Ehrlich gesagt habe ich es aufgegeben, bei Multipler Sklerose (MS) den Überblick über die Fachliteratur und die Diskussionen zu ihren Ursachen und Mechanismen zu behalten: Nach meinem Eindruck wird alle paar Wochen eine neue Sau durchs Dorf getrieben, und oft wird mir nicht klar, welche Studienergebnisse nun mit welchen Theorien zusammenpassen und was sich gegenseitig ausschließt. Aber wenigstens diesen Meinungsbeitrag möchte ich vorstellen – wie immer noch nicht allgemeinverständlich zusammengefasst:
Peter K. Stys et al.: Will the real multiple sclerosis please stand up? Nature reviews Neuroscience 13, Juli 2012, 507-514; doi: 10.1038/nrn3275
Die Autoren legen dar, warum MS in ihren Augen eine Kombination aus einer primären neurodegenerativen Erkrankung und einer durch diese ausgelösten (und sie evtl. verstärkenden) Autoimmunreaktion bzw. chronischen Entzündung ist. Die nicht entzündliche primär progrediente Form der MS (PP-MS) ist ihres Erachtens die „eigentliche“ MS, die entzündlichen Formen wie die schubförmig remittierende MS (RR-MS) sind auf sekundäre (wenngleich sehr wichtige) Reaktionen zurückzuführen.
MS gilt ihnen zufolge traditionell als Autoimmunerkrankung, bei der wild gewordene T-Zellen Elemente des zentralen Nervensystems, insbesondere Myelin, angreifen. In der Zerebrospinalflüssigkeit der Patienten ist für gewöhnlich oligoklonales Immunglobulin G nachweisbar, und transiente Läsionen im Magnetresonanzscan weisen auf Entzündungen und Zusammenbrüche der Blut-Hirn-Schranke hin. Biopsien: Perivaskuläre Entzündungsinfiltrate bestehen überwiegend aus T-Zellen und Makrophagen; das Myelin wird abgebaut; die Axone degenerieren. Neuere Belege: nicht nur weiße, auch graue Substanz (Neuronen und Synapsen) betroffen.
Allgemein wird angenommen, dass die Pathophysiologie mit Immundysregulation beginnt, die das ZNS schädigt (Outside-in-Modell). Das passt aber nicht zu allen Befunden. Die Autoren vergleichen MS mit anderen neurodegenerativen Krankheiten, die wie Alzheimer oder Parkinson Stoffwechselursachen haben und nicht mit auffälligen Entzündungsphasen einhergehen. Sie schlagen ein alternatives Inside-out-Modell vor und untersuchen, welche molekularen Strukturen bei MS ohne primäre Beteiligung des Immunsystems gestört sein könnten.
Klinische Beobachtungen und Unstimmigkeiten
1. Die Myelinscheiden werden von innen her zerstört; äußere Schicht anfangs oft noch intakt. Das spricht gegen frühe Attacken durch Antikörper oder Immunzellen, die von außen kommen. Demyelinisierung scheint Entzündungen manchmal voranzugehen. Biopsien: oft kaum T- oder B-Zell-Infiltration in Gebiete mit starker Demyelinisierung und Oligodendrozyten-Verlust; wohl Makrophagen-Infiltration und Mikroglia-Aktivierung, also angeborene Immunreaktion zur Beseitigung von Zelltrümmern. Wegen der starken immunogenen Wirkung von Myelin-Antigenen kommen dann schnell Entzündungsreaktionen dazu – je mehr Antigene aus dem Myelin freigesetzt werden, desto heftiger.
2. In MS-Gehirnen oft auch diffus abnormale weiße Substanz, in der die Myelin- und die Axondichte verringert ist, die aber nicht erkennbar entzündet ist. Auf eine Beteiligung der adaptiven Immunabwehr deutet zunächst nicht viel hin. Reine Korrelationen zwischen Grad der Zellschädigung (v. a. Axonschädigung) und Grad der T- und B-Zell-Infiltration bei Patienten im Spätstadium der PP-MS sagen nichts über die Richtung der Verursachung aus.
