Wie es weitergeht

Seit über einem Jahr habe ich keinen neuen Artikel veröffentlicht. Habe ich das Projekt aufgegeben? Habe ich Band 2 des Autoimmunbuchs in aller Stille beerdigt?

Nein. Das Leben kam dazwischen, und ich habe mich ablenken lassen. Schon die Pandemiejahre haben mich aus dem Tritt gebracht und den Plan vereitelt, nach der Veröffentlichung von Band 1 (2018, du meine Güte, vor sechs Jahren!) zügig an Band 2 weiterzuarbeiten.

Hinzu kamen ein phasenweise ziemlich dominierendes Engagement in Sachen Klimakrise (etwa bei den Scientists for Future) und berufliche Belastungen – und das trotz meiner Teilzeitstelle. Nach wie vor glaube ich, dass die Bekämpfung der Klima- und Biodiversitätskrise und die Aktivierung der politischen Entscheider*innen – leider – viel, viel wichtiger sind als ein Buch über die Biologie der Autoimmunstörungen oder meine Tätigkeit in der Kommunikationsabteilung eines wissenschaftlichen Instituts im Gesundheitswesen.

Aber ich muss ernüchtert feststellen, dass man auch in der Klimabewegung viel Energie verbraten kann, ohne dass sich Erfolge einstellen. Aufwand und Nutzen meines Engagements habe ich daher in den letzten Monaten neu bewertet – und mich entschieden, wieder mehr Kraft in das Autoimmunbuch-Projekt zu stecken. Auch beruflich konnte ich dem Burnout durch die ernsthafte Suche nach alternativen Wirkungsstätten, klärende Gespräche im Institut und eine Reduktion der Arbeitszeit auf die ursprünglich vereinbarten 50% noch einmal von der Schippe springen.

Und so geht es nun wieder voran – in diesem Blog und mit dem Manuskript von Band 2. Sicher wird es weitere Rückschläge und Stagnationen geben. Aber: Das Projekt lebt. Ich danke euch für eure unendliche Geduld.

Jahreszeitliche Schwankungen der Schilddrüsenhormonwerte

Was für ein Zufall: Vorgestern habe ich beim Hausarzt endlich den TSH-Wert erfragt, der im Januar erhoben worden war. Ich hatte das bisher nicht getan, da ich mich im Winter und auch seither gut eingestellt fühlte. Das ist nur in einem recht schmalen TSH-Werte-Korridor der Fall – viel schmaler jedenfalls als das Spektrum normaler Werte bei Gesunden, das bei „meinem“ Labor von 0,55 bis 4,80 mIU/L reicht.

Als Faustregel habe ich mir gemerkt, dass der Wert bei mir nicht unter 0,8, aber auch nicht über 1,5 mIU/L liegen sollte. Darunter werde ich extrem hibbelig und fahrig, darüber werde ich nicht richtig wach. Daher wunderte es mich, dass die TSH-Konzentration in meinem Serum im Januar bei 1,68 mIU/L lag, obwohl ich nicht total schlapp, verfröstelt und langsam war.

Zack: Gestern gab es bei DocCheck eine mögliche Erklärung. Die mittleren Konzentrationen des Thyroxins (insbesondere FT3) und des Thyreoidea-stimulierenden Hormons schwanken einer neuen japanischen Studie zufolge bei Gesunden im Jahresverlauf erheblich. Während der mediane TSH-Wert der 7000 Probandinnen und Probanden im Mai nur 1,16 betrug, waren es im Januar 1,61 – also fast genauso viel wie bei mir.

Zwar lassen sich die jahreszeitlichen Schwankungen bei Gesunden nicht eins zu eins auf Menschen mit Hashimoto-Thyreoiditis übertragen, die – wie ich – rund ums Jahr dieselbe Thyroxin-Menge einnehmen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass der Thyroxin-Bedarf des Körpers auch bei mir im Jahresverlauf ein wenig schwankt, was wiederum systematische Änderungen des TSH-Werts nach sich zieht, der ja den aktuellen Thyroxin-Bedarf des Körpers signalisiert. Zum Beispiel wiege ich im Winter meist etwas mehr; es muss also schlicht mehr Gewebe versorgt werden; außerdem greift gerade Fettgewebe in die Hormonkreisläufe ein. Auch muss der Körper im Winter mehr heizen, und die Körpertemepratur wird ebenfalls über Thyroxin reguliert.

Der Mehrbedarf war aber offenbar nicht groß genug, um sich auf mein Wohlbefinden auszuwirken. Daher bleibe ich bis auf weiteres bei dem übers Jahr konstanten Einnahmeschema. Ich verstehe aber jetzt besser, warum manche Menschen mit Hashimoto-Thyreoiditis berichten, dass sie im Urlaub weniger Thyroxin brauchen und daher die Einnahmemenge reduzieren – vorausgesetzt, sie reden vom Sommerurlaub!

