Chronologische Sammelbesprechung von fünf Arbeiten aus den letzten 30 Jahren; noch nicht allgemeinverständlich aufbereitet; Anlass der Recherche war mein erster (und hoffentlich letzter), harmloser und kurzer Migräne-Anflug mit Aura vorletzte Woche:
Norman Geschwind, Peter Behan: Left-handedness: Association with immune disease, migraine, and developmental learning disorder. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 79, 1982, 5097-5100
Eine damals aufsehenerregende Arbeit, in der die aus klinischen Beobachtungen gewonnene Hypothese getestet werden sollte, dass bei Linkshändern und ihren Angehörigen Autoimmunerkrankungen, Migräne und Lernschwierigkeiten wie Dyslexie gehäuft auftreten. In zwei voneinander unabhängigen Studien wurden Immunstörungen und Lernschwierigkeiten bei Linkshändern deutlich häufiger festgestellt als bei Rechtshändern. In einer dritten Studie wurde der Linkshänderanteil bei Menschen mit Migräne bzw. der Autoimmunerkrankung Myasthenia gravis mit dem Linkshänderanteil in einer Kontrollgruppe aus der Allgemeinbevölkerung verglichen; er war höher.
In der ersten Studie wurden die Daten durch Fragebögen erhoben, die in einem Laden für Linkshänderprodukte auslagen. Zu den Autoimmunerkrankungen, von denen die Kunden berichteten, gehörten Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Zöliakie, Uveitis, rheumatoide Arthritis, Morbus Basedow und Hashimoto-Thyreoiditis. Die Fragen zur Migräne erwiesen sich als unbrauchbar, da man an den Antworten Migräne nicht sicher genug von anderen Kopfschmerzen unterscheiden konnte. Die Linkshänder gaben 2,7-mal häufiger an, Autoimmunerkrankungen zu haben, als die Rechtshänder aus der Kontrollgruppe.
In der zweiten Studie wurden die Selbstauskünfte durch Krankenhaus-Diagnosen ersetzt. Bei den Linkshändern gab es 2,3-mal so viele diagnostizierte Autoimmunerkrankungen wie bei den Rechtshändern.
In der dritten Untersuchung wurde das Pferd andersherum aufgezäumt: Patienten, die sich in einer Klinik wegen Migräne oder der Autoimmunerkrankung Myasthenia gravis behandeln ließen, wurden befragt, ob (und wie ausgeprägt) sie Links- oder Rechtshänder waren. (Für andere Autoimmunerkrankungen, die in den ersten beiden Studien öfter genannt wurden, lagen nicht genug Daten vor.) Der Linkshänderanteil in der Kontrollgruppe war mit 7,2% typisch für die schottische Bevölkerung. Unter den Migräne- und den Myasthenia-gravis-Patienten war er mit 11,6% bzw. 13,3% demgegenüber erhöht.
Die Autoren stellten die Hypothese auf, dass bei den Betroffenen ein Hormon (vermutlich Testosteron) im Mutterleib sowohl die Entwicklung der linken Gehirnhälfte (-> Dyslexie und Linkshändigkeit) als auch die Reifung des Immunsystems (-> Autoimmunerkrankungen) beeinträchtigt, letzteres zum Beispiel durch Behinderung des Thymus-Wachstums und damit Störung der Lymphozyten-Entwicklung. Wenn es Testosteron ist, sollten Männer stärker betroffen sein als Frauen. Dyslexie wird tatsächlich bei Jungen viel häufiger diagnostiziert als bei Mädchen. Die meisten Autoimmunerkrankungen treten dagegen bei Frauen häufiger auf als bei Männern. Das erklärten sich die Autoren mit der später einsetzenden Schutzwirkung des Testosterons, durch die jene Autoimmunerkrankungen, die erst nach der Pubertät ausbrechen, bei Männern seltener seien. Außerdem könne der Zusammenhang auch umgekehrt verlaufen: Diejenigen Gene, die die Empfindlichkeit des Immunsystems regeln, könnten auch die Auswirkung von Testosteron auf die Entwicklung der linken Gehirnhälfte beeinflussen.
Finn Egil Tønnessen et al.: Dyslexia, Left-handedness, and Immune Disorders. Arch Neurol 50, 1993, 411-416
Die Autoren haben 734 etwa 12 Jahre alte Schulkinder aus Stavanger (Norwegen) auf ihre Lesefertigkeiten untersucht und die Eltern nach der Händigkeit und Immunstörungen (Allergien und Asthma) der Kinder befragt. Sie fanden eine signifikante Assoziation von Händigkeit und Dyslexie sowie eine signifikante, aber schwache Assoziation von Händigkeit und Immunstörungen. Zwischen Dyslexie und Immunstörungen ergab sich kein signifikanter Zusammenhang.
