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Kurzbesprechungen: Bücher über den Klimawandel

Als Gegengewicht zum letzten Beitrag, in dem ich meinen Kurzvortrag über schlechte Bücher zum Thema vorgestellt habe, dokumentiere ich hier eine Reihe von Kurzbesprechungen von seriöser Klimawandel-Literatur, die ich im September im Twitter-Account der „Scientists for Future“-Regionalgruppe Köln/Bonn getwittert habe.

Ein verfrühter Gabentisch. Schließlich steht Weihnachten quasi vor der Tür, und ihr sucht verzweifelt nach Geschenken!

Zunächst drei kurze, informative, nüchtern geschriebene Einführungen in den Klimawandel:

  • Nelles/Serrer 2018, „Kleine Gase – große Wirkung. Der Klimawandel“, € 5;
  • Rahmstorf/Schellnhuber 2018, „Der Klimawandel“, € 9,95;
  • Schönwiese 2019, „Klimawandel kompakt“, € 19,90.

Welches passt zu wem?

Nelles‘ und Serrers Einführung eignet sich nicht nur wegen des unschlagbaren Preises als kleines Geschenk: Dank kurzer, klarer Texte und vieler schöner Grafiken ist ideal auch für Menschen in eurem Umfeld, die das Thema bislang scheuten, weil „zu schwierig“ ooder „zu bedrückend“.

Dem Cover und dem Kleinformat zum Trotz ist es kein Kinderbuch, aber für interessierte ältere Kinder und Jugendliche wunderbar geeignet. Prima auch zum Auslegen in Wartezimmern und an anderen Orten, an denen man nach kurzer Lektüre sucht. (Bei uns heißt so etwas „Klo-Buch“.)

Bei Buch Nr. 2 bürgen schon die Autoren für Qualität: Rahmstorf und Schellnhuber sind renommierte Klimawissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Für knapp 10 Euro erhält man auf 140 Seiten einen soliden, aktuellen Klimawandel-Überblick einschließlich Schwarzweiß-Abbildungen, Literaturempfehlungen und Sachregister.

Das Taschenbuch hat den Untertitel „Diagnose, Prognose, Therapie“ und fünf Abschnitte:

  1. Aus der Klimageschichte lernen
  2. Die globale Erwärmung
  3. Die Folgen des Klimawandels
  4. Klimawandel in der öffentlichen Diskussion
  5. Die Lösung des Klimaproblems.

Das dritte Basis-Buch von Schönwiese steht dem zweiten in Sachen Reputation des Autors, Umfang und Inhalt in nichts nach, ist aber mit knapp 20 Euro teurer und im Layout und der Schreibweise schon „fachbuchähnlicher“, also für Menschen ohne naturwissenschaftliches Studium nicht ganz so zugänglich.

Die 30 Abbildungen sind farbig. Typisch für den recht akademischen Stil Schönwieses: Er steigt ein mit der Herleitung des Wortes „Klima“ aus dem Griechischen. Wer es also etwas gründlicher mag und Definitionen und viele Zahlen nicht scheut, ist hier sehr gut bedient.

Weiter geht es mit drei eher Essay-artigen oder erzählenden Klimawandel-Sachbüchern. Hier spielen Stilvorlieben und Persönlichkeit der Autoren eine größere Rolle; folglich werden auch die Rezensionen subjektiver.

Los geht es mit dem in der Mitte: „Die unbewohnbare Erde“ (2019, € 18) ist im Grunde eine auf 335 Seiten aufgeblasene Version des viel beachteten Essays, den David Wallace-Wells 2017 veröffentlicht hat. Meines Erachtens reicht es, diesen zu lesen. Um dem gegenüber einen echten Mehrwert zu bieten, hätten Autor oder Lektorat noch viel Arbeit in den Text stecken müssen.

Er wimmelt z. B. von erschreckend klingenden, aber kaum vergleichbaren Zahlen. Grundwasser sinkt etwa in einem Satz um 50 Kubikkilometer, um 4,5 Meter und um 70 Prozent; was davon ist jetzt am Schlimmsten? Auch der Übersetzung merkt man die Eile an. So wurden die amerikanischen „Liberals“ (Linke) als „Liberale“ übersetzt, was im Deutschen in die Irre führt – denn die sind bei uns gerade nicht als energische Klimaschützer bekannt.

Fazit: eine gute Quellensammlung, aber kein gut strukturiertes Buch.

Gemischte Gefühle hatte ich auch bei „Losing Earth“ (€ 22). Nathaniel Rich zeichnet akribisch die Geschichte der systematischen Beeinflussung der politischen Meinung zum Klimawandel in den USA nach. Das ist interessant, aber auch zutiefst niederschmetternd, und im Kern wusste man das schon: „Fast jedes Gespräch, das wir 2019 über den Klimawandel führen, wurde schon 1979 geführt.“ (S. 226)

Relevant jedoch für die #Wissenschaftskommunikation: Forscher und Politiker hatten große, kulturell bedingte Verständigungsprobleme.

Weiter geht es mit Friederike Otto: „Wütendes Wetter“ (2019, 18 €). Sie schreibt durchgängig mit Gendersternchen, woran man sich schnell gewöhnt: Nicht nur das Klima wandelt sich, auch die Sprache.

Teil 1 dreht sich um die Enstehung der Attributionswissenschaft (hier und da etwas zäh), Teil 2 (umso spannender und informationsdichter) um ihre Konsequenzen und Macht. So schildert Otto die ersten Klagen (u. a. von armen Bauern) gegen Verursacher des Klimawandels wie RWE, die sich nun erstmals auf lückenlose Kausalketten stützen können. Eine klare Empfehlung!

Ein Exkurs zu zwei älteren Sachbüchern über Klimageschichte – aus aktuellem Anlass: Ein Diagramm von Lamb über die mittelalterliche Warmzeit wird von Klimawandel-Leugnern zur Relativierung der aktuellen Erwärmung eingesetzt. Auch Behringer wird gerne von Leugnern erworben, wie die „Kunden kauften auch“-Funktion bei Amazon zeigt.

Lambs nur noch antiquarisch erhältliches Buch ist zu alt (ursprünglich 1982), um daraus Belege für die jetzige Entwicklung abzuleiten. Bei Behringer (ursprünglich 2007) sind die Relativierung und der Spott über die Warner schon irritierender. Sieht man davon ab, sind beide Werke sehr interessant, weil sie die Anpassungsfähigkeit der Menschen an (allerdings viel langsamere) Klimaveränderungen in der Vergangenheit – und auch deren Grenzen – aufzeigen.

Behringer ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung nicht mehr erhältlich; eine kluge Entscheidung. Der Originalverlag Beck vertreibt ihn aber – in anderer Aufmachung als hier im Foto – weiter.

Kommen wir zur englischsprachigen Fachliteratur. „Biodiversity and Climate Change“ (2019, 36€) kann ich nur empfehlen; mein Workshop beim Sommerkongress von „Fridays for Future“ basierte vor allem auf diesem Buch.

Es hat 28 Kapitel in fünf Teilen:

  1. Überblick: Was ist Klimawandel?
  2. Welche Veränderungen gibt es?
  3. Was sagt uns die Vergangenheit?
  4. Was bringt die Zukunft?
  5. Wie können Naturschutz und Politik reagieren?

Bieris Sachbuch „Natur aus den Fugen: Die Verbreitung invasiver Arten“ (2018, 20€) behandelt den Klimawandel leider kaum, ist aber eine anschauliche, niederschwellige Einführung in das Phänomen der invasiven Arten. Das von Lovejoy und Hannah herausgegebene Fachbuch macht allerdings klar: Durch den Klimawandel werden praktisch alle Arten invasiv, denn sie müssen jetzt wandern, dem Klima hinterher.