Cartoon eines Mitochondriums als Fabrik, die vor allem Energieträger erzeugt

Die Rolle der Mitochondrien in systemischen Autoimmunerkrankungen

Mein Text über T-Zellen mit Stoffwechselproblemen ist gut sieben Jahre alt. Höchste Zeit für ein Update: Welche Rolle spielt der Zellstoffwechsel bei der Entstehung und der Bekämpfung von systemischen Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Lupus (SLE)? Was geschieht mit den Zellen und Regelkreisläufen des Immunsystems, wenn unsere Mitochodrien nicht so funktionieren, wie sie es sollten? Der aktuellen Kenntnisstand dazu ist in einem Review nachzulesen (Open Access):

Blanco LP, Kaplan MJ (2023): Metabolic alterations of the immune system in the pathogenesis of autoimmune diseases. PLoS Biol 21(4): e3002084. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3002084

Der Artikel enthält ein Glossar mit den wichtigsten Grundbegriffen und einige mittelprächtige Abbildungen. Viele Aussagen sind – wie so oft in narrativen Reviews – recht vage, nach dem Schema: X könnte Y bewirken. Und man verliert sich leicht in den zahlreichen Details der dargestellten Signalketten und Stoffwechselwege, die ich im Folgenden weglasse.

Bevor ich die Arbeit zusammenfasse: ein Wort zur sogenannten Mitochondrien-Medizin. Ich reagiere etwas allergisch auf den Ausdruck, da mir dieser alternativmedizinische Ansatz arg esoterisch erscheint, wie ein Glaubenssystem, dessen Anhänger ab und zu auch mich zu bekehren versucht haben oder in mir eine Verbündete zu sehen meinten. Insofern passt es, dass dieser Text nach dem über die Just-so-Stories erscheint: Die Hypothese, auf der Mitochondrien-Medizin fußt, klingt furchtbar einleuchtend, aber das Ganze ist nicht gerade evidenzbasiert. Dysfunktionale Mitochondrien sind tatsächlich an (zumindest einigen) Autoimmunerkrankungen beteiligt. Aber die Zusammenhänge sind komplex und vermutlich nicht bei allen Autoimmunerkrankungen gleich, und die entsprechenden Therapieansätze sind so unausgereift, dass gegenüber schlichten Ernährungsregeln oder anderen Formen der Selbsttherapie zur Mitochondrien-„Heilung“ vorerst gehörige Skepsis angebracht ist. Jetzt aber zu Blanco und Kaplan:

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Eine Impfung gegen Rheuma?

Eine kurze Literaturnotiz, die zudem nur auf dem Abstract eines Fachartikels beruht, da ich an den Volltext nicht herankomme:

Vilma Urbonaviciute et al. (2023): Therapy targeting antigen-specific T cells by a peptide-based tolerizing vaccine against autoimmune arthritis. In: PNAS, 12. Juni 2023, 120 (25) e2218668120

Bisherige Therapien bei Autoimmunerkrankungen bekämpfen meist recht unspezifisch die Entzündungen oder einzelne Symptome wie Schmerzen, oder man versucht das Immunsystem komplett „zurückzusetzen“, also z. B. alle B-Zellen (und damit auch die autoreaktiven B-Zell-Klone) zu eliminieren. All das geht mit erheblichen Nebenwirkungen einher.

Nun hat ein Forschungsteam an Mäusen einen spezifischeren und zudem vorbeugenden Ansatz erprobt: Ein MHC-Klasse-II-Protein (also ein „Antigen-Präsentationsteller“, wie man ihn normalerweise auf Makrophagen, Monozyten, dendritischen Zellen oder B-Zellen findet) wurde mit einem galatolysierten Kollagen-Typ-II-Peptid (kurz COL2) beladen. Diese Makromolekül-Kombination wurde Mäusen eines Zuchtstamms injiziert, der zu einer Autoimmun-Arthritis neigt, also einem Tiermodell einer rheumatoiden Arthritis.

Das Konstrukt ist positiv geladen und kann so direkt mit dem passenden antigenspezifischen T-Zell-Rezeptor interagieren, was zur Vermehrung eines bestimmten, sonst seltenen Typs von regulatorischen T-Zellen (Tregs) führt. Diese Tregs unterdrücken spezifisch die Autoimmunreaktionen auf den Collagen-Schnipsel, und zwar so stark, dass die Tiere trotz ihrer Veranlagung keine Arthritis bekommen. Überträgt man die Tregs auf andere Mäuse, so bekommen auch diese keine Autoimmun-Arthritis; damit ist der Beweis erbracht, dass wirklich diese regulatorischen T-Zellen die Toleranz des Immunsystems gegenüber dem körpereigenen Kollagen wiederherstellen.

Die Autor*innen hoffen, dass diese Form der Toleranz-Induktion durch Impfung auch beim Menschen funktioniert und bei Individuen mit entsprechender genetischer Prädisposition den Ausbruch von Rheuma und womöglich auch anderen Autoimmunerkrankungen verhindern kann. Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg – wenn es überhaupt klappt und sich als sicher erweist.

