der Infektionen nicht mehr fortbestand (siehe Abb. 1).
Autoren vermuten, dass jene Glykan-Antigene, bei denen es immer noch einen Polymorphismus gibt, vom weiblichen Immunsystem nicht erkannt/verfolgt werden können, da mindestens eine der drei Voraussetzungen für eine Immun-Imkompatibilität (Immunisierung, Kontakt, Immunreaktion) nicht gegeben ist. Bei Neu5Gc waren die Bedingungen erfüllt: Immunisierung durch vermehrten Fleischkonsum und ständige Präsentation des Neu5Gc aus der Nahrung durch das Mikrobiom vor ca. 3 Mio. Jahren; Kontakt durch Anwesenheit der weibliche Antikörper gegen Neu5Gc im Fortpflanzungstrakt; Immunreaktion führt im Experiment mit Mäusen bzw. mit Schimpansenspermien zu einer geringfügig, aber signifikant niedrigeren Fortpflanzungsrate.
Je invasiver die Plazenta eines Säugetiers, desto enger der Kontakt zwischen mütterlichem und embryonalem (Hemiallograft-)Gewebe und desto größer die Wahrscheinlichkeit von Hybridisierung durch die erzwungene Herunterregulierung der mütterlichen Immunreaktionen auf fetale Antigene. Reproduktive Imkompatibilität kann die Evolution des weiblichen Immunsystems stark beeinflussen.
Auch Neandertalerknochen enthalten nur Neu5Ac, keine Neu5Gc, was die (wenn auch schwache) Hybridisierung mit moderenen Menschen erklären kann. Evtl. führte die CMAH-Mutation bei unseren gemeinsamen Vorfahren zu einer reproduktiven Isolation von den übrigen Australopithecinen und damit zur Abspaltung der Homo-Linie.
Xiaoxia Wang et al.: Specific inactivation of two immunomodulatory SIGLEC genes during human evolution. PNAS 109(25), 2012, 9935-9940
(Koautor: A. Varki)
Sialinsäure-erkennende Ig-artige Lektine (Siglecs) sind Signalrezeptoren, die die Immunantwort regulieren und ihrerseits von bestimmten Pathogenen benutzt werden. Zwei Primaten-Siglec sind während der Evolution der Hominini nach der Abspaltung vom Schimpansen-Zweig durch Mutationen außer Kraft gesetzt worden: SIGLEC13 wurde durch eine Alu-vermittelte Rekombination ausgelöscht, und bei SIGLEC17 ist durch eine Einzelbasenmutation das Leseraster verrutscht. Siglec-13 wird auf Schimpansen-Monozyten exprimiert und ist an der angeborenen Bakterien-Abwehr beteiligt. Die humane SIGLEC17P-Pseudogen-mRNA wird immer noch in den humanen natürlichen Killerzellen exprimiert, die ein Bindeglied zwischen angeborener und adaptiver Immunantwort darstellen.
Beide Proteine rekrutieren, wenn man sie rekonstruiert, einen Signaladapter und binden Sialinsäuren. Die Expression beider Proteine verändert in Zellen der angeborenen Immunabwehr die Sekretion entzündungsfördernder Zytokine un Reaktion auf TLR-4-Stimulation. Auch können beide von pathogenen, für Neugeborene und Kleinkinder potenziell tödlichen Bakterien, die Sialinsäuren tragen, für ihre Infektionen benutzt werden. Neandertaler (Abspaltung von unseren Vorfahren vor 440.000-270.000 Jahren) und Denisova-Menschen tragen dieselben Mitationen wie der moderne Mensch; beide Loci weisen einen eingeschränkten Polymorphismus auf, was auf Selektionsprozesse vor der Entstehung des modernen Menschen hinweist. -> Die genetische Eliminierung von Siglec-13 und/oder Siglec-17 ist ein Anzeichen für eine Selektion durch Infektionen und/oder Entzündungen, die zu einem Populationsengpass (Flaschenhals) während der Menschwerdung beigetragen hat.
Siglec-3, -5 und -11 scheinen Liganden mit Sialinsäuren als „selbstassoziiert“ zu erkennen, was eine schädliche Immunreaktion begrenzt. Einige immunmodulierende pathogene Bakterien können durch molekulare Mimikry CD33rSiglac-Liganden nachahmen und so die angeborene Immunantwort dämpfen, was Infektionen erleichtert.
