Mind the gap: Der lange Weg des Gesundheitswesens ins Netz (re:publica-Rückblick, Teil 1 von 2)

Von Montag bis Mittwoch war ich in Berlin auf der re:publica – meiner dritten. Diesmal habe ich mich auf die Themen Opendata/OpenGov, neue Wege in der Wissenschaftsberichterstattung und Gesundheit konzentriert. Die Gesundheitsthemen, von denen im Folgenden ausschließlich die Rede sein wird, werden auf der re:publica von Tobias Neisecke kuratiert, der die Sessions am Dienstag und Mittwoch auch moderierte.

Tobias habe ich im März in Freiburg kennen gelernt, und zwar gegen Ende des Workshops zu systematischen Übersichtsarbeiten, den die Cochrane Collaboration zweimal im Jahr anbietet: Gerd Antes, der Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, machte im Rahmen seiner Vorlesung einige unvorsichtige Behauptungen über den Einfluss von Social Media auf die Verbreitung von evidenzbasiertem Medizinwissen, und Tobias, der zufällig neben mir saß, warf ganz zu Recht ein, das sei jetzt aber nicht gerade evidenzbasiert gewesen. 🙂

Die Situation war typisch, und zwar branchenübergreifend: Koryphäen, die sich mit Social Media nicht auskennen (was keine Schande ist), meinen dennoch darüber urteilen zu können (was zum Problem werden kann). Das verzögert das letztlich zwangsläufige Zusammenwachsen der Welten und schränkt Gestaltungsspielräume ein. Um einen Stoßseufzer zu zitieren, den Frank Krings vom diesjährigen Buchcamp absetzte:

Ein typisches Beispiel lieferte der Medizinanwalt Sebastian Vorberg in seinem Kurzreferat beim Panel „Zukunft der Gesundheitsversorgung: Internetmedizin in Deutschland“: Obwohl es das von der Bundeärztekammer vehement postulierte und verteidigte Fernbehandlungsverbot eigentlich gar nicht gebe, sei die Seite „Dr. Ed – Ihr Arzt im Netz“ ins Ausland gedrängt worden. Nun bedient sie immer noch deutsche Kundschaft, aber sie ist jeder regulatorischen Einflussnahme entzogen. So schneidet sich die Ärzteschaft nach Vorbergs Überzeugung ins eigene Fleisch: Durch vordergründig erfolgreichen Lobbyismus koppelt sie sich selbst von der technisch-gesellschaftlichen Entwicklung ab.

Neben dem angeblichen Fernbehandlungsverbot, das ein postuliertes besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten schützen soll, wird auch der Datenschutz gerne ins Feld geführt, um ärztliche Privilegien zu erhalten. Nach Vorbergs Einschätzung ist der Missbrauch von Patientendaten heute ein geringeres Problem als die Beschneidung der Patientenselbstbestimmtungsrechte und möglicher Synergien in der Vorsorge und Therapie: Die Bürgerinnen und Bürger sollten selbst entscheiden dürfen, wem sie Zugriff auf ihre elektronischen Patientenakten geben, denn medizinisches Wissen, das immer und überall verfügbar ist, sei potenziell lebensrettend. Datenschutzrechtlich problematischer sei ein automatisches Zugriffsrecht des Staates, der Krankenversicherungen oder gar der Arbeitgeber.

Der Kinderarzt und Gesundheitswissenschaftler Dr. Markus Müschenich ordnete in seinem Kurzvortrag die Internetmedizin zunächst historisch ein: Vorangegangen seien ihr die sogenannte Telemedizin, hinter der noch ein nur oberflächlich „digitalisiertes“ Analogdenken stand, und E-Health-Anwendungen, denen ebenfalls ein traditionelles Arzt- und Patientenverständnis zugrunde lag: Der Arzt gibt Anweisungen, der Patient führt sie aus. In naher Zukunft kann die Internetmedizin für viele Indikationen eine normale dritte Möglichkeit neben der klassischen Alternative „ambulant oder stationär“ werden, vor allem, wenn der nächste Facharzt eine halbe Tagesreise entfernt praktiziert und erst in drei Monaten einen Termin frei hat.

Denn wer ständig online ist, kann im Prinzip auch ständig mit seinen Gesundheitsdaten vernetzt sein und beispielsweise Einkaufshilfen nutzen, die auf diese Daten zugreifen: Welcher Autositz passt zu meiner Wirbelsäulenverkrümmung? Von welchen Supermarktprodukten sollte ich bei meinem Blutzuckerwert die Finger lassen? Laut Müschenich sind Supermärkte für das Gesundheitssystem mindestens so wichtig wie Krankenhäuser, aber mit solchen Äußerungen stößt man viele Ärzte und andere Player im Gesundheitswesen noch vor den Kopf.

