Schlagwort-Archive: Archaea

Cartoon von 1931: Ein Mann lässt sich von einerm Automaten den Mund abwischen

Die Evolution ist ein Bastler, und manchmal baut sie Rube-Goldberg-Maschinen

Im Manuskript für den 2. Band stelle ich gerade dar, wie das Leben schwimmen lernte. LUCA, der letzte gemeinsame Urahn aller Lebensformen, hatte zwar vermutlich schon die Komplexität heutiger Bakterien und verfügte über ein ausgefeiltes Immunsystem (sogar mit einer erworbenen Abwehr, also einem Gedächtnis für frühere Infektionen). Aber er konnte sich wohl noch nicht fortbewegen und war daher an jenen hydrothermalen Schlot am Meeresgrund oder einen ähnlichen Ort gebunden, an dem er aus präbiotischen Makromolekülen entstanden war.

Sowohl Archaeen als auch Bakterien, die beiden Hauptäste des Stammbaums allen Lebens, können sich mit rotierenden Zellanhängen durchs Wasser schrauben, aber kurioserweise sind diese ähnlich funktionierenden Anhänge komplett unterschiedlich konstruiert, was auf eine Entstehung erst nach der ersten Aufspaltung des Lebensbaums hinweist. Beide Apparaturen, die Flagellen der Bakterien und die Archaellen der Archaeen, sind zudem unglaublich kompliziert aufgebaut, und sie scheinen vom Himmel gefallen zu sein: Man kennt keine einfacheren Vorformen.

Solche Fälle von „irreduzibler Komplexität“ werden von Kreationisten gerne als Belege für intelligent design angeführt, also für das zielgerichtete, planmäßige Wirken eines Schöpfers. Aber das ist Unsinn. Vielmehr geht eine solche irreduzible Komplexität auf ein Grundprinzip der darwinistischen Evolution zurück: die Exaptation, die „Zweckentfremdung“ bestehender Eigenschaften von Lebewesen.

Dieses Prinzip hat der Molekularbiologe François Jacob bereits in den frühen 1980ern in seinem Essay „Die Bastelei der Evolution“ dargestellt: „Die Evolution schafft ihre Neuheiten, anders als der Ingenieur, nicht aus dem Nichts. Sie arbeitet mit dem, was bereits vorhanden ist, sei es, daß sie ein älteres System abändert und ihm eine neue Funktion zuweist, sei es, daß sie mehrere Systeme zu einem komplexeren zusammenfaßt. […] kurz, wie ein Bastler, der das, was er um sich herum findet, benutzt, um daraus einen brauchbaren Gegenstand zu machen. […] Wenn aus einem Teil der Speiseröhre eine Lunge wird, dann ist das etwas ganz Ähnliches, wie wenn aus Omas Gardine ein Rock wird.“

Diese Wiederverwendung alter Strukturen in neuen Zusammenhängen führt zwangläufig dazu, dass die so entstandenen Organe oder Zellstrukturen teils unlogisch wirken und teils irreduzibel komplex: Sie tragen ihre gesamte Entstehungsgeschichte mit sich herum, ihre Anpassung an die ehemalige Funktion. Ihre weitere Entwicklung verläuft in vorgebahnten, tief ausgewaschenen Tälern der Evolutionslandschaft. Sie haben wilde Steampunk-Schnörkel und arbeiten mit zehn Zahnrädern, wo ein Ingenieur sich auf zwei beschränken würde.

In einem Einführungsartikel zu einer Forschungsarbeit hat Morgan Beeby die Archaellen und mit ihnen verwandte fädige Zellanhänge bei den Archaeen und Bakterien 2019 mit den allseits beliebten Rube-Goldberg-Maschinen verglichen: Die Proteingruppe, zu der sie gehören, die sogenannte TFF-Superfamilie, wurde im Lauf der Evolution zu einem abenteuerlichen Maschinenpark, in dem wir Injektionspumpen, Saugroboter, Enterhaken, rotierende Peitschen und allerlei andere Geräte finden. Alle gehen sie vermutlich auf einen ein- und ausfahrbaren Stab zurück, mit dem unser Urahn LUCA DNA aus seiner Umgebung eingesammelt hat.

Dieses Gefühl, eine unnötig komplizierte Maschinerie vor sich zu haben, kennen vermutlich alle, die sich mit dem menschlichen Immunsystem auseinandersetzen. Auch das lässt sich nur durch die Bastelei der Evolution erklären, die im ewigen Pingpong der Angriffe von Parasiten und der Abwehr seitens ihrer Wirte zu allem gegriffen hat, was sie finden konnte. Aus Streichhölzern und Gummibändern hat sie in gut vier Milliarden Jahren trojanische Pferde gebaut, die in trojanischen Pferden stecken, die in trojanischen Pferden stecken.

 

Literatur:

François Jacob: „Le jeu des possibles. Essai sur la diversité du vivant“, Fayard 1981. Zitat aus der deutschen Übersetzung von Friedrich Griese, Taschenbuch-Ausgabe 1984 unter dem Titel „Das Spiel der Möglichkeiten“ bei Piper; dort auf S. 50ff.

Morgan Beeby (2019): Evolution of a family of molecular Rube Goldberg contraptions

CRISPR-Cas: weit mehr als die erworbene Abwehr der Prokaryoten

Vor gut 10 Jahren habe ich hier die Funktionsweise von CRISPR-Cas erklärt, dem erworbenen oder adaptiven Immunsystem der Bakterien und Archäen. Schon damals war bekannt, dass  Prokaryoten-Zellen beim versehentlichen Einbau von Sequenzen aus dem eigenen Erbgut anstelle von Viren-Sequenzen an Autoimmunreaktionen sterben können. Und schon damals wurde die Frage gestellt, ob der Einbau eigener Sequenzen nicht auch andere Folgen, ja regelrechte Funktionen haben kann, etwa die Regulierung der Ablesung eigener Gene.