William W. Hay, „Experimenting on a Small Planet“ (2016, ca. 59€): Ich will nicht so tun, als hätte ich den 800-Seiten-Wälzer bereits durchgelesen. Der Autor ist ein renommierter Geologe. Trotz der vielen Diagramme, Tabellen, Formeln usw. sieht er sein Werk nicht als Fachbuch, sondern als Einführung für (amerikanische) Laien. Und er erklärt Klimawandel wirklich gut, also nicht abschrecken lassen!

Sympathisch-spleenig: Zu jedem Kapitel empfiehlt er die passende Musik und alkoholische Getränke. Da er nicht gerade optimistisch ist, was unsere Chancen angeht, die Katastrophe abzuwenden, ist neben gutem Wein auch Schnaps dabei.

32 Kapitel, Cartoons, Lektüretipps, Zeitleisten usw. – so was wie Mann’s Klima-MOOC in Buchform. Ich freue mich auf die weitere Lektüre!

Und die vorerst letzte Mini-Buchbesprechung: Anthony J. McMichael ist leider gegen Ende der Arbeit an „Climate Change and the Health of Nations“ verstorben; zwei Kollegen haben das Werk zum Glück fertiggestellt.

Dargestellt werden Auswirkungen klimatischer Veränderungen (in alle Richtungen: kälter, wärmer, instabiler) auf die Menschheit seit ihren ersten Anfängen bis in die Gegenwart. Gesundheit wird dabei weit ausgelegt; es geht nicht nur um direkte Veränderungen der Sterblichkeit durch Hitze, Kälte, Dürre oder Fluten, sondern auch um Kriege und Unruhen, Verarmung, Seuchen usw. So bekommt man ein Gespür für das Ausmaß und die Grenzen der Anpassungsfähigkeit von Individuen und Gesellschaften, deren Umwelt sich ungünstig entwickelt.

Zentral ist das Goldlöckchen-Prinzip, Lebewesen gedeihen nur, wenn Umweltparameter „genau richtig“ sind; extreme Abweichungen vom diesem Korridor sind in beide Richtungen fatal. Das Buch endet mit einem Blick in die Zukunft: Energische Klimaschutzmapnahmen und ein Ende der Wachstumsideologie sind nötig, werden aber durch enorme psychologische Widerstände und kurzfristige Wirtschaftsinteressen erschwert. (Erscheinungsjahr 2017, €38)

Hoffentlich war etwas Passendes für euch (oder für Geschenke an andere) dabei!

Gute Seiten, schlechte Seiten: Woran erkenne ich schlechte Bücher zum Klimawandel?

Diesen Kurzvortrag habe ich im Juli beim „Markt der Ideen“ von Extinction Rebellion auf dem Kölner Neumarkt gehalten. Wir, d. h. die Köln-Bonner Regionalgruppe der „Scientists for Future“, hatten dort einen Bücherstand, auf dem wir gute Sachbücher zum Klimawandel vorgestellt haben. Bei einer kleinen Marktrecherche habe ich während der Vorbereitung festgestellt, dass bei Amazon jede Menge wirklich schlechter, irreführender Bücher angeboten werden, zwischen denen die wissenschaftlich korrekten und aktuellen Werke fast untergehen.

Auch hier gilt wieder: Ich halte den Vortrag gerne noch mal; Anfragen bitte an die im Impressum genannte Mail-Adresse. Es gibt auch was zu Lachen dabei, und ich bringe gerne einige gute Bücher zu Reinschnuppern mit.

Die schlechten Werke möchte ich nicht im Einzelnen vorstellen oder zitieren, denn die Kommunikationswissenschaften haben gezeigt, dass dabei fast immer etwas im Gedächtnis haften bleibt – selbst wenn man klar dazu sagt, dass die Aussagen falsch oder fragwürdig sind. Stattdessen schlage ich einfache Regeln vor, um rasch zu erkennen, welche Bücher voraussichtlich nichts taugen.