Fische sind cool: Eine Just-so-Story über die Konsequenzen der Warmblütigkeit

Vor gut 120 Jahren, im Jahr 1902, veröffentlichte der britische Autor Rudyard Kipling eine Geschichtensammlung mit dem Titel „Just So Stories for Little Children“: logisch klingende, aber frei erfundene Erklärungen dafür, wie Tiere zu ihren auffälligsten Merkmalen gekommen sind, etwa das Kamel zu seinem Höcker oder der Elefant zu seinem Rüssel. Ihren Titel verdankt die Sammlung der Forderung seiner jungen Tochter, dass er die Geschichten „genau so“ erzählen oder vorlesen müsse, jeden Abend exakt gleich. In Anlehnung an Kipling bezeichnen Evolutionsbiologen schwer überprüfbare (oder zumindest noch nicht überprüfte), aber verführerisch einleuchtend klingende Erklärungen für die evolutionäre Herausbildung von tierischen Merkmalen oder menschlichen Eigenschaften als Just-so-Stories.

Die roten Blutkörperchen oder Erythrozyten der Säugetiere sind scheibenförmig und in der Mitte dünner als am Rand, denn sie enthalten keinen Zellkern und keine Organellen, dafür aber viel Hämoglobin, um Sauerstoff aus den Lungen über die Blutbahn in die Organe zu transportieren:

In Fischen, Amphibien und Reptilien haben die Erythrozyten dagegen einen Kern, und sie übernehmen wichtige Aufgaben im Immunsystem. So helfen sie bei der Bekämpfung von Viren-, Bakterien- und Pilz-Infektionen, etwa durch die Ausschüttung von Botenstoffen und reaktiven Sauerstoffspezies oder durch die Bindung, Aufnahme, Verarbeitung und Präsentation von Antigenen. Zwar enthalten sie auch Hämoglobin und dienen dem Sauerstofftransport, aber daneben sind sie vollwertige, wehrhafte Immunzellen:

Dass die roten Blutkörperchen der Säugetiere ihre Kerne kurz nach der Entstehung im Knochenmark abstoßen, klingt zunächst nach einem Rückschritt. Denn da sie ohne Kerne und Organelle keine Proteine mehr produzieren können, spielen sie im Immunsystem der Säuger eine so untergeordnete Rolle, dass sie in Listen der Zelltypen des Immunsystems meist gar nicht aufgeführt werden. Stattdessen konzentrieren sich die abgeflachten Zellen ganz auf den Sauerstofftransport; das Hämoglobin macht 90 Prozent ihres Trockengewichts aus.

Über den Grund für den Verlust des Zellkerns der Säugetier-Erythrozyten kursiert eine Just-so-Story: Fische, Amphibien und Reptilien sind wechselwarme (poikilotherme oder ektotherme) Tiere, deren Körpertemperatur von der Umgebungstemperatur abhängt. Säugetiere sind dagegen gleichwarme (homoiotherme oder endotherme) Tiere, umgangssprachlich auch Warmblüter genannt. In dem meisten Lebenslagen müssen sie viel Energie aufwenden, um ihren Körper aufzuheizen. Dadurch sind sie weniger abhängig vom Wetter, können beispielsweise ihre Jungen im Leib austragen und vielfach auch im Winter aktiv bleiben. Um die Wärme zu generieren, braucht ihr Gewebe viel Energie, und um Energieträgermoleküle wie ATP aufzubauen, braucht es sehr viel Sauerstoff. Den schaffen die roten Blutkörperchen herbei. Also weg mit deren Zellkernen, her mit Unmengen an Hämoglobin, um den Körper mit Sauerstoff zu versorgen!

Klingt logisch – zumal Säugetiere ja zumeist an Land leben und nicht ständig in einer Bakterien- und Virensuppe herumschwimmen, während Fische und auch Amphibienlarven das Wasser sogar durch ihre Kiemen filtern, also ständig sehr eng mit vielen Krankheitserregern in Berührung kommen.

Aber … Moment mal! Was ist denn mit den Vögeln? Auch sie sind gleichwarm, brauchen also meistens viel Energie, um sich gegenüber der Umgebung aufzuheizen. Und ihre roten Blutkörperchen?

Tja: Die haben trotzdem Zellkerne. Damit fällt die einleuchtende Erklärung für den Kernverlust der Säugetier-Erythrozyten in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Nicht immer sind Just-so-Stories so leicht zu erkennen. Wir Menschen haben das Bedürfnis, Dinge zu begreifen, und verspüren oft eine tiefe Befriedigung, wenn wir auf eine nachvollziehbare Erklärung für ein Phänomen stoßen. Im Autoimmunbuch und im Friendly-Fire-Blog bin ich besonders anfällig für Just-so-Stories, denn ich schreibe dies alles ja in erster Linie, um mir selbst und anderen Interessierten unser Immunsystem und die Entstehung von Autoimmunerkrankungen begreiflich zu machen. Denn je besser ich die unheimlichen Entgleisungen meines Immunsystems verstehe, desto weniger ängstigen sie mich. Auch wenn ich skeptisch und wachsam zu bleiben versuche, wird bestimmt die eine oder andere evolutionsbiologische oder ökologische Herleitung im Buch und im Blog schlecht altern. Aber das nehme ich in Kauf.

