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Abb. 94: Funktionelle Redundanz

Die Resilienz artenreicher Ökosysteme ist wohl auf ihre funktionelle Redundanz zurückzuführen: Jede Aufgabe kann durch mehrere Arten übernommen werden; es macht nicht viel, wenn eine Art ausfällt.

Sie dürfen diese Zeichnung gerne in Folien etc. übernehmen, sofern Sie die Quelle angeben: Dr. Andrea Kamphuis, https://autoimmunbuch.de

Von Dirigenten, Schlusssteinen und ungeladenen Gästen

Einen Mangel an Metaphern und Analogien kann man der Mikrobiom-Fachliteratur wahrlich nicht vorwerfen.

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George Hajishengallis (2013) diskutiert zum Beispiel die Frage, ob das Bakterium Porphyromonas gingivalis bei Parodontitis den entzündlichen Knochenverlust wirklich verursacht oder eher dirigiert („orchestrates“). Ein anderes Bild für denselben Sachverhalt: So, wie erst der Schlussstein („keystone“) einen Trockenbau-Mauerbogen zusammenhält, ist dieses Bakterium ein zentraler Bestandteil der entzündlichen Mundflora, aber nicht die alleinige Ursache der Erkrankung.

Im Netzwerk der gegenseitigen Abhängigkeiten im Ökosystem eines dysbiotischen Mikrobioms sitzen solche „keystone species“ wie die Spinnen im Netz (schraffierter Kreis): Sie erleichtern vielen anderen Arten, die zur Krankheit beitragen, das Überleben und profitieren ihrerseits von vielen weiteren Organismen. Nur wenige Arten im System sind gar nicht auf andere Organismen angewiesen. Im Netzwerk rechts sind sie mit Sternchen markiert, im Torbogen links ruhen sie direkt auf dem Erdreich.

Kultivieren – und damit durch Standardtests eindeutig nachweisen – lassen sich bisher oft nur diejenigen Arten eines Mikrobioms, die nicht auf die anderen Organismen angewiesen und insofern für das Gesamtgefüge eher untypisch sind: eben die untersten Steine des Bogens.

Genau wie in einem dysbiotischen Mikrobiom (zum Beispiel dem Biofilm bei einer Parodontitis oder der Darmflora bei einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung) stabilisieren sich auch die Arten in einem homöostatischen Mikrobiom (zum Beispiel einer gesunden Mund- oder Darmflora) gegenseitig: Die Ausscheidungen der einen Art dienen der nächsten als Rohstoffe. Die Arten nutzen alle Ressourcen so gründlich, dass ein Eindringling schlechte Karten hat, weil es für ihn keine Nische gibt.

In einem stabilen Mikrobiom beeinflussen die Teilnehmer außerdem ihre Umwelt so, dass die Bedingungen für ihr eigenes Gedeihen und das Gedeihen ähnlicher Organismen ideal sind (pH-Wert, Nährstoffe, Sauerstoffgehalt usw. – siehe Gleich und gleich gesellt sich gern). Ein Eindringling, der andere Bedürfnisse hat (hier: Pathogen = Biertrinker), hat so lange schlechte Karten, wie die übrige Gemeinschaft (hier: Kommensalen = Weintrinker) stabil bleibt.

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Wird die etablierte Gemeinschaft aber destabilisiert, beispielsweise durch Antibiotika, durch Attacken des Immunsystems oder durch eine hartnäckige Diarrhö, können sich Eindringlinge ausbreiten und ein neues Beziehungsgeflecht aufbauen – sozusagen eine Biertrinker-Kultur. Jessica Ferreyra et al. (2014) sprechen von „Party Crashers“, also ungeladenen Gästen. Auf einmal sind die alten Kommensalen in der Minderheit, und sie kommen mit den neuen Umweltbedingungen nicht zurecht, sodass sie die Hegemonie nicht einfach zurückerobern können.

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Jetzt befindet sich das System im rechten tiefen Tal in der untersten Abbildung im Artikel über die Resilienz, und es bedürfte einer erneuten „Kulturrevolution“, um es wieder in den homöostatischen Zustand zurückzubewegen – sofern das überhaupt möglich ist.