Bei einer triadischen Analyse zeigte sich: 66,7% der linkshändigen dyslektischen Kinder hatten auch Immunstörungen; 42,1% der linkshändigen Kinder mit Immunstörungen waren auch dyslektisch; 32% der dyslektischen Kinder mit Immunstörungen waren auch linkshändig. Unter den Kindern mit Immunstörungen waren 3-mal so viele linkshändige Dyslektiker wie unter den Kindern ohne Asthma oder Allergie. Unter den Linkshändern waren 5-mal so viele dyslektische Kinder mit Immunstörungen wie unter den Rechtshändern. Unter den dyslektischen Kindern waren 6,5-mal so viele Linkshänder mit Immunstörungen wie unter den Kindern ohne Dyslexie. (Alle Zahlen: nicht absolut, sondern relative Häufigkeiten.) Die Autoren interpretieren das als Indizien für die Hypothese von Geschwind und Behan, dass es hinter Dyslexie, Linkshändigkeit und Immunstörungen einen gemeinsamen Faktor gibt.
Alan Searleman, Andrea K. Fugagli: Suspected autoimmune disorders and left-handedness: evidence from individuals with diabetes, Crohn’s disease and ulcerative colitis. Neuropsychologia 25, 1987, 367-374
Um die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen Linkshändigkeit und bestimmten Störungen mit Autoimmunkomponente zu testen, haben die Autoren das „Händigkeitsmuster“ bei Menschen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes, Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sowie in einer „normalen“ Kontrollgruppe untersucht. Im Einklang mit älteren Studien fanden sie einen gegenüber der Allgemeinbevölkerung signifikant höheren Linkshänderanteil bei Morbus-Crohn- und Colitis-ulcerosa-Patienten (etwa 26-28% gegenüber etwa 11-15% in der Kontrollgruppe).
Bei Männern war zudem der Linkshänderanteil bei Typ-1-Diabetes (Autoimmunerkrankung) höher als bei Typ-2-Diabetes (keine Autoimmun-Ätiologie). Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Hypothese von Geschwind und seinen Kollegen, denn Typ-1-Diabetes bricht oftmals vor Beginn der Pubertät und damit vor dem Umschlagen der Testosteronwirkung in einen Schutz vor Autoimmunerkrankungen auf. Allerdings war das Ergebnis nur bei einem einseitigen Test signifikant. Außerdem war der Anteil der Linkshänder in dieser Studie bei den Männern insgesamt nicht signifikant größer als bei den Frauen – anders als in der Literatur angegeben. Bei Frauen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen war der Linkshänderanteil sogar größer als bei den männlichen CED-Patienten.
Charis Lengen et al.: Anomalous brain dominance and the immune system: Do left-handers have specific immunological patterns? Brain and Cognition 69, 2009, 188-193
Anders als in älteren Studien, die sich auf die humorale Immunreaktion konzentriert hatten (Antikörper), wurden hier auch mögliche Zusammenhänge zwischen Linkshändigkeit und der zellulären Immunabwehr bei 64 gesunden männlichen Probanden untersucht. Im Vergleich zu den Rechtshändern gab es bei den Linkshändern signifikant weniger inflammatorische Zelltypen (T-Zellen insgesamt, T-Helferzellen, antigenpräsentierende Zellen) sowie B-Zellen und natürliche Killerzellen. Die Autoren schließen daraus, dass sich der Zusammenhang zwischen der Hemisphärenspezialisierung und der Entwicklung des Immunsystems nicht auf das humorale Immunsystem beschränkt.
Außerdem haben sie bei den Linkshändern nach überproportional vertretenen HLA-Allelen (= MHC Typ II) gefahndet. MHC-II-Moleküle werden auf den Oberflächen von antigenpräsentierenden Zellen (Makrophagen, dendritische Zellen, Mikrogliazellen im Gehirn) exprimiert und präsentieren dort den T-Helferzellen vorverarbeitete Antigene. Im Vergleich zur schweizerischen, italienischen und französischen Allgemeinbevölkerung waren die HLA-Loci A9KL23, B7, CR1, DR2 und DQ3 bei den Linkshändern in dieser Studie stark überrepräsentiert. Damit sind HLA-Allele, die als Autoimmunmarker für Multiple Sklerose (MS), Myasthenia gravis, Typ-1-Diabetes und Autoimmun-Kollagenosen wie SLE oder Sklerodermie gelten, bei Linkshändern häufiger. Die Stichprobe war allerdings zu klein, um den Zusammenhang unzweifelhaft zu belegen.