Heute ist in nature microbiology eine Arbeit erschienen, in der dies am Beispiel des Typ-IV-CRISPR-Cas-Systems des Bakteriums Pseudomonas oleovorans nachgewiesen wird. Der Artikel steckt hinter einer Bezahlschranke, aber das Manuskript ist an anderer Stelle frei zugänglich. Die Funktion der Typ-IV-Systeme waren der Forschung lange ein Rätsel, denn sie können fremde Nukleinsäuren, also virale Eindringlinge gar nicht zerschneiden. Nun zeigt sich, dass die spezifischen Erkennungssequenzen an bakterieneigene Gene binden und so deren Transkription unterdrücken – siehe Pressemitteilung beim idw.

Einen guten Überblick über die Vielfalt möglicher CRISPR-Cas-Funktionen jenseits der erworbenen Viren-Abwehr bietet eine frei zugängliche und mit anschaulichen Schemazeichnungen ausgestattete Übersichtsarbeit von Devi et al. (2022): CRISPR-Cas systems: role in cellular processes beyond adaptive immunity.

Neue Literatur bis einschließlich Dezember 2013, Teil 2

Weiter geht’s mit der Ausbeute der aufgelaufenen Wissenschafts-Newsletter. T1-T5 sind die Buchteile, für die der Artikel jeweils relevant sein könnte (T1 Einführung, T2 Grundlagen Immunsystem, T3 Ablauf [Auto]Immunrekation, T4 Entwicklung Immunsystem von der Zeugung bis ins Alter, T5 Evolution Immunsystem).

How HIV Destroys Immune Cells T3

Dogs, Dust Microbes, and Allergies T4, T5 (Koevolution Immunsystem – Mikrobiom)

Nishikawa H et al. (2013): Sex differences in the protection of host immune systems by a polyembryonic parasitoid (Abstract) T3, T5

Kallio ER et al. (2013): Maternal antibodies contribute to sex-based difference in hantavirus transmission dynamics (Abstact) T4

Bolte S et al. (2913): Specific immune priming in the invasive ctenophore Mnemiopsis leidyi (Abstract) T5

Rosengaus RB et al. (2013): Immune-priming in ant larvae: social immunity does not undermine individual immunity (Abstract) T3, T5

McFall-Ngai M et al. (2913): Animals in a bacterial world, a new imperative for the life sciences (Open Access) T4, T5 (Mikrobiom)

Zuk M, Borrello ME (2103): Parasites and altruism: converging roads (Open Access) T5

Potlukova, Eliska, et al. (2013): Association between Low Levels of Mannan-Binding Lectin and Markers of Autoimmune Thyroid Disease in Pregnancy (Open Access) T3, T4

Choi YM et al. (2013): Low Levels of Serum Vitamin D3 are Associated with Autoimmune Thyroid Disease in Pre-Menopausal Women (Abstract) T3, T4

Miskinyte M et al. (2013): The Genetic Basis of Escherichia coli Pathoadaptation to Macrophages (Open Access) T3, T5
Dazu auch How Bacteria Evade the Immune System

David LA et al. (2013): Diet rapidly and reproducibly alters the human gut microbiome (Abstract) T4, T5
Dazu auch Gut Bacteria Vary with Diet

Probst AJ et al. (2013): Archaea on Human Skin (Open Access) T4, T5
Dazu auch Neue Mitbewohner auf der menschlichen Haut entdeckt

Ristori G et al. (2103): Effects of Bacille Calmette-Guérin after the first demyelinating event in the CNS (Abstract)  T3
Dazu auch TB Vaccine Protects Against MS

Hsiao EY et al. (2013): Microbiota Modulate Behavioral and Physiological Abnormalities Associated with Neurodevelopmental Disorders (Open Access) T4
Dazu auch Gut Microbes and Autism

Joseph CG et al. (2013): Association of the Autoimmune Disease Scleroderma with an Immunologic Response to Cancer (Abstract) T3
Dazu auch A Cancer Culprit in Autoimmunity

Vergleich der Darmflora in Amazonien, Malawi und den USA

Eine hervorragende Ergänzung zu der Arbeit von De Filippo et al., die ich bereits für eine Buchskizze genutzt habe. Zusammenfassung, noch nicht allgemeinverständlich aufbereitet:

Tanya Yatsunenko et al.: Human gut microbiome viewed across age and geography. Nature 486, 222–227 (14.06.2012), doi:10.1038/nature11053; PDF

Abstract: Analyse des Mikrobioms aus Stuhlproben von 531 Personen und der Genaktivität im Stuhl von 110 dieser Personen. Gesunde Kinder und Erwachsene aus der Amazonasgegend in Venezuela, dem ländlichen Malawi und Metropolen in den USA. In den ersten drei Lebensjahren reift das Darm-Mikrobiom in allen drei Populationen auf ähnliche Weise; z. B. ändert sich die Genaktivität, die mit der Vitaminsynthese und dem Vitaminstoffwechsel zusammenhängt, mit dem Alter. Die Artenzusammensetzungen und die Repertoires der Genfunktion unterscheiden sich deutlich zwischen den USA und den beiden anderen Ländern.   Weiterlesen