Diese Faustregeln sind – jede für sich genommen – nicht unfehlbar; zum Beispiel gibt es auch gute Bücher mit reißerischem Titel. In der Summe können sie uns aber vor Fehlkäufen und Zeitverschwendung bewahren. Abgeleitet habe ich sie aus Recherchen zu einigen Dutzend schlechten Büchern im Angebot von Amazon – und aus meinem Hintergrundwissen aus der Buchbranche, in der ich einige Jahrzehnte gearbeitet habe.
Das erste Warnzeichen: reißerische Buchtitel. Und zugleich eine gute Nachricht: Alle mathematisch möglichen Kombinationen der Schlagworte Lüge, Klima, Verblödung, Öko-Diktatur, Falle, Hysterie und Machenschaft sind inzwischen aufgebraucht. Der Buchmarkt ist gesättigt. ?

Das zweite Warnzeichen: Autoren (übrigens fast immer Männer), die zu allen möglichen Themen Bücher schreiben, also keine Experten in einem bestimmten Sachgebiet sind. Viele von ihnen sind Auftrags- oder Vielschreiber, die ihren Lebensunterhalt mit möglichst schnell produzierten Sachbüchern zu Skandel- und Modethemen verdienen; viele andere sind – gelinde gesagt – Exzentriker oder Esoteriker. So gibt es ein den Klimawandel leugnendes Buch von einem Herrn, der sich früher über die gleichzeitige Existenz von Frühmenschen und Dinosauriern ausgelassen hat.

Es sind aber auch Fachleute (im weiteren Sinne, also z. B. Ingenieure) unter den Autoren. Nicht alle leugnen die Tatsache der Erderwärmung an sich: Neben diesen sogenannten Trendskeptikern gibt es auch Ursachenskeptiker (Das Klima wandele sich, aber das liege nicht am Menschen), Folgenskeptiker (Das Klima wandele sich und das liege auch am Menschen, aber es sei nicht schlimm) sowie Konsensleugner (Die Wissenschaft sei sich noch uneins, woran es liege und welche Folgen der Wandel habe).

Einige Autoren waren früher selbst in der Umweltbewegung aktiv und haben sich nach Auseinandersetzungen abgewandt. Heute arbeiten manche von ihnen für Lobbyorganisationen, die eine Umstellung auf regenerative Energien zu verhindern versuchen.

Akademische Titel oder Grade sind keine Gewähr für Seriosität. Oftmals haben die Autoren sie in Fachgebieten erworben, die nicht viel mit dem Klima zu tun haben.

Die Institution, in der oder für die die Autoren arbeiten, kann ein Indiz für die Seriosität sein – wenn man genau hinschaut! „Institut“ ist keine geschützte Bezeichnung; man denke nur an all die „Kosmetik-Institute“. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ist eine renommierte Forschungseinrichtung. Das „Institut für Klima und Energie“ (EIKE) ist dagegen eine Briefkasten-Einrichtung: eine Lobby-Institution mit Verbindungen zur AfD. Wenn man sich ein bisschen auskennt, sieht man auch der Website an, dass hier keine seriösen Forscher zu uns sprechen.

Der Verlag, in dem ein Buch erschienen ist, ist kein verlässliches Zeichen für Seriosität: Leider sind auch namhafte Verlage wie Bertelsmann oder Hoffmann und Campe dabei, die sich von sensationalistischen, vermeintlich mutig gegen den Mainstream gerichteten Titeln Umsatz versprechen. Einige der Titel erscheinen in Kleinverlagen aus der rechten bzw. obskurantistischen Ecke, z. B. im FinanzBuch Verlag („Tichys Einblick“).

Der Verkaufsrang bei Amazon ist ebenfalls ein problematischen Kriterium. Die Kategorien sind so kleinteilig, dass es nicht schwer ist , mit ein paar gezielten Käufen einen „Bestseller“ zu suggerieren. Gerade wenn ein Buch in den Kreisen von Klimawandel-Leugnern eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, kann es auf den vorderen Plätzen landen.