Die neuroimmunologischen Vorgänge hinter diesen Zusammenhängen bleiben vorerst im Verborgenen. Der Einfluss kann in alle Richtungen gehen (Hormone – Nervensystem – Immunsystem); die Verbindung könnten z. B. die Mikrogliazellen im Gehirn darstellen. Auf Seiten des Immunsystems können neben Antikörpern auch Zytokine beteiligt sein. Dopamin beeinflusst beim Menschen laterales Verhalten (Drehungen) und die Händigkeit, aber auch das Immunsystem: Je nach dem Rezeptor, an den es andockt, hemmt es die T-Zell-Aktivität oder fördert ihre Proliferation und Adhäsion. Auch Serotonin, Katecholamine und Noradrenalin könnten beteiligt sein; sie wurden z. B. mit MS, SLE und rheumatoider Arthritis in Verbindung gebracht.
H. Gardener et al.: The relationship between handedness and risk of multiple sclerosis. Multiple Sclerosis 115, 2009, 587-592
Prospektive Kohortenstudie mit 121.701 Krankenschwestern aus den USA. Beim Follow-up von 1976 bis 2002 traten 210 gesicherte MS-Fälle auf. Dabei zeigte sich, dass linkshändige Frauen ein gegenüber Rechtshänderinnen um 62% (moderat) erhöhtes Risiko haben, an MS zu erkranken. Vermutlich liegt dies an der pränatalen Sexualhormon-Exposition, aber der direkte Nachweis steht noch aus, und es ist auch nicht sicher, dass dieses Hormon Testosteron ist: Da maternales Testosteron in der Placenta und im fetalen Nervengewebe in Estradiol umgewandelt wird, kann es auch Estradiol sein. Auch pränataler Stress kann sich über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse auf die Händigkeit auswirken und die Immunfunktion und die Thymus-Entwicklung beeinträchtigen.
Die Autoren erwähnen, dass einigen Studien zufolge bei Linkshändern auch das Brustkrebsrisiko, das CED-Risiko sowie die Mortalität durch Kolorektalkarzinome und durch Schlaganfälle moderat erhöht sind. In anderen Studien wurden dagegen keine signifikanten Zusammenhänge zwischen der Händigkeit und diesen Erkrankungen festgestellt.
Die Ergebnisse lassen sich nicht ohne Weiteres auf Männer übertragen, da Testosteron sich bei männlichen und weiblichen Feten offenbar unterschiedlich auf die Lateralisation des Gehirns auswirkt.
Habe ich das richtig verstanden, dass Linkshändigkeit bei Männern allgemein häufiger sein soll?
Wenn das so ist, melde ich mal Zweifel an. Vielleicht lassen sich die Mädchen nur leichter umerziehen, während Jungs mehr abweichendes Verhalten zugestanden wird.
In der älteren Literatur heißt es wohl oft, dass der Linkshänderanteil bei Männern höher sei als bei Frauen. In der einzigen der hier besprochenen Arbeiten, die diese Frage direkt adressiert (Searleman), hat man dagegen zwischen den Geschlechtern keinen signifikanten Unterschied im Linkshänderanteil festgestellt.
Bei den sorgfältigen Studien wird das Ausmaß der Händigkeit ziemlich genau erfasst, um eben keinen Umerziehungseffekten auf den Leim zu gehen. Gut möglich, dass das in älteren Studien zum Teil versäumt wurde.
Auch der weibliche Körper produziert Testosteron, wenngleich weniger als der männliche Körper. Sowohl auf weibliche als auch auf männliche Feten wirkt während der Entwicklung Testosteron ein; allerdings wird ein Großteil des mütterlichen Testosterons in der Placenta in Estradiol umgewandelt oder anderweitig „weggefiltert“. Bei den männlichen Feten setzt irgendwann (m. W. recht spät) auch die eigene Testosteronproduktion ein. Die Gehirnentwicklung (z. B. Lateralität) kann also ohne weiteres auf Testosteron zurückzuführen sein, ohne dass Linkshändigkeit deswegen bei einem Geschlecht häufiger auftreten müsste.
Späten Dank für die Erklärung 🙂