3. Immunmodulatoren sind bei RR-MS-Patienten sehr effektiv in der Reduzierung, oft sogar beinahe Behebung von Schüben und Entzündungen, während sie in späteren Phasen und bei PP-MS, die ohne Entzündungsschübe verläuft, nahezu unwirksam sind. Auch Transplantationen autologer hämatopoetischer Stammzellen lassen zwar die Entzündungen im ZNS abklingen, aber die Demyelinisierung, die Axondegeneration und die Gehirnatrophie setzen sich ungehemmt fort. Wäre Autoimmunität die Ursache der Krankheit, müsste eine starke Dämpfung der Immunabwehr oder ein Zurücksetzen des Immunsystems den späteren, progredienten Verlauf der Krankheit eigentlich ebenso aufhalten wie die frühere, schubförmig remittierende Krankheitsphase. Letzten Endes scheint MS bei beiden MS-Formen ähnlich zu verlaufen, ob nun mit oder ohne die Entzündungsschübe.
4. Genetische Studien zur Prädisposition: MHC hat den größten Einfluss, viele weitere Immungene beteiligt, v. a. solche für T-Zell-Funktion. Aber fast 90% der Patienten bei solchen Studien haben RR-MS; Aussagen über PP-MS so kaum möglich. Bei Letzterer nur vier robuste Assoziationen mit Genen, die nichts mit dem Immunsystem zu tun haben.
Neudefinition von MS
Nach dem Inside-out-Modell ist MS primär eine Zelldegeneration, die anfangs Oligodendrozyten und Myelin betrifft, evtl. Jahre vor den ersten klinischen Symptomen. Im Unterschied zu anderen monoton progredienten neurodegenerativen Erkrankungen reagiert das Immunsystem heftig auf stark autoantigene Komponenten, z. B. citrulliniertes MBP (Myelin-Basisprotein), Myelinlipide und Phosphatidylserin aus apoptotischen Myelinmembranen.
Individuelle Unterschiede im Immun-Priming könnten die verschiedenen MS-Formen erklären: Die seltene, aggressive Marburg-Variante trifft Leute, deren Immunsystem besonders dazu neigt, stark auf die freigesetzten Antigene zu reagieren. PP-MS: Immunsystem reagiert schwach, mehr Ähnlichkeit mit Verlauf von Alzheimer und Parkinson. Mehrheit der Patienten (ca. 85%): zwischen diesen Extremen. Geschwindigkeit der zugrunde liegenden Neurodegeneration scheint von Alter beim Ausbruch, der Intensität der anfänglichen Entzündung und anfänglichem PP- oder RR-Typus unabhängig zu sein. (Diagramm: steigende Gerade = zugrunde liegende Neurodegeneration, darübergelagerte Entzündungsschübe)
Höchstwahrscheinlich verschärft die Immunreaktion/Entzündung dann wiederum die weitere Beschädigung des ZNS -> Teufelskreis. [Das erscheint mir widersprüchlich: Wenn es einen Teufelskreis gibt, dann dürfte die Neurodegeneration m. E. nicht linear verlaufen wie im Diagramm. -AK]
Neuinterpretation von Forschungsergebnissen
RR-MS am häufigsten -> am besten erforscht. 30% Konkordanz bei eineiigen Zwillingen könnte auf erbliche Voreinstellung des Immunsystems hindeuten, wobei der Auslöser der Immunreaktion kaum untersucht und verstanden ist. Zu wenig Daten über erbliche Veranlagung bei PP-MS. Tiermodelle: Problem der viel verwendeten Experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE) ist, dass die Nagetiere Myelinantigene zusammen mit Immunverstärkern injiziert bekommen, um eine starke Entzündung und Autoimmunreaktion auf ZNS-Myelin hervorzurufen. Der evtl. zugrundeliegende neurodegenrative Prozess wird damit u. U. nicht gut modelliert.
Weiteres Beispiel: Harding-Syndrom = Assoziation zwischen Leberscher Optikusatrophie (LHON), die zu Mutationen im Mitochondriengenom führt, und RR-MS. Autoren halten diese Mutationen für die Ursache, die zu Degeneration von weißer Substanz im ZNS und daraufhin bei Menschen mit entsprechender Autoimmun-Prädisposition zu Entzündungsreaktionen führt. Der Verlauf wäre im Rahmen des Inside-out-Modells plausibel zu erklären.