Asthma ist mit rheumatoider Arthritis assoziiert

Vor elf Jahren habe ich hier drei Texte zum Verhältnis zwischen Allergien bzw. Asthma und Autoimmunerkrankungen veröffentlicht:

Schließen Autoimmunerkrankungen und Allergien einander aus? Teil 1

Schließen Autoimmunerkrankungen und Allergien einander aus? Teil 2

Schließen Autoimmunerkrankungen und Allergien einander aus? Teil 3

Das durchwachsene Fazit: Einige Autoimmunerkrankungen könnten bei Menschen mit (bestimmten Formen von) Asthma seltener auftreten als bei Menschen ohne Asthma. Andere Studien fanden keine positive oder negative Assoziationen zwischen Asthma oder Allergien auf der einen und verschiedenen Autoimmunerkrankungen auf der anderen Seite.

Die Vorstellung, dass Asthma oder Allergien vor Autoimmunerkrankungen „schützen“, wurde durch das schon damals veraltete Konzept einer einseitigen Dominanz Th1- oder des Th2-Wegs im Immunsystem gefördert, dem zufolge entweder die zelluläre Abwehr (über)aktiv wird oder aber die humorale Abwehr, also die Antikörperproduktuion. Asthma und Allergien wurden mehrheitlich dem Th2-Arm zugeordnet, Autoimmunerkrankungen dem Th1-Arm. Schon 2012 war aber klar, dass Th17-Zellen und regulatorische T-Zellen bei vielen Erkrankungen ebenfalls wichtig sind und dass der Th1- und Th2-Arm einander keineswegs vollständig hemmen: Bei vielen Autoimmunstörungen, die primär durch überaktive T-Effektorzellen (also durch den Th1-Arm) geprägt sind, lassen sich auch hohe Konzentrationen von Autoantikörpern (Th2-Arm) nachweisen – nur ist oft nicht klar, ob sie zum Erkrankungsmechanismus beitragen oder ein reines Epiphänomen darstellen.

Zeit für ein Update! Der Anlass ist eine neue koreanische Studie, in der das Verhältnis von rheumatoider Arthritis (RA), einer von Th1- und Th17-Zellen geprägten Autoimmunerkrankung, zu Asthma bronchiale und anderen chronischen entzündlichen Atemwegserkrankungen untersucht wurde, bei denen Th2-Zellen dominieren:

Kim et al. (2023): Association of rheumatoid arthritis with bronchial asthma and asthma-related comorbidities: A population-based national surveillance study

An der Studie beteiligten sich gut 14.000 Personen über 40 Jahren. Bei ihnen war RA signifikant mit Asthma, allergischer Rhinitis und Sinusitis assoziiert. Die Korrelation war also nicht negativ im Sinne einer Schutzwirkung, sondern positiv: Menschen mit Asthma hatten z. B. mit einer gut doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit auch RA wie Menschen ohne Asthma. Das Studiendesign erlaubte zwar keine Aussagen über die Richtung des Zusammenhangs, aber da Asthma und Allergien oft bereits in jungen Jahren auftreten, Rheuma aber erst spät im Leben, liegt es nahe, dass Asthma und Allergien Risikofaktoren für Rheuma sind und nicht umgekehrt. Es gibt auch Längsschnittstudien, die darauf hindeuten.

Neu gegenüber den Untersuchungen, die ich 2012 vorgestellt habe, ist der vorgeschlagene Mechanismus hinter diesem Zusammenhang: Schleimhautentzündungen in den Atemwegen erhöhen die sogenannte Citrullinierung. Bei dieser enzymatischen Reaktion wird die Aminosäure Arginin, die in unseren Proteinen vorkommt, in die ähnliche Aminosäure Citrullin umgewandelt, die der menschliche Körper normalerweise nicht herstellt. Diese kleine Modifikation kann dazu führen, dass ein Protein eine etwas andere Faltungskonfiguration einnimmt und daher dem Immunsystem fremd vorkommt. So kann eine Autoimmunreaktion ausgelöst werden, die sich gegen ein körpereigenes Protein richtet. Das scheint bei seropositivem Rheuma der Fall zu sein – siehe Abbildung 111 und Abbildung 231 aus Band 1 des Autoimmunbuchs sowie meine Zusammenfassungen der Arbeiten von Wegner et al. und Routsias et al. Auch Asthma verstärkt die Citrullinierung, und Asthma-Patient*innen haben mehr Antikörper gegen citrullinierte Proteine im Blut als Menchen ohne Asthma.