Auch die Zahl und der Mittelwert der Kundenrezensionen sind mit Vorsicht zu genießen: Viele Leser*innen von Büchern, die den Klimawandel leugnen, sind so beseelt von ihrer Mission, dass sie am laufenden Band lobende Besprechungen schreiben – und zugleich Verrisse seröser Werke zum Klimawandel.

Ein Blick auf die „Kunden kauften auch“-Rubrik bei Amazon kann dagegen gute Hinweise geben. Wenn da zum Beispiel rechte Autoren auftauchen, spricht das gegen die Seriosität des Klima-Buchs.

Spielt das Erscheinungsjahr eine Rolle? Ja. Zwar sind die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimas und des Klimawandels schon länger bekannt. Aber in den letzten Jahren hat es einen enormen Wissenszuwachs gegeben, und auch die politischen, gesellschaftlichen und technologischen Rahmenbedingungen ändern sich rasch. Dass z. B. das „Lexikon der Öko-Irrtümer“ von Miersch und Maxeiner – 1998 erschienen – noch heute unverändert vermarktet wird, ist höchst bedenklich. (Herr Miersch ist inzwischen für die „Deutsche Wildtier Stiftung“ tätig, eine Lobbyorganisation, die den Ausbau regenerativer Energien bekämpft.)

Die alten Schinken werden durchaus noch gelesen, wie neue Kunden-Besprechungen zeigen. Ein Kuriosum zum Abschluss: 2017 erschien ein Text eines bereits 1939 verstorbenen Autors – unter dem Titel „Der erdgeschichtliche Klimawandel: Den wahren Ursachen von Klimaschwankungen auf der Spur“. Der alte Text dient dem Herausgeber als Vehikel für seine eigene Klimawandel-skeptische Botschaft.

Klimawandel: Der Makrelen-Streit

Kurzvortrag mit vier Flipchart-Blättern, also ohne Stromverbrauch vorgetragen – aber zur Not auch mit einem Beamer zu halten, etwa vor großem Publikum. Der Vortrag dauert je nach Fragefreudigkeit der Zuhörer*innen 20 bis 30 Minuten. Vortragsanfragen bitte an die im Impressum genannte Mailadresse!

Das Goldilocks Principle in der Ökologie: Viele Umweltparameter wie die Wassertemperatur im Meer müssen „gerade richtig“ sein, damit Organismen gedeihen. Wird es z. B. zu warm, wandern viele Arten in Richtung der Pole ab. Um wieder in ihren Wohlfühlbereich zu gelangen, müssen sie in den Meeren wegen der flacheren Temperaturgradienten weitere Strecken zurücklegen als an Land.

Der Fang von Makrelen (Scomber scombus) galt lange als nachhaltig, war zertifiziert vom Marine Stewardship Council (MSC). Ab 2007 haben sich die Bestände abrupt weit nach Norden verlagert. Seither beanspruchen Island, die Färöer und Grönland erheblich größere Fangmengen für sich. Da sie sich mit den angestammten Makrelenfang-Nationen nicht einigen konnten und weit mehr fangen, als diese für vertretbar halten, wurde die Zertifizierung aufgehoben.

Arten, die nicht so rasch und so weit abwandern können, droht ein phänologischer Mismatch. So können Jungtiere zu einem Zeitpunkt schlüpfen oder geboren werden, wenn ihre wichtigste Nahrungsquelle schon verschwunden ist – oder sich noch nicht entwickelt hat. Die phänologischen Jahreszeiten haben sich durch die Erderwärmung bereits bis zu 4 Wochen vorverlagert. Zum Beispiel schlüpfen Heringslarven in der erwärmten Ostsee inzwischen so früh im Jahr, dass die Algen, von denen sie leben, noch nicht ausreichend gewachsen sind (denn die orientieren sich eher an der Tageslänge als an der Temperatur).