Menschen sind Inseln

Allmählich hält die Ökosystemtheorie Einzug in die Immunologie. Immer mehr Forscher plädieren dafür, sich von der alten Kriegsmetaphorik zu verabschieden und die Wahrung der menschlichen Gesundheit eher wie die Pflege eines Naturschutzgebiets anzugehen: Bevor man Organismen bekämpft, sollte man wissen, welche  Rollen sie im jeweiligen Ökosystem spielen. Sonst geht es uns mit unseren Symbionten und Kommensalen so wie mit der Vogelwelt auf so mancher Insel, auf der Katzen eingeführt wurden, um die Ratten in Schach zu halten. Womöglich ist genau das schon passiert, als wir in der ersten Welt bestimmte Würmer und Bakterien ausgerottet haben, die über Jahrhunderttausende auf und in uns lebten – mit der Folge, dass Autoimmunerkrankungen überhand nehmen.

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Die Ökosysteme auf und in uns

Im Rahmen des Human Genome Project sind die bakteriellen Lebensgemeinschaften an zahlreichen unterschiedlichen Stellen des Körpers untersucht worden. Die Umweltbedingungen unterscheiden sich so deutlich, dass zum Beispiel an den Knien z. T. andere Arten siedeln als unter den Füßen (Schnittmengendiagramm rechts).

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Die ökologische Perspektive: Auch unsere Plagegeister haben Plagegeister

Gestern war kein so produktiver Tag, was das Autoimmunbuch angeht. Abends sind dann doch noch zwei Skizzen fürs Einführungskapitel entstanden.

Nicht genug damit, dass unser Immunsystem ein furchtbar kompliziertes Netzwerk ist – die Wechselwirkungen enden auch nicht an unserer Haut. Vielmehr gehören wir Ökosystemen an, in denen zum Beispiel auch Krankheitserreger untereinander in Wechselwirkung treten. So kann es sein, dass ein Wurm, der sich in uns eingenistet hat, seinerseits von Parasiten befallen ist, in denen sich Bakterien tummeln, in denen Viren leben. Und sie alle haben im Lauf der Evolution Mechanismen hervorgebracht, um einerseits ihre Plagegeister unter Kontrolle zu halten und andererseits die Schutzmaßnahmen ihrer Wirte abzumildern:

Auch auf einer Hierarchiestufe dieser Babuschka-Netzwerke herrscht keineswegs Eintracht. Erreger unterschiedlicher Art (oder auch derselben Art, aber aus unterschiedlichen Stämmen oder in verschiedenen Entwicklungsstadien) machen sich beim Kampf um Ressourcen, also zum Beispiel um Lebensraum auf unserer Haut oder in unserem Verdauungstrakt, gegenseitig Konkurrenz:

Wie wir noch sehen werden, paktieren einige Erreger sogar mit dem Feind (in Gestalt unseres Immunsystems), um lästige Neuankömmlinge auszuschalten, die sich auch noch einen Claim abstecken wollen. Wenn wir im Zuge verbesserter Hygienemaßnahmen, Wurmkuren usw. diese vermeintlichen Gegner ausschalten, die tatsächlich im Lauf der Evolution zu Verbündeten geworden sind, kann unser Immunsystem aus dem Lot geraten und körpereigenes Gewebe angreifen.

Das Jahr der Rückkehr zum ökologischen Denken

Trotz ergiebiger Autoimmun-Fachlektüre in den letzten Wochen hat die Kraft zum Bloggen nicht gereicht. Kurz vor dem Jahreswechsel möchte ich wenigstens berichten, wie ich das Jahr 2011, mein Sabbatjahr, vorläufig beurteile.

Wie bereits im August in meiner Rezension des Buches „The Autoimmune Epidemic“ von Donna Nakazawa Jackson angedeutet, bin ich 2011 durch die Fachlektüre vor allem zum ökologischen Denken zurückgekehrt, das mich in den 1980ern stark geprägt hat. Die Artikel über Humane Endogene Retroviren (HERVs), das Human Metagenome Project, die Hologenom-Theorie, molekulare Mimikry, die Zusammenhänge zwischen Infektionen und Autoimmunerkrankungen, die Symbiosen von Pflanzen oder Tieren und Mikroorganismen, evolutionär konservierte mikrobielle Antigene usw., die ich in den letzten Wochen gelesen habe, haben mir erneut verdeutlicht, dass wir Entgleisungen der angeborenen und der erworbenen Immunabwehr nur richtig verstehen werden, wenn wir nicht mehr angestrengt auf das Humangenom starren, sondern akzeptieren, dass wir Gemeinschaftswesen sind: Ökosysteme, in denen zahlreiche virale Gene, mikrobielle Genome, Einzeller und auch größere Mitbewohner wie Würmer maßgebliche Rollen spielen (oder spielten).   Weiterlesen