Wo ich schon dabei war, habe ich auch noch die Abstracts zweier weiterer Veröffentlichungen ausgewertet:

Charoenngam et al. (2020): Patients with asthma have a higher risk of rheumatoid arthritis: A systematic review and meta-analysis

Eine Metaanalyse von Kohortenstudien zeigt, dass Patient*innen mit Asthma ein etwa um den Faktor 1,4 (signifikant) erhöhtes Risiko haben, an RA zu erkranken. Auch eine Metaanalyse von Fall-Kontroll-Studien zeigt ein etwa um den Faktor 1,3 erhöhtes Risiko.

Williams et al. (2023): The uni-directional association of atopic dermatitis and rheumatoid arthritis: a systematic review and meta-analysis

Atopische Dermatitis oder Neurodermitis ist ein gutes Beispiel für die Unzulänglichkeit des alten Th1-versus-Th2-Paradigmas: Die Erkrankung beginnt mit einer Dominanz von Th2-Helferzellen, die die IgE-Antikörper-Produktion fördern, und geht dann zu einer Th1-Dominanz über.

In dieser Studie ist die Richtung klar: Patient*innen mit Rheuma haben kein signifikant erhöhtes Risiko, auch atopische Dermatitis zu bekommen. Umgekehrt geht eine atopische Dermatitis aber wohl mit einem höheren Risik einher, auch an Rheuma zu erkranken. Bei anderen Formen von Arthritis zeigten sich keine klaren Zusammenhänge.

Da die atopische Dermatitis durch häufige Entzündungen der Haut geprägt ist, könnte auch hier die Citrullinierung eines Proteins in der Haut das Bindeglied zum Rheuma sein. Das ist aber Spekulation meinerseits; es geht nicht aus dem Abstract hervor.

Wissenschaftler*innen solidarisch mit der „Letzten Generation“

Klima-Kundgebung auf Kölner Neumarkt am Freitagmittag

Pressemitteilung

Köln, 29. März 2023

Am 31. März 2023 um 12 Uhr versammeln sich auf dem Neumarkt in Köln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen, um angesichts der drängenden Klimakrise ihre Solidarität mit der Gruppierung „Letzten Generation vor den Kipppunkten“ zu erklären und gegen deren Verunglimpfung als „Klimaterroristen“ zu protestieren.

Am 20. März 2023 hat der Weltklimarat (IPCC) erklärt:

Das Zeitfenster, in dem eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle gesichert werden kann, schließt sich.

Das heißt: Wir sind tatsächlich die letzte Generation, die das Schlimmste für die Menschheit und die Umwelt verhindern kann. Der Name der unter anderem durch regelmäßige Straßenblockaden bekannt gewordenen Gruppierung „Letzte Generation vor den Kipppunkten“ ist keine Übertreibung.

„Wir wissen genug – und handeln nicht danach“, so Maria-Inti Metzendorf, Gesundheitswissenschaftlerin und aktiv bei der Gruppierung Scientist Rebellion. „Das ist das eigentliche Problem – nicht die Menschen, die aus Verzweiflung über das Ausmaß der Klimakrise unseren Alltag mit ihren Aktionen stören.“

„Wir leben in einem der reichsten Länder und beanspruchen einen großen Teil der Ressourcen der Erde“, ergänzt die Biologin Andrea Kamphuis, die sich in dem Zusammenschluss Scientists for Future engagiert. „Wenn wir es nicht schaffen, unsere Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen zu überwinden, wer dann? Welche Zukunft hat eine Spezies, die ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstört?“

Die Kundgebung bietet Gelegenheit zu Gesprächen mit Forscher*innen, Akademiker*innen und Studierenden, die sich im Angesicht von Klimawandel und Artensterben nicht mit den Hinhaltetaktiken der Politik und der Diskreditierung legitimer gewaltfreier Proteste abfinden wollen.

 

Kontakt: Dr. rer. nat. Andrea Kamphuis, kontakt@ak-text.de

Schreiben in Zeiten multipler Krisen

Eigentlich habe ich heute keine Zeit zum Bloggen – und außerdem sehr schlechte Laune. Gerade deshalb muss es raus:

Es fällt mir oft schwer, mich zur Arbeit an Band 2 zu motivieren. Nicht, dass es keinen Spaß machen würde, neue Facharbeiten zu lesen und zusammenzufassen oder Ideen für Zeichnungen und für die Buchgestaltung festzuhalten, und das habe ich in den letzten Tagen auch ab und zu getan. Aber die multiplen Krisen nagen an mir: Pandemie, Krieg und vor allem die Klima- und die Biodiversitätskrise.

Seit am Montag der „Synthesis Report“ des 6. IPCC-Sachstandsbericht veröffentlicht wurde, brodelt es besonders stark in mir. Ich bin pessimistisch, was die Fähigkeit unserer Gesellschaft angeht, das Ruder herumzureißen, und frage mich, was so ein Buch über die Evolution der Immunsysteme und die Zunahme der Autoimmunerkrankungen überhaupt soll in jener Welt, auf die wir zusteuern.