Mobile Generalisten wie die Makrelen kommen mit den Veränderungen besser zurecht als weniger mobile Spezialisten wie die Heringe.

Dramatische Veränderungen bei mobilen Arten wie den Makrelen sind wichtige Warnsignale für das, was in den nächsten Jahrzehnten noch kommt. Naturschutzmechanismen wie das Ausweisen von Schutzgebieten oder Fangquoten-Verhandlungen sind u. U. zu langsam, um zum Beispiel mit der Abwanderung von Populationen in Richtung Nordpol schrittzuhalten.

Bell’s palsy: vermischte schnelle Notizen zur Literatur, Teil 2 (Saisonalität und Klima)

Campbell und Brundage (2002): Effects of Climate, Latitude, and Season on the Incidence of Bell’s Palsy in the US Armed Forces, October 1997 to September 1999
Die Autoren haben Daten über Gesundheitszustand und Demografie von US-Militärangehörigen aus zwei Jahren auf Korrelationen zwischen Lähmungsrisiko und Klima, Jahreszeit oder Breitengrad untersucht. 1997-1999 1181 Fälle von Bell’s palsy beim US-Militär, allgemeine Inzidenz 42,77 pro 100.000 Personen pro Jahr – höher bei Älteren, Frauen, Schwarzen, Latinos, Verheirateten und Soldaten (enlisted service members). Trockenes Klima erhöhte die Rate gegenüber feuchtem Klima um den Faktor 1,34; in den kalten Monaten des Jahres (Nov. bis März) lag das Risiko um den Faktor 1,31 über dem der warmen Jahreszeit (Mai bis Sept.). Der Breitengrad war kein signifikanter unabhängiger Prädiktor. Die Ergebnisse passen zur Hypothese einer viralen Beteiligung (z. B. Herpes-simplex-Reaktivierung) an Bell’s palsy. Niedrige Luftfeuchtigkeit (draußen), UV-Strahlung, Koinfektionen der oberen Atemwege und trockene Raumluft könnten Trigger sein.

Diego et al. (2002): Effect of atmospheric factors on the incidence of Bell’s palsy
Retrospektive Studie an 662 spanischen Patienten mit Bell’s palsy (1992-1996), bei der anhand der Daten des spanischen Wetteramts Temperatur, Luftdruck und Luftverschmutzung (SO2, CO, O3, NO2, NO, CH4 und gesamter organischer Kohlenstoff) an ihrem Wohnort ermittelt wurden. Einziger signifikanter Zusammenhang: Niedrigere Temperaturen gingen mit höherer Inzidenz einher.

Narcı et al. (2012): Seasonal Effects on Bell’s Palsy: Four-Year Study and Review of the Literature
Studie an 634 türkischen Patienten mit Fazialislähmung, von denen 533 (84%) Bell’s palsy hatten. Mittleres Alter 55 ± 24,7 Jahre, 51,4% Männer. Inzidenz (in dieser Studie 12,7, weltweiter Durchschnitt 40,2 pro 100.000 Personen pro Jahr) ist in Japan, Israel und Mexiko am größten und in Schweden am kleinsten. Monate mit den meisten Fällen: Mai (11,06%), März (10,13%), April (9,56%); Monate mit den wenigsten Fällen: Juli (6,38%), Dezember (6,38%) und Januar (6,56%); Unterschied signifikant. Nach Jahreszeiten: Winter (21,57%), Frühjahr (31,70%), Sommer (22,70%) und Herbst (24,95%); Unterschied Winter/Frühlahr signifikant. Im Frühjahr die meisten Infektionen der oberen Atemwege; evtl. HSV-1-Reaktivierungen als Auslöser. Andere Studien zum Thema: Park et al. (Land?), Adour et al. (Land?) und Peitersen (Dänemark) fanden keine signifikante Korrelation mit Jahreszeiten, Spengos et al. (Griechenland) fanden Peaks im Herbst und Winter und einen Rückgang im Sommer.