Smartphone-Apps usw. können aber nicht nur in der Prävention eingesetzt werden, sondern auch heilen. So hat die Firma Caterna eine Software für Kinder mit einer einseitigen Sehschwäche entwickelt, bei der ein Reizmuster, dem sie beim Spielen am Bildschirm ausgesetzt sind, das Abschalten des einen Auges verhindert – und sogar rückgängig machen kann, dank der neuronalen Plastizität. Müschenich zufolge könne das Beharrungsvermögen des deutschen Systems (Stichwort: „elektronische Gesundheitskarte“) die Teilhabe deutscher Patientinnen und Patienten an dieser Entwicklung zwar bremsen, aber nicht verhindern: Internetmedizin wird sich durchsetzen.

Um die Möglichkeiten der Internetmedizin aufzuzeigen und sowohl gedankliche als auch regulatorische Hemmnisse durch Überzeugungsarbeit aus dem Weg zu räumen, haben Vorberg und Müschenich gemeinsam mit der PR-Beraterin Miriam Quentin 2012 den Bundesverband Internetmedizin gegründet, der auf dem Panel vorgestellt wurde. Nach ihrem Eindruck schreitet die Demokratisierung oder Säkularisierung in der Medizin unaufhaltsam fort: War anfangs Gott für unser Wohlergehen zuständig, so waren es später die Ärztinnen und Ärzte – und jetzt sind wird, die Bürgerinnen und Bürger, selbst in der Pflicht. Die Patientengemeinschaft könne sich als treibende Kraft der Entwicklung erweisen. Bezeichnenderweise würden sehr viele Health-Startups nicht von Medizinern gegründet, sondern von „Außenstehenden“ – beispielsweise Angehörigen von chronisch Kranken, die im Alltag erleben, welche Versorgungslücken es gibt.

Ein Besucher der Session wollte von den dreien wissen, welche Rolle die Quantified-Self-Bewegung in diesem Kontext spielen könne. Müschenich zufolge eine große: So dürften sich alle möglichen medizinischen Normwerte verschieben, sobald die Messerwerte zahlreicher Quantified-Self-Praktiker gepoolt zur Auswertung bereitstünden. Auf die Frage, ob Internetmedizin auch kostengünstiger sei als ambulante oder stationäre Medizin, reagierte er mit deutlichen Worten: Diese Besessenheit vor allem der Kassen vom Einsparpotential sei „zum Kotzen“; die wichtigere Frage sei doch, ob etwas wirke.

Das Fazit der Veranstaltung vom Dienstag: Der größte Bremser der Entwicklung der Internetmedizin ist nicht der besorgte Bürger (auch im Saal überwogen Zustimmung und Optimismus, obwohl das re:publica-Publikum beispielsweise Datenschutz durchaus wichtig findet). Es sind vielmehr die struktuell konservativen, mächtigen Verbände im deutschen Gesundheitssystem – und die Vorurteile vieler Ärzte. Genau hier will der neue Verband ansetzen.

(Teil 2 wird die Sessions vom Mittwoch behandeln. Übrigens: am 8. und 9. Juni findet in Hamburg das erste HealthcareCamp statt – der ideale Ort zum Weiterdiskutieren!)

3 Gedanken zu „Mind the gap: Der lange Weg des Gesundheitswesens ins Netz (re:publica-Rückblick, Teil 1 von 2)

  1. Irene

    Sehr interessant!

    Die Bundesärztekammer ist ja auch nur ein Lobbyverband und keine öffentliche Körperschaft wie die Landesärztekammern. Ein false friend sozusagen.

    Ich habe mir die verlinkte Quantified-Self-Website angesehen – da scheinen ja fast nur Männer unterwegs zu sein. Dabei gibt es doch auch viele Frauen, vor allem im Bereich der natürlichen Verhütung und Familienplanung, die sehr gut dazu passen würden. Wissen die gar nicht voneinander? Im Moment kommt mir die Website noch etwas fitness-lastig vor: Sport, Muckis, Ernährung…

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  2. Andrea Kamphuis Beitragsautor

    Ich hatte vor einigen Wochen bei einer Social-Media-Veranstaltung in Köln mal gefragt, wie hoch der Frauenanteil in der Quantified-Self-Szene ist. Antwort sinngemäß: verschwindend gering. Vielleicht erfahre ich morgen Abend beim ersten Treffen der Kölner Quantified-Self-Szene mehr über die Ursachen.

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