Kürzlich tauchte auf der tagesschau-Website eine Meldung auf: „Epstein-Barr-Virus: Impfung bald möglich?“ Berichtet wurde über die Forschung von Professor Wolfgang Hammerschmidt vom Helmholtz Zentrum in München: Dieser habe „gemeinsam mit anderen Forschenden einen Impfstoff gegen das Virus entwickelt, um das Pfeiffersche Drüsenfieber zu verhindern, das wissenschaftlich infektiöse Mononukleose genannt wird. Der Impfstoff, der bereits von einem Pharmaunternehmen produziert wird, soll nächstes Jahr in eine klinische Prüfung gehen, also am Menschen getestet werden.“
Und weiter: „Auch Professor Nicholas Schwab von der Uniklinik in Münster hält eine Impfung gegen das Epstein-Barr-Virus für ausgesprochen wünschenswert. Denn mit seinen jüngsten Forschungen konnte er bestätigen, was andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermutet hatten: Dass EBV eine entscheidende Rolle spielen kann bei der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose, kurz MS.“
Da fiel mir wieder ein, dass ich im Frühjahr kurz überlegt hatte, zu zwei viel diskutierten neuen Forschungsarbeiten über Multiple Sklerose und Epstein-Barr-Viren zu bloggen. Ich hatte mich dann dagegen entschieden, weil mir die zum Teil überzogenen Erwartungen, die Vielzahl der vorgeschlagenen Wirkmechanismen bei der Entstehung von MS und die Überhöhung von Indizien zu Beweisen oder von Korrelationen zu kausalen Zusammenhängen bei diesem Thema seit Jahren auf den Zeiger gehen.
Schon vor 10 Jahren schrieb ich hier im Blog: „Ehrlich gesagt habe ich es aufgegeben, bei Multipler Sklerose den Überblick über die Fachliteratur und die Diskussionen zu ihren Ursachen und Mechanismen zu behalten: Nach meinem Eindruck wird alle paar Wochen eine neue Sau durchs Dorf getrieben, und oft wird mir nicht klar, welche Studienergebnisse nun mit welchen Theorien zusammenpassen und was sich gegenseitig ausschließt.“ Daran hat sich nichts geändert.
Nun schreibe ich doch über das verhasste Thema, denn die Impfungen, die hier in Aussicht gestellt werden, möchte ich ein wenig einordnen. Viele Details lasse ich weg; wer mag, kann sie in den unten verlinkten Artikeln nachlesen.
Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose (kurz MS) gilt den meisten Forscher*innen als Autoimmunerkrankung, bei der autoreaktive, also an körpereigene Strukturen bindende Lymphozyