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Fische sind cool: Eine Just-so-Story über die Konsequenzen der Warmblütigkeit

Vor gut 120 Jahren, im Jahr 1902, veröffentlichte der britische Autor Rudyard Kipling eine Geschichtensammlung mit dem Titel „Just So Stories for Little Children“: logisch klingende, aber frei erfundene Erklärungen dafür, wie Tiere zu ihren auffälligsten Merkmalen gekommen sind, etwa das Kamel zu seinem Höcker oder der Elefant zu seinem Rüssel. Ihren Titel verdankt die Sammlung der Forderung seiner jungen Tochter, dass er die Geschichten „genau so“ erzählen oder vorlesen müsse, jeden Abend exakt gleich. In Anlehnung an Kipling bezeichnen Evolutionsbiologen schwer überprüfbare (oder zumindest noch nicht überprüfte), aber verführerisch einleuchtend klingende Erklärungen für die evolutionäre Herausbildung von tierischen Merkmalen oder menschlichen Eigenschaften als Just-so-Stories.

Die roten Blutkörperchen oder Erythrozyten der Säugetiere sind scheibenförmig und in der Mitte dünner als am Rand, denn sie enthalten keinen Zellkern und keine Organellen, dafür aber viel Hämoglobin, um Sauerstoff aus den Lungen über die Blutbahn in die Organe zu transportieren:

In Fischen, Amphibien und Reptilien haben die Erythrozyten dagegen einen Kern, und sie übernehmen wichtige Aufgaben im Immunsystem. So helfen sie bei der Bekämpfung von Viren-, Bakterien- und Pilz-Infektionen, etwa durch die Ausschüttung von Botenstoffen und reaktiven Sauerstoffspezies oder durch die Bindung, Aufnahme, Verarbeitung und Präsentation von Antigenen. Zwar enthalten sie auch Hämoglobin und dienen dem Sauerstofftransport, aber daneben sind sie vollwertige, wehrhafte Immunzellen:

Dass die roten Blutkörperchen der Säugetiere ihre Kerne kurz nach der Entstehung im Knochenmark abstoßen, klingt zunächst nach einem Rückschritt. Denn da sie ohne Kerne und Organelle keine Proteine mehr produzieren können, spielen sie im Immunsystem der Säuger eine so untergeordnete Rolle, dass sie in Listen der Zelltypen des Immunsystems meist gar nicht aufgeführt werden. Stattdessen konzentrieren sich die abgeflachten Zellen ganz auf den Sauerstofftransport; das Hämoglobin macht 90 Prozent ihres Trockengewichts aus.

Über den Grund für den Verlust des Zellkerns der Säugetier-Erythrozyten kursiert eine Just-so-Story: Fische, Amphibien und Reptilien sind wechselwarme (poikilotherme oder ektotherme) Tiere, deren Körpertemperatur von der Umgebungstemperatur abhängt. Säugetiere sind dagegen gleichwarme (homoiotherme oder endotherme) Tiere, umgangssprachlich auch Warmblüter genannt. In dem meisten Lebenslagen müssen sie viel Energie aufwenden, um ihren Körper aufzuheizen. Dadurch sind sie weniger abhängig vom Wetter, können beispielsweise ihre Jungen im Leib austragen und vielfach auch im Winter aktiv bleiben. Um die Wärme zu generieren, braucht ihr Gewebe viel Energie, und um Energieträgermoleküle wie ATP aufzubauen, braucht es sehr viel Sauerstoff. Den schaffen die roten Blutkörperchen herbei. Also weg mit deren Zellkernen, her mit Unmengen an Hämoglobin, um den Körper mit Sauerstoff zu versorgen!

Klingt logisch – zumal Säugetiere ja zumeist an Land leben und nicht ständig in einer Bakterien- und Virensuppe herumschwimmen, während Fische und auch Amphibienlarven das Wasser sogar durch ihre Kiemen filtern, also ständig sehr eng mit vielen Krankheitserregern in Berührung kommen.