Noch eindringlicher stellt sich mir diese Frage in Sachen Brotberuf. Ich erlebe eine starke Dissonanz zwischen dem, was eigentlich geboten wäre, und dem, was wir jeden Tag tun oder für die kommenden Jahre planen. Zugleich scheint mir, dass Institutionen und Organisationen der evidenzbasierten Medizin viel aus dem lernen könnten, was die Klimawissenschaften in den letzten Jahren durchmachen: Sie forschen wie blöde, verfassen eindringliche Warnungen – und werden im Grunde ignoriert. Auch für die evidenzbasierte Medizin hat die Politik nicht viel mehr übrig als Lippenbekenntnisse. Dazu folgt in Kürze ein gesonderter Blogbeitrag. [Nachtrag am 20.04.23: Den habe ich nicht geschafft. Vielleicht später einmal.]

Was das Buch angeht: Ja, natürlich mache ich weiter. Ich muss mich auch nicht vor der Welt da draußen rechtfertigen für mein Schneckentempo – auch wenn es mir für diejenigen Leser*innen von Band 1 leid tut, die ab und zu nach Band 2 fragen. Aber für mich selbst muss ich das hier einmal zu Protokoll geben und mir auch Dispens erteilen: Es ist ja völlig logisch, dass globale Krisen Störfaktoren sind – auch im eigenen Leben und Schaffen.

Ich versuche das ins Konstruktive zu wenden, indem ich die Zusammenhänge zwischen meinen Themen und diesen Krisen stärker herausarbeite. Wie auch Richard Lucius in seinem lesenswerten Buch „Die Kraft unseres inneren Ökosystems“ konstatiert, ist die deutliche Zunahme von chronischen Entzündungen und Autoimmunerkrankungen im 20. und 21. Jahrhundert in der „entwickelten“ Welt im Grunde nichts anderes als eine Biodiversitätskrise, Folge eines Artensterbens in unserem Inneren, das wiederum auf unintendierte und allzu lang heruntergespielte Folgen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise zurückzuführen ist.

Auch die Migration von Menschen und anderen Lebewesen, die durch Klimawandel und Klimakatastrophen ausgelöst wird, führt zu einem ökologischen Mismatch zwischen ihren Mikrobiomen und Immunsystemen einerseits und den Lebensumständen in ihren neuen Lebensräumen andererseits, was massive gesundheitliche Folgen haben kann. Wenn wir also das Klima und die Biosphäre stabilisieren, tun wir auch der eigenen Gesundheit etwas Gutes.

Also: Es geht vorwärts, aber sehr langsam. Es ruckelt und klemmt des öfteren. Such is life.

Multiple Sklerose und das Epstein-Barr-Virus: MS wegimpfen?

Kürzlich tauchte auf der tagesschau-Website eine Meldung auf: „Epstein-Barr-Virus: Impfung bald möglich?“ Berichtet wurde über die Forschung von Professor Wolfgang Hammerschmidt vom Helmholtz Zentrum in München: Dieser habe „gemeinsam mit anderen Forschenden einen Impfstoff gegen das Virus entwickelt, um das Pfeiffersche Drüsenfieber zu verhindern, das wissenschaftlich infektiöse Mononukleose genannt wird. Der Impfstoff, der bereits von einem Pharmaunternehmen produziert wird, soll nächstes Jahr in eine klinische Prüfung gehen, also am Menschen getestet werden.“

Und weiter: „Auch Professor Nicholas Schwab von der Uniklinik in Münster hält eine Impfung gegen das Epstein-Barr-Virus für ausgesprochen wünschenswert. Denn mit seinen jüngsten Forschungen konnte er bestätigen, was andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermutet hatten: Dass EBV eine entscheidende Rolle spielen kann bei der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose, kurz MS.“

Da fiel mir wieder ein, dass ich im Frühjahr kurz überlegt hatte, zu zwei viel diskutierten neuen Forschungsarbeiten über Multiple Sklerose und Epstein-Barr-Viren zu bloggen. Ich hatte mich dann dagegen entschieden, weil mir die zum Teil überzogenen Erwartungen, die Vielzahl der vorgeschlagenen Wirkmechanismen bei der Entstehung von MS und die Überhöhung von Indizien zu Beweisen oder von Korrelationen zu kausalen Zusammenhängen bei diesem Thema seit Jahren auf den Zeiger gehen.

Schon vor 10 Jahren schrieb ich hier im Blog: „Ehrlich gesagt habe ich es aufgegeben, bei Multipler Sklerose den Überblick über die Fachliteratur und die Diskussionen zu ihren Ursachen und Mechanismen zu behalten: Nach meinem Eindruck wird alle paar Wochen eine neue Sau durchs Dorf getrieben, und oft wird mir nicht klar, welche Studienergebnisse nun mit welchen Theorien zusammenpassen und was sich gegenseitig ausschließt.“ Daran hat sich nichts geändert.

Nun schreibe ich doch über das verhasste Thema, denn die Impfungen, die hier in Aussicht gestellt werden, möchte ich ein wenig einordnen. Viele Details lasse ich weg; wer mag, kann sie in den unten verlinkten Artikeln nachlesen.

