Im Vorgriff auf den großen letzten Teil des Buches (Evolution des Immunsystems) fasse ich hier zwei aktuelle Veröffentlichungen aus dem American Journal of Human Genetics zusammen.
M. Dannemann, A. M. Andrés, J. Kelso (2016): Introgression of Neandertal- and Denisovan-like Haplotypes Contributes to Adaptive Variation in Human Toll-like Receptors (PDF)
Als unsere Vorfahren aus Afrika nach Europa kamen, fanden sie nicht nur die mit ihnen verwandten Neandertaler vor, die hier bereits über 200.000 Jahre lebten, sondern sie waren auch neuen Krankheitserregern ausgesetzt, gegen die die Neandertaler bereits Genvarianten entwickelt hatten. Ähnlich ging es denjenigen modernen Menschen, die nach Asien weiterzogen und unterwegs den Denisova-Menschen begegneten.
Die Autoren haben in den Genomdaten aus dem „1000 Genomes“-Projekt eine Gruppe von drei Genen auf Chromosom 4 ausfindig gemacht, die Rezeptoren der angeborenen Abwehr gegen Bakterien, Pilze und Einzeller codieren: TLR-1, TLR-6 und TLR-10. Diese Rezeptoren erkennen weit verbreitete Antigene wie bakterielles Flagellin, lösen als Teil der ersten Verteidigungslinie gegen Infektionen Entzündungsreaktionen aus und aktivieren auch die erworbene Abwehr. Die in das Genom des modernen Menschen eingekreuzten Genvarianten aus den archaischen Menschen verändern nicht die Aminosäuresequenzen der Rezeptorproteine, sondern die Ablesestärke (das Expressionsniveau) der Gene.
Die Gene weisen starke Anzeichen für gleich drei Einkreuzungen auf: zweimal vom Neandertaler, einmal vom Denisova-Menschen. Dass diese bereits vor etwa 50.000 Jahren eingekreuzten Genvarianten nicht nur erhalten blieben, sondern in bestimmten Populationen sehr häufig sind, deutet auf eine positive Selektion hin: Sie brachten in den neuen Umwelten außerhalb Afrikas Überlebensvorteile mit sich. So sind Menschen, die diese Varianten tragen, weniger empfindlich für Infektionen mit dem Magenbakterium Helicobacter pylori und zugleich anfälliger für Allergien. (Der Selektionsdruck dürfte aber von anderen, gefährlicheren Krankheitserregern als H. pylori ausgegangen sein; die Magenkeim-Resistenz ist nur ein Marker für die Schlagkraft der angeborenen Abwehr.)
Solche Einkreuzungen sind für eine Gründerpopulation, die in einen neuen Lebensraum vordringt, deshalb so wertvoll, weil eine solche Population typischerweise aus relativ wenigen und zudem nah verwandten Individuen besteht, sodass das Spektrum der Genvarianten sehr eng ausfällt. Gerade zur Abwehr zahlreicher unterschiedlicher Pathogene ist eine Auffrischung durch neue – in diesem Fall bereits bewährte, gewissermaßen in archaischen Menschenarten „vorselektierte“ – Varianten vorteilhaft.
M. Deschamps et al. (2016): Genomic Signatures of Selective Pressures and Introgression from Archaic Hominins at Human Innate Immunity Genes (PDF)
Auch dieses französische Forscherteam hat den TLR6-TLR1-TLR10-Gencluster als eine der Stellen in unserem Genom identifiziert, die die stärksten Spuren von Einkreuzungen aus archaischen Menschenarten aufweisen. Insgesamt standen die Gene des Immunsystems offenbar unter einem stärkeren Selektionsdruck als andere Gene. Das Team hat in unserem Genom sowohl extrem stark konservierte Gene der angeborenen Immunabwehr aufgespürt, deren Produkte – etwa STAT1 oder TRAF3 – offenbar so essenzielle Aufgaben erfüllen, dass hier kaum Spielraum für evolutionäre Weiterentwicklungen blieb, als auch andere Gene, in denen – wie beim o. g. Cluster – wegen einer gewissen funktionellen Redundanz mehr Wandel möglich war, sei es durch Einkreuzungen, sei es durch adaptive Varianten (Mutation und Selektion) in einzelnen Populationen.
Viele durch positive Selektion in lokalen Populationen (sogenannte selective sweeps) etablierte Varianten in den Genen der angeborenen Abwehr sind mit der Empfänglichkeit für weit verbreitete Infektionserkrankungen oder mit Autoimmunerkrankungen assoziiert. Die meisten selective sweeps in afrikanischen Populationen sind unvollständig (neue Variante im Durchschnitt bei 42 Prozent der Individuen); in Europa und Asien haben sich die neuen Varianten dagegen bei 67 bzw. 81 Prozent der Menschen durchgesetzt. Das passt zu den relativ kleinen Gründerpopulationen und den stark veränderten Umweltbedingungen, denen sie out of Africa ausgesetzt waren.
Die meisten Veränderungen im Code dieser Gene sind aber erst in den letzten 13.000 bis 6000 Jahren aufgetaucht, also in der Zeit des Übergangs vom Umherziehen, Jagen und Sammeln zu Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht. Das ist plausibel, da die neue Lebensweise mit einer höheren lokalen Bevölkerungsdichte, engem Kontakt zu Vieh, zeitweiliger Nahrungsmittelknappheit und verschlechterten hygienischen Bedingungen, später dann auch mit einem großflächigen Bevölkerungswachstum einherging: Faktoren, die den Pathogendruck stark verändert haben, sodass Anpassungen des Immunsystems bitter nötig wurden. Insbesondere machten sich nun Viren breit, die zum langfristigen Überleben auf eine dichte und gut vernetzte Bevölkerung angewiesen sind.
So konnte sich eine Variante des Gens MERTK bei 79 Prozent der Asiaten durchsetzen; sie geht mit einer hohen Resistenz gegen Hepatitis C einher. Die wohl aus dem Neandertaler stammenden Varianten der sogenannten Restriktionsfaktoren IFITM1 bis IFITM3 begrenzen die Vermehrung zahlreicher Viren, darunter Influenza-Viren, und verringerten so wohl die Sterblichkeit und die Krankheitsschwere bei Grippewellen. Andere vorteilhafte Varianten im TLR6-TLR1-TLR10-Gencluster, etwa eine starke Resistenz gegen den Lepra-Erreger, stammen dagegen nicht aus Neandertaler-Einkreuzungen, sondern sind erst später hinzugekommen.
Die heutige Variantenvielfalt in solchen Genregionen hat also mehrere Quellen wie Einkreuzung aus archaischen Menschenarten und spätere selective sweeps. Welche Krankheitserreger den Selektionsdruck jeweils aufgebaut haben, ist oftmals kaum noch zu rekonstruieren.
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