Aber … Moment mal! Was ist denn mit den Vögeln? Auch sie sind gleichwarm, brauchen also meistens viel Energie, um sich gegenüber der Umgebung aufzuheizen. Und ihre roten Blutkörperchen?

Tja: Die haben trotzdem Zellkerne. Damit fällt die einleuchtende Erklärung für den Kernverlust der Säugetier-Erythrozyten in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Nicht immer sind Just-so-Stories so leicht zu erkennen. Wir Menschen haben das Bedürfnis, Dinge zu begreifen, und verspüren oft eine tiefe Befriedigung, wenn wir auf eine nachvollziehbare Erklärung für ein Phänomen stoßen. Im Autoimmunbuch und im Friendly-Fire-Blog bin ich besonders anfällig für Just-so-Stories, denn ich schreibe dies alles ja in erster Linie, um mir selbst und anderen Interessierten unser Immunsystem und die Entstehung von Autoimmunerkrankungen begreiflich zu machen. Denn je besser ich die unheimlichen Entgleisungen meines Immunsystems verstehe, desto weniger ängstigen sie mich. Auch wenn ich skeptisch und wachsam zu bleiben versuche, wird bestimmt die eine oder andere evolutionsbiologische oder ökologische Herleitung im Buch und im Blog schlecht altern. Aber das nehme ich in Kauf.

Bedeutungsschwangerer Vergleich: Das Liebesleben der Seenadeln

Cartoon: links ein trächtiges Seepferdchen-Männchen, rechts ein verliebtes Weibchen, das an seinem Bauch lauscht

#NaNoWriMo22, Tag 7 (an Tag 6 habe ich Vorarbeiten für diesen Artikel erledigt)

Tiefseeanglerfische und Seenadeln – also die langgestreckten Grasnadeln, die gekrümmten Seepferdchen und ihre Verwandtschaft – haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam, einmal abgesehen davon, dass sie Fische sind: Die Tiefseeangler (Ceratioidei) leben allesamt in der finsteren Tiefsee und gelten aufgrund ihres ungewöhnlichen Körperbaus mit den riesigen Mäulern, den vorgeschobenen Unterkiefern und den spitzen Zähnen als hässlich, ja monströs – was allerdings auch daran liegt, dass die meisten Exemplare, die wir hier oben zu Gesicht bekommen, durch die Dekompression regelrecht zermatscht sind. Die Seenadeln (Syngnathidae) bevorzugen lichtdurchflutete Seegraswiesen im Flachwasser, haben winzige Mundöffnungen und wirken auf uns grazil und einnehmend.

Auch ihr Liebesleben ist auf den ersten Blick grundverschieden: Seenadelmännchen sind nicht winzig klein und wachsen nicht an einem Weibchen fest. Dafür werden sie trächtig! Das Spektrum reicht von einem einfachen Festkleben der Eier, die ihnen die Partnerin übergibt, am Bauch oder unter dem Schwanz, bis zum Austragen in einer komplett geschlossenen Bruttasche, einem veritablen Schwangerschaftsbauch wie in meinem Cartoon. Der männliche Organismus behütet und nährt den Nachwuchs, der zu diesem Zweck in ein schwamm- oder placentaartiges Gebilde eingebettet wird. Und der Vater stattet die Kleinen auch mit einem immunologischen Starter-Kit aus, sodass sie die vielen Bakterien und anderen potenziellen Krankheitserreger sofort bekämpfen können, wenn sie bei der Geburt aus dem schützenden Bauch ins weite Meer entlassen werden.

Und da taucht sie dann auf, die Parallele zu den Tiefseeanglern: Wie kommt es, dass das Immunsystem männlicher Seenadeln die Eier bzw. Embryonen nicht abstößt? Sie sind für den väterlichen Organismus doch hemiallograft, bestehen also zur Hälfte aus fremdem Gewebe, nämlich solchem mütterlichem Ursprungs. Normalerweise müssten sie – wie Transplantate – als „Nicht-Selbst“ bekämpft werden. Bei uns Säugetieren geschieht das nur deshalb nicht, weil zwischen der mütterlichen Gebärmutter und dem embryonalen Gewebe eine lückenlose Schutzschicht eingezogen ist, die keine MHC-Komplexe auf der Oberflächen trägt, sodass die mütterlichen Immunzellen gewissermaßen blind sind für das fremde Gewebe, das sich hinter diesem Wall verbirgt. (Das ist jetzt arg verkürzt dargestellt, soll hier aber reichen.)

Ein Forschungsteam um Olivia Roth am GEOMAR Helmholtz Centre for Ocean Research in Kiel untersucht die Schwangerschaften der Seenadeln seit über zehn Jahren, um unter anderem dieses Rätsel zu lösen. Dank des schon erwähnten breiten Spektrums (vom äußerlichen Festkleben der Eier am Bauch über offene Bruttaschen oder -rinnen bis zu geschlossenen Taschen, deren kleine Öffnung das Männchen erst zur Übernahme der Eier und später zur Geburt des ausgetragenen Nachwuchses kontrolliert öffnen kann) lässt sich hier einiges über die Evolution der Trächtigkeit lernen, das dem bloßen Studium der Säugetiere nicht zu entnehmen wäre. Denn bei den Säugetieren laufen alle Schwangerschaften im Grunde ähnlich ab; sie sind gewissermaßen alle vollkommen; „ein bisschen schwanger“ gibt es hier nicht!

Anders bei den Seenadeln. Hier zeigt sich: Je inniger der Kontakt zwischen väterlichem Organismus und Nachwuchs, desto stärker ist die Art „immundefizient“. Wie bei den Tiefseeanglern fehlen den Seepferdchen der Gattung Hippocampus und den Grasnadeln der Gattung Synghathus diejenigen Teile der erworbenen Abwehr, die eine Abstoßungsreaktion auslösen könnten. Die Gene im Haupthistokompatibilitätskomplex der Klasse II (MHC II) sind bei Syngnathus typhle abhanden gekommen oder defekt. Auch T-Zellen des Typs CD4+ scheinen bei dieser Art zu fehlen; sie hat also keine T-Helferzellen.

Andere Komponenten des Immunsystems sind zwar vorhanden und im Prinzip funktionstüchtig, werden aber bei Männchen während der Schwangerschaft herunterreguliert, um ihre immunologische Toleranz gegenüber den Halb-Fremdlingen in der Bruttasche zu erhöhen. Das gilt zum Beispiel für den Haupthistokompatibilitätskomplex der Klasse I (MHC I).

Eine Untersuchung der Entzündungsparameter bei Syngnathus typhle ergab deutliche Parallelen zu Säugetieren wie uns Menschen: Ganz zu Beginn einer Schwangerschaft, bei der Einnistung, tritt bei Grasnadeln wie Säugern eine lokale Entzündung auf, ohne die das zur Einbettung des befruchteten Eies nötige Gewebe gar nicht entstehen kann. Entzündungen fördern ja unter anderem die Bildung von Blutgefäßen. Dann folgt eine längere entzündungsfreie Phase, in der das elterliche Immunsystem maximale Toleranz übt. Schließlich steigen die Entzündungsparameter wieder an, denn die Geburt ist im Grunde nichts anderes als eine verspätete Abstoßung, ja ein Ausstoßen der nunmehr auch außerhalb des elterlichen Körpers lebensfähigen Kinder. Auch viele andere Gene, die bei uns Säugern in der Schwangerschaft je nach Phase stärker oder schwächer abgelesen werden als sonst, durchlaufen bei den Grasnadeln dieselbe Dynamik.

So, und warum interessiert mich das, warum gehört es ins Autoimmunbuch? Die meisten Autoimmunerkrankungen sind bei Frauen häufiger als bei Männern, teilweise extrem viel häufiger. Dafür werden in der Wissenschaft mehrere mögliche Ursachen diskutiert. Es könnte etwa an den weiblichen und männlichen Hormonen liegen, an den unterschiedlichen Genen auf dem X- und dem Y-Chromosom – oder am sogenannten X-Dosis-Effekt, also daran, dass Frauen zwei X-Chromosomen haben, Männer aber nur eines. Hinzu kommen Umweltfaktoren, etwa eine unterschiedliche Ernährung, unterschiedliche Berufe, unterschiedliche Kosmetika usw. Diese möglichen Ursachen schließen einander nicht aus, sondern könnten auch in Kombination miteinander das Erkrankungsrisiko herauf- oder herabsetzen.

Beim Menschen lassen sich diese Faktoren aber oftmals nicht sauber voneinander trennen: Das Geschlecht mit den beiden X-Chromosomen ist zugleich dasjenige, das Eizellen hervorbringt, die relativ groß sind und zum Beispiel Mitochondrien und Moleküle des Immunsystems enthalten. Und wer die Eizellen hervorbringt, trägt auch die Kinder aus – von Leihmutterschaften usw. einmal abgesehen. Aber auch Studien, die relativ einfach und ethisch unbedenklich wären, fehlen ärgerlicherweise. So wird seit Jahrzehnten spekuliert, ob eine Mutterschaft das Risiko für Hashimoto-Thyreoiditis erhöht, weil eine schlummernde Veranlagung während des immunologischen und hormonellen „Ausnahmezustands Schwangerschaft“ zum Ausbruch kommen könnte. Aber gute Statistiken dazu, also etwa Hashimoto-Prävalenzen bei 50-jährigen Frauen mit 0, 1, 2 oder 3 Kindern, habe ich noch nie gesehen!

Die Seenadeln bieten hier eine einmalige Chance: Es gibt ein männliches Geschlecht, das wie üblich zahlreiche winzige Spermien hervorbringt, und ein weibliches, das relativ wenige große, ressourcenreiche Eizellen produziert. Aber danach sind die Rollen vertauscht. Wie unterscheidet sich das Immunsystem der Männchen von dem der Weibchen – generell und insbesondere in den verschiedenen Phasen der männlichen Trächtigkeit? Geschlechtsspezifische Auswertungen habe ich in der Literatur noch nicht entdeckt, aber das kommt sicher noch.

Auch hier im Blog bleiben wir in den nächsten Tagen und Wochen noch beim Thema Fortpflanzung. Denn in der riesigen, bunten Klasse der Knochenfische (und auch bei ihren Cousins, den Knorpelfischen) gibt es offenbar fast nichts, was es nicht gibt. Freuen wir uns also auf die Reisfische, bei denen die Weibchen ihre Jungen im Geschlechtstrakt herumtragen, ohne im engeren Sinne schwanger zu sein. Und auf die Maulbrüter, bei denen teils beide Geschlechter, teils aber nur die Weibchen den Nachwuchs im Maul behüten, was sich wiederum deutlich in ihrem Immunsystem niederschlägt.

 

Literatur:

GEOMAR (2012): Der Beitrag der Väter. Wie männliche Fische das Immunsystem ihrer Nachkommen aktivieren können. Pressemitteilung.

Roth et al. (2020): Evolution of male pregnancy associated with remodeling of canonical vertebrate immunity in seahorses and pipefishes. Forschungsarbeit, Open Access.

Parker et al. (2021): Immunological tolerance in the evolution of male pregnancy. Forschungsarbeit, Open Access.

Krankheitsverhalten: kurzfristig heilsam – chronisch belastend

Anhedonie (Lustlosigkeit), verringerte Libido

Anhedonie: Lustlosigkeit, z. B. verringerte Libido

Wenn wir krank sind, uns ins Bett legen, fiebern und nichts essen mögen: ist das schlecht für uns? Ist es nur ein Zeichen dafür, dass es uns schlecht geht? Oder ist es vielmehr gut für uns, ein Teil unserer Genesung? Erstaunlich lange blieb diese Frage unbeantwortet. Erst 1988 veröffentlichte Benjamin L. Hart seine wegweisende Arbeit „Biological basis of the behavior of sick animals“, in der er das Krankheitsverhalten (sickness behavior) von Tieren als evolutionäre Anpassung zur effizienten Überwindung von Infektionskrankheiten darstellte.