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Bedeutungsschwangerer Vergleich: Das Liebesleben der Seenadeln

Cartoon: links ein trächtiges Seepferdchen-Männchen, rechts ein verliebtes Weibchen, das an seinem Bauch lauscht

#NaNoWriMo22, Tag 7 (an Tag 6 habe ich Vorarbeiten für diesen Artikel erledigt)

Tiefseeanglerfische und Seenadeln – also die langgestreckten Grasnadeln, die gekrümmten Seepferdchen und ihre Verwandtschaft – haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam, einmal abgesehen davon, dass sie Fische sind: Die Tiefseeangler (Ceratioidei) leben allesamt in der finsteren Tiefsee und gelten aufgrund ihres ungewöhnlichen Körperbaus mit den riesigen Mäulern, den vorgeschobenen Unterkiefern und den spitzen Zähnen als hässlich, ja monströs – was allerdings auch daran liegt, dass die meisten Exemplare, die wir hier oben zu Gesicht bekommen, durch die Dekompression regelrecht zermatscht sind. Die Seenadeln (Syngnathidae) bevorzugen lichtdurchflutete Seegraswiesen im Flachwasser, haben winzige Mundöffnungen und wirken auf uns grazil und einnehmend.

Auch ihr Liebesleben ist auf den ersten Blick grundverschieden: Seenadelmännchen sind nicht winzig klein und wachsen nicht an einem Weibchen fest. Dafür werden sie trächtig! Das Spektrum reicht von einem einfachen Festkleben der Eier, die ihnen die Partnerin übergibt, am Bauch oder unter dem Schwanz, bis zum Austragen in einer komplett geschlossenen Bruttasche, einem veritablen Schwangerschaftsbauch wie in meinem Cartoon. Der männliche Organismus behütet und nährt den Nachwuchs, der zu diesem Zweck in ein schwamm- oder placentaartiges Gebilde eingebettet wird. Und der Vater stattet die Kleinen auch mit einem immunologischen Starter-Kit aus, sodass sie die vielen Bakterien und anderen potenziellen Krankheitserreger sofort bekämpfen können, wenn sie bei der Geburt aus dem schützenden Bauch ins weite Meer entlassen werden.

Und da taucht sie dann auf, die Parallele zu den Tiefseeanglern: Wie kommt es, dass das Immunsystem männlicher Seenadeln die Eier bzw. Embryonen nicht abstößt? Sie sind für den väterlichen Organismus doch hemiallograft, bestehen also zur Hälfte aus fremdem Gewebe, nämlich solchem mütterlichem Ursprungs. Normalerweise müssten sie – wie Transplantate – als „Nicht-Selbst“ bekämpft werden. Bei uns Säugetieren geschieht das nur deshalb nicht, weil zwischen der mütterlichen Gebärmutter und dem embryonalen Gewebe eine lückenlose Schutzschicht eingezogen ist, die keine MHC-Komplexe auf der Oberflächen trägt, sodass die mütterlichen Immunzellen gewissermaßen blind sind für das fremde Gewebe, das sich hinter diesem Wall verbirgt. (Das ist jetzt arg verkürzt dargestellt, soll hier aber reichen.)

Ein Forschungsteam um Olivia Roth am GEOMAR Helmholtz Centre for Ocean Research in Kiel untersucht die Schwangerschaften der Seenadeln seit über zehn Jahren, um unter anderem dieses Rätsel zu lösen. Dank des schon erwähnten breiten Spektrums (vom äußerlichen Festkleben der Eier am Bauch über offene Bruttaschen oder -rinnen bis zu geschlossenen Taschen, deren kleine Öffnung das Männchen erst zur Übernahme der Eier und später zur Geburt des ausgetragenen Nachwuchses kontrolliert öffnen kann) lässt sich hier einiges über die Evolution der Trächtigkeit lernen, das dem bloßen Studium der Säugetiere nicht zu entnehmen wäre. Denn bei den Säugetieren laufen alle Schwangerschaften im Grunde ähnlich ab; sie sind gewissermaßen alle vollkommen; „ein bisschen schwanger“ gibt es hier nicht!

Anders bei den Seenadeln. Hier zeigt sich: Je inniger der Kontakt zwischen väterlichem Organismus und Nachwuchs, desto stärker ist die Art „immundefizient“. Wie bei den Tiefseeanglern fehlen den Seepferdchen der Gattung Hippocampus und den Grasnadeln der Gattung Synghathus diejenigen Teile der erworbenen Abwehr, die eine Abstoßungsreaktion auslösen könnten. Die Gene im Haupthistokompatibilitätskomplex der Klasse II (MHC II) sind bei Syngnathus typhle abhanden gekommen oder defekt. Auch T-Zellen des Typs CD4+ scheinen bei dieser Art zu fehlen; sie hat also keine T-Helferzellen.