Potenzielle Mechanismen
Was löst die progrediente Zelldegeneration aus? Alles Folgende spekulativ. Evtl. Kupferionenmangel im ZNS -> NMDA-Rezeptor (NMDAR) in Myelin, Oligodendrozyten und Neuronen desensibilisiert/daueraktiv -> Demyelinisierung und Verlust myelinisierender Oligodendrozyten -> Degeneration weißer und grauer Sybstanz. NMDA-Rezeptoren könnten auch kupferunabhängig fehlgesteuert sein.
Sekundäre Entzündung: Nicht Oligodendrozytenbeschädigung als solche, sondern nur bestimmte biochemische Veränderungen des Myelins könnten spezifische Antigene freisetzen, die bei entsprechender Veranlagung Autoimmunreaktionen auslösen. Die Veränderungen könnten z. B. ein NMDA-Rezeptor-vermittelter CA2+-Influx ins Myelin oder eine pathologische Aktivierung von Ca2+-abhängigen Enzymen sein, die wiederum zur Citrullinierung von Myelinproteinen führt. Das würde erklären, warum bei MS anfangs vor allem die inneren Myelinschichten Schaden nehmen. Bei MS-Patienten wurde ein erhöhter Anteil an citrulliniertem MBP nachgewiesen. Die Argininreste im MBP werden Ca2+-abhängig von Peptidylarginin-Deiminase 2 citrulliniert, die in Myelin vorkommt.
Ob es zu einer Immunreaktion kommt, dürfte stark davon abhängen, welcher Teil der Oligodendrozyten degeneriert: Ist ihr Soma betroffen, wird keine Reaktion ausgelöst, ist das Myelin betroffen, wohl. MS beginnt demnach mit einer Myelinopathie.
Axone können durch dieselben Prozesse beschädigt werden oder aber aufgrund der Demyelinisierung sekundär degenerieren; für Letzeres drei Erklärungsansätze:
1. Es könnte sich um „Kollateralschäden“ durch die Freisetzung von Glutamat, Stickoxid (NO), Zytokine und Perforin aus Immunzellen an den Entzündungsherden handeln, aber dagegen spricht, dass die progrediente Axon-Pathologie sich nicht auf die Umgebung der entzündeten Stellen beschränkt, sondern auch in normal aussehender weißer Substanz abläuft.
2. Myelinscheide verringert Enegiebedarf der Impulsweiterleitung in den Axonen. Myelinschädigung benachteiligt die betroffenen Axone durch Ionenverlust über die nicht mehr richtig isolierte Axonmembran -> Energiebedarf übersteigt Energievorräte -> Axon-Degeneration.
3. Im peripheren Nervensystem unterstützen Gliazellen die Axone, indem sie ihnen Polyribosomen zur Verfügung stellen, sodass die Axone benötigte Proteine lokal herstellen können, statt sie aus dem fernen Soma heranzutransportieren. Könnten auch im ZNS Oligodendrozyten Axone auf diese Weise unterstützen? Bislang rein hypothetisch, aber dann könnte Oligodendrozytendegeneration zu Ribosomenmangel und sekundärer Axondegeneration führen.
Schluss und Ausblick
Plädoyer, PP-MS in Studien nicht zu vernachlässigen, da sie vermutlich „typischer“ für die „eigentliche“ MS ist als RR/MS. Warnung vor Festlegung auf EAE als Tiermodell; besser wären Degenerationsmodelle, bei denen primär Oligodendrozyten, Myelin und Axone geschädigt werden – z. B. das Cuprizon-Modell (Kupfermangel -> ZNS-Demyelinisierung). In Zukunft sollten Therapien auf beide Aspekte der MS gleichermaßen abzielen und nicht nur auf die Entzündungen.
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Tatsächlich ist es ein Fortschritt, zwischen den beiden MS-Varianten zu unterscheiden und deren unterschiedliche Bildung. In beiden Fällen wird mit „Kanonen auf Spatzen“ geschossen und man tappt Immernoch (eigentlich) im Dunkeln. Umso mehr im PP-Verlauf. Besonders hier kann nur vorhandenes angewandt werden. Schade, dass es nicht genügend Potential her gibt, um rentable Forschungsarbeiten (?) zu betreiben. ..wäre sicherlich eine Starke Motivation für die Pharmaindustrie. Aber bestimmt ist man hier schon weiter.. und will die „Katze nicht aus dem Sack“ lassen!