Zu diesem Krankheitsverhalten zählen etwa

  • Anorexie (verringerter Appetit)
Anorexie: verringerter Appetit

Anorexie: verringerter Appetit

  • Adipsie (wenig Durst)
Adipsie: verringerter Durst

Adipsie: verringerter Durst

  • Lethargie und Schläfrigkeit
Lethargie, viel Schlaf, Schonhaltung, Wärmeverlustminimierung

Schläfrigkeit, Schonhaltung, Wärmeverlust-Minimierung

  • Anhedonie (Lustlosigkeit, Unfähigkeit zur Freude, siehe oben: keinen Bock aufs Haserl!)
  • Rückzug und Asozialität (verringerte Revierverteidigung, Brutfürsorge, wechselseitige Körperpflege, sexuelle Aktivität usw.)
reduziertes Sozialverhalten, z. B. Brutpflege

reduziertes Sozialverhalten

  • Desinteresse am Erkunden der Umgebung, am Spielen und Lernen
  • Übelkeit, Unwohlsein
  • erhöhte Schmerzempfindlichkeit
  • bei Warmblütern Zittern zur Wärmeproduktion und bei wechselwarmen Tieren das Aufsuchen einer warmer Umgebung („behavioral fever“) sowie
"Verhaltensfieber" bei wechselwarmen Tieren

„Verhaltensfieber“ bei wechselwarmen Tieren

  • eine kompakte Körperhaltung, die den Wärmeverlust minimiert.

Hinzu kommen physiologische Veränderungen, etwa eine vom Hypothalamus im Gehirn angeordnete Erhöhung der Körpertemperatur (Fieber), Entzündungsreaktionen und eine träge Verdauung.

Noch immer glauben viele Menschen, Fieber sollte gesenkt werden und Brandwunden müsse man kühlen, weil die Wärme schädlich sei. Dabei dient beides „nur“ der Schmerzbekämpfung, nicht aber der Heilung – von Ausnahmen abgesehen. Zwar ist bei weitem nicht bei jeder Erkrankung klar, auf welchen Wegen Fieber uns nützt (Beschleunigung enzymatischer Reaktionen, Hemmung der Vermehrung hitzeempfindlicher Viren oder Bakterien, Entfernung des für Pathogene wichtigen Spurenelements Eisen aus unserem Blut …). Aber dass es eine Anpassungsleistung darstellt und in vielen Situationen das Überleben fördert, ist mittlerweile klar. So hatten in Tierexperimenten gezielt infizierte Wüstenleguane oder Zebrafische, die eine wärmere Umgebung aufsuchen konnten, eine deutlich höhere Überlebenswahrscheinlichkeit als Leidensgenossen, die man daran hinderte.

Viele der oben genannten Aspekte des Krankheitsverhaltens hängen miteinander zusammen. So rufen die Entzündungsreaktionen, mit denen unser Immunsystem Infektionen bekämpft, im Wachzustand Übelkeit, Abgeschlagenheit, Schmerz usw. hervor, die unsere Aktivitäten stören und riskanter machen können. Daher der Rückzug und der viele Schlaf. Der Rückzug von sozialen Aktivitäten könnte auch die Gefahr verringern, verwandte Artgenossen anzustecken. Andererseits kennen wir von vielen Tierarten Fürsorge für erkrankte Gruppenmitglieder, was darauf hindeutet, dass das verringerte Sozialverhalten und die Lethargie nicht dem Schutz der anderen, sondern der eigenen Genesung dienen, etwa der Konzentration der Energiereserven auf die kostspieligen Aktivitäten des Immunsystems.

Ob die verfügbare Energie eher in die Heilung oder doch in die kurzfristige Maximierung des Fortpflanzungserfolgs investiert wird, hängt wesentlich von der „life history“ und der Reproduktionsstrategie der Art ab: Kurzlebige kranke Säugetiermännchen paaren sich im Zweifel lieber noch einmal und kippen dann tot um. Langlebige Organismen schonen sich lieber; zur Not vernachlässigen sie ihre Jungen und setzen darauf, dass sie nach ihrer Genesung neuen Nachwuchs großziehen können.

Bei einer akuten Erkrankung fördert ein solches Krankheitsverhalten die Gesundung und damit die Chance, das Erbgut, in das dieses Verhalten eingeschrieben ist, in die nächsten Generationen weiterzutragen. So funktioniert natürliche Auslese. Bei chronischen Erkrankungen ist dasselbe Verhalten oftmals kontraproduktiv, denn ich kann nicht jahrelang hungern, die Tage verdämmern, enthaltsam leben und die sozialen Bedürfnisse meiner Mitgeschöpfe ignorieren, ohne mir selbst und meinen Verwandten zu schaden. Außerdem werden viele chronische Erkrankungen, etwa Autoimmunerkrankungen, wohl gar nicht durch Bakterien oder Viren verursacht, die sich durch ein solches Verhalten besiegen ließen.

Da aber etliche chronische Erkrankungen erst gegen Ende oder gar nach der Reproduktionsphase auftreten, hat die natürliche Auslese keinen Ansatzpunkt, um einem solchen „chronifizierten Krankheitsverhalten“ entgegenzuwirken. Das einmal entgleiste Immunsystem, das fälschlich meint, eine Infektion bekämpfen zu müssen, schüttet permanent entzündungsfördernde Botenstoffe wie Interleukin 1β (IL-1β), Interleukin 6 (IL-6) und Tumornekrosefaktor (TNF) aus, die dem Hypothalamus und anderen Schaltzentralen suggerieren, der Organismus müsse noch ein Weilchen kürzer treten und sich zurückziehen. Das könnte der Grund für ein Phänomen sein, das vielen chronisch Kranken nur allzu bekannt ist: Fatigue.

 

Austausch eines einzigen Gens versetzt Mäuse-Thymus um 500 Millionen Jahre zurück

So zumindest der plakative Teaser einer Meldung, die vor gut einem Jahr bei „Science Daily“ erschien. Ein Forscherteam um J. B. Swann an der Uni Freiburg hatte transgene Mäuse hergestellt, in deren Zellen das Gen Foxn1, das einen Regulator der Thymusentwicklung codiert, durch das verwandte, aber evolutionär ältere Wirbeltier-Gen Foxn4 ersetzt ist. Während ein normaler Mäuse-Thymus nur wenige B-Zellen enthält, entsteht bei einer Produktion des Regulators FOXN4 ein Lymphorgan, das sowohl T- als auch B-Zellen heranreifen lässt und an den daher als „bipotent“ bezeichneten Thymus-Vorläufer bei Fischen erinnert. Die Arbeit ist frei verfügbar:

Jeremy B. Swann et al.: Conversion of the Thymus into a Bipotent Lymphoid Organ by Replacement of Foxn1 with Its Paralog, Foxn4. Cell Reports, 2014; DOI: 10.1016/j.celrep.2014.07.017 (PDF)

Der Transkriptionsfaktor FOXN1 ist in Säugetieren unabdingbar für die Differenzierung von TEC-Vorläuferzellen in reife TECs. Er ist vermutlich in einem Wirbeltier-Urahn durch Duplikation des älteren Gens Foxn4 entstanden und hat eine sehr ähnliche, aber im Detail andere DNA-Bindungs-Domäne.

Die Vorfahren der Wirbeltiere waren sogenannte Schädellose. Von diesem Unterstamm der Chordatiere leben nur noch die Lanzettfischchen. Im Embryo des Lanzettfischchens Branchiostoma floridae, das kein Foxn1-Gen hat, wird im Rachen-Endoderm Foxn4 exprimiert. Das brachte die Forscher auf den Gedanken, dass in dieser Region des Embryos, aus der bei Wirbeltieren ja die Thymusanlage entsteht, vor der Entstehung von Foxn1 der ältere Transkriptionsfaktor FOXN4 für die Ausbildung eines Thymus-ähnlichen Lymphorgans gesorgt hat. In den TECs im Thymus stammesgeschichtlich „mittelalter“ Wirbeltiere wie der Katzenhaie, Zebrafische und Reisfische werden sowohl Foxn1 als auch Foxn4 exprimiert, in Säugetier-TECs normalerweise nur noch Foxn1.

Wenn man aber in transgenen Mäusen die Foxn1-Expression ausschaltet und zugleich die FOXN4-Produktion erhöht, kann dieses Protein FOXN1 bei der Thymusentwicklung zumindest teilweise ersetzen. Es entstehen normal funktionierende cTECs und mTECs. Allerdings ist ihre Keratin-Expression abnorm: Die meisten TECs exprimieren nun sowohl den Cortex-Marker Keratin 8 als auch das Mark-typische Keratin 5. Außerdem kommen im Thymus der FOXN4-produzierenden Mäuse zahlreiche unreife B-Zellen vor, die sich dort auch teilen. Sie halten sich vor allem rings um die Blutgefäße auf, die den Thymus durchziehen – vermutlich, weil die Fibroblasten dort FLT3-Ligand exprimieren, ein Schlüsselelement der B-Zell-Entwicklung, die sich normalerweise im Knochenmark abspielt. Das FOXN4-produzierende Thymus-Epithel ist also nicht nur zur T-Zell-Entwicklung imstande, sondern bietet auch B-Zellen ein entwicklungsfreundliches Umfeld. Bei Fischen, die von Natur aus sowohl Foxn1 als auch Foxn4 exprimieren, ist die Anwesenheit von B-Zellen im Thymus dann auch normal. Unklar bleibt, ob die im Thymus der transgenen Mäuse entstehenden B-Zellen und T-Zellen vom selben Vorläufer-Zelltyp abstammen, der sich erst im Thymus für einen Entwicklungsweg entscheidet, oder von zwei unterschiedlichen Vorläufern, die bereits „vorbestimmt“ aus dem Knochenmark in den Thymus einwandern.

Die T-Zell-Reifung im Säugetier-Thymus hängt von vier FOXN1-abhängigen Faktoren ab: CCL25, CXCL12, KITL und DLL4. DLL4 steht dabei an der Spitze der Hierarchie. Die B-Zell-Entwicklung im Thymus der genetisch veränderten, Foxn4 exprimierenden Mäuse ist zusätzlich vom allgemeinen Lymphopoese-Faktor IL-7 abhängig. Das Verhältnis von DLL4 zu IL-7 entscheidet darüber, ob der Thymus viele oder wenige unreife B-Zellen hervorbringt. DLL4 ist membrangebunden, das Zytokin IL-7 diffundiert.

Evolution: Man vermutet heute, dass es separate B- und T-Zell-ähnliche Zelltypen bereits in den Urahnen aller Wirbeltiere gab und die immense, durch somatische Rekombination entstehende B- und T-Zell-Rezeptorvielfalt erst später hinzukam. Die ersten Thymus-ähnlichen Lymphorgane entstanden wohl mit Hilfe des Transkriptionsfaktors FOXN4. Nach dessen Duplikation wurden FOXN4 und FOXN1 wohl gemeinsam exprimiert. Auf dem Weg zu den Säugetieren übernahm dann FOXN1 allein die Aufgabe; das Expressionsniveau von Dll4 in den TECs stieg an, und der Thymus war fortan nicht mehr bipotent, sondern nur noch für die T-Zell-Reifung zuständig.