Andere Komponenten des Immunsystems sind zwar vorhanden und im Prinzip funktionstüchtig, werden aber bei Männchen während der Schwangerschaft herunterreguliert, um ihre immunologische Toleranz gegenüber den Halb-Fremdlingen in der Bruttasche zu erhöhen. Das gilt zum Beispiel für den Haupthistokompatibilitätskomplex der Klasse I (MHC I).

Eine Untersuchung der Entzündungsparameter bei Syngnathus typhle ergab deutliche Parallelen zu Säugetieren wie uns Menschen: Ganz zu Beginn einer Schwangerschaft, bei der Einnistung, tritt bei Grasnadeln wie Säugern eine lokale Entzündung auf, ohne die das zur Einbettung des befruchteten Eies nötige Gewebe gar nicht entstehen kann. Entzündungen fördern ja unter anderem die Bildung von Blutgefäßen. Dann folgt eine längere entzündungsfreie Phase, in der das elterliche Immunsystem maximale Toleranz übt. Schließlich steigen die Entzündungsparameter wieder an, denn die Geburt ist im Grunde nichts anderes als eine verspätete Abstoßung, ja ein Ausstoßen der nunmehr auch außerhalb des elterlichen Körpers lebensfähigen Kinder. Auch viele andere Gene, die bei uns Säugern in der Schwangerschaft je nach Phase stärker oder schwächer abgelesen werden als sonst, durchlaufen bei den Grasnadeln dieselbe Dynamik.

So, und warum interessiert mich das, warum gehört es ins Autoimmunbuch? Die meisten Autoimmunerkrankungen sind bei Frauen häufiger als bei Männern, teilweise extrem viel häufiger. Dafür werden in der Wissenschaft mehrere mögliche Ursachen diskutiert. Es könnte etwa an den weiblichen und männlichen Hormonen liegen, an den unterschiedlichen Genen auf dem X- und dem Y-Chromosom – oder am sogenannten X-Dosis-Effekt, also daran, dass Frauen zwei X-Chromosomen haben, Männer aber nur eines. Hinzu kommen Umweltfaktoren, etwa eine unterschiedliche Ernährung, unterschiedliche Berufe, unterschiedliche Kosmetika usw. Diese möglichen Ursachen schließen einander nicht aus, sondern könnten auch in Kombination miteinander das Erkrankungsrisiko herauf- oder herabsetzen.

Beim Menschen lassen sich diese Faktoren aber oftmals nicht sauber voneinander trennen: Das Geschlecht mit den beiden X-Chromosomen ist zugleich dasjenige, das Eizellen hervorbringt, die relativ groß sind und zum Beispiel Mitochondrien und Moleküle des Immunsystems enthalten. Und wer die Eizellen hervorbringt, trägt auch die Kinder aus – von Leihmutterschaften usw. einmal abgesehen. Aber auch Studien, die relativ einfach und ethisch unbedenklich wären, fehlen ärgerlicherweise. So wird seit Jahrzehnten spekuliert, ob eine Mutterschaft das Risiko für Hashimoto-Thyreoiditis erhöht, weil eine schlummernde Veranlagung während des immunologischen und hormonellen „Ausnahmezustands Schwangerschaft“ zum Ausbruch kommen könnte. Aber gute Statistiken dazu, also etwa Hashimoto-Prävalenzen bei 50-jährigen Frauen mit 0, 1, 2 oder 3 Kindern, habe ich noch nie gesehen!

Die Seenadeln bieten hier eine einmalige Chance: Es gibt ein männliches Geschlecht, das wie üblich zahlreiche winzige Spermien hervorbringt, und ein weibliches, das relativ wenige große, ressourcenreiche Eizellen produziert. Aber danach sind die Rollen vertauscht. Wie unterscheidet sich das Immunsystem der Männchen von dem der Weibchen – generell und insbesondere in den verschiedenen Phasen der männlichen Trächtigkeit? Geschlechtsspezifische Auswertungen habe ich in der Literatur noch nicht entdeckt, aber das kommt sicher noch.

Auch hier im Blog bleiben wir in den nächsten Tagen und Wochen noch beim Thema Fortpflanzung. Denn in der riesigen, bunten Klasse der Knochenfische (und auch bei ihren Cousins, den Knorpelfischen) gibt es offenbar fast nichts, was es nicht gibt. Freuen wir uns also auf die Reisfische, bei denen die Weibchen ihre Jungen im Geschlechtstrakt herumtragen, ohne im engeren Sinne schwanger zu sein. Und auf die Maulbrüter, bei denen teils beide Geschlechter, teils aber nur die Weibchen den Nachwuchs im Maul behüten, was sich wiederum deutlich in ihrem Immunsystem niederschlägt.

 

Literatur:

GEOMAR (2012): Der Beitrag der Väter. Wie männliche Fische das Immunsystem ihrer Nachkommen aktivieren können. Pressemitteilung.

Roth et al. (2020): Evolution of male pregnancy associated with remodeling of canonical vertebrate immunity in seahorses and pipefishes. Forschungsarbeit, Open Access.

Parker et al. (2021): Immunological tolerance in the evolution of male pregnancy. Forschungsarbeit, Open Access.