Polymorphismus in SIGLEC14 und SIGLEC16 in den afrikanischen Populationen -> existierte offenbar schon vor der Auswanderung moderner Menschen vor 60.000 bis 70.000 Jahren. Dass sowohl funktionale als auch Peudogen-Allele von SIGLEC-Genen so lange erhalten blieben, weist auf eine fortgesetzte Selektion hin, die durch die Notwendigkeit einer effektiven angeborenen Immunabwehr und die Versuche der Pathogene, deren Mechanismen zu unterlaufen, angetrieben wird. Molekulare Mimikry taucht immer wieder auf (konvergente Evolution bei diversen Pathogenen).
Derzeit geht man davon aus, dass alle modernen Menschen auf eine Population mit einer effektiven Größe von höchstens 10.000 Individuen zurückgehen, die vor 100.000 bis 200.000 Jahren in Afrika lebten. Die Gründe für diese geringe Populationsgröße sind unbekannt. Autoren vermuten: Pathogene. Die beiden SIGLEC-Mutationen könnten ihre Träger vor für Nuegeborene und Kleinkinder tödlichen Pathogen geschützt haben, die sich dieser beiden Transmembran-Proteien bedienten, um z. B. die TNF-Produktion in den Immunzellen und damit die Stärke der angeborenen Immunabwehr herabzusetzen.
Dass man nach 100.000 bis 200.000 Jahren immer noch genetische Spuren der damaligen Selektion an den beiden Loci findet, kann darauf hindeuten, dass die positive Selektion der Siglec-Pseudogenisierung an pathogenbedingten Populationsengpässen am Ursprung des modernen Menschen beteiligt war.
Franck Prugnolle et al.: Plasmodium falciparum is not as lonely as previously considered. Virulence 2(1), 2011, 71-76
(Zweitautor: Francisco Ayala, der bei der Arbeit von Wang et al. Editor war)
In den letzten Jahren wurden bei Menschenaffen etliche neue Malariaerreger entdeckt.
Abb. 1: Plasmodium-Stammbaum, wie man ihn bis 2009 sah. P. reichenowi (Menschenaffen) und P. falciparum (Menschen) als separater Ast; 9 weitere Arten, die Menschen und/oder diverse Affen befallen, auf anderem Ast.
Abb. 2: der neue Stammbaum der Laverania-Untergattung von Plasmodium, auf der Basis von Cytochrom-c-Sequenzen erstellt; 2 Gruppen: B (P. falciparum, P. reichenowi und 2 neue Arten) und A (3 Arten, wohl keine Homo-sapiens-Pathogene).
Abb. 4: Cospeciation-/Codivergence-Szenario Plasmodium/Hominiden mit 4 Voraussagen.
Hohe Diversität der in wilden und gefangenen Gorillas gefundenen P. falciparum-Stämme -> Hypothese von Liu et al.: Menschliche Stämme entstammen einem Transfer vom Gorilla. Beim Schimpansen deutet die „Sättigungskurve“ darauf hin, dass wir fast alle Schimpansen-Plasmodium-Arten kennen; beim Gorilla ist die Probenzahl noch viel zu klein.
Diversifizierung von Plasmodium durch zwei Prozesse möglich: (1) Cospeciation/Codivergence, also enge Koevolution mit den Wirten und Artaufspaltung, wenn die Wirtsart sich aufspaltet. (2) Wirtswechsel. Szenario (1) passt nicht zu der Aufspaltung von vier Plasmodium-Arten, die alle vier Schimpansen befallen, oder zum Vorkommen von P. falciparum sowohl beim Gorilla als auch beim Menschen. Auch die Altersschätzungen/genetischen Distanzen passen nicht zu (1).
P. falciparum ist mit Abstand der virulenteste Malaria-Erreger beim Menschen (weltweit über 1 Mio. Tote pro Jahr). Woher diese Virulenz? Verweis auf Varki et al., Sialinsäure-Mutation vor 2-3 Mio. Jahren. Finale Mutationen des RBC-Bindungsproteins EBA-175 könnten bei P. falciparum vor relativ kurzer Zeit aufgetreten sein. Bei Bonobos scheinen Infektionen mit P. falciparum nicht viel Schaden anzurichten. Noch zu klären: Sind Schimpansen und Gorillas Opfer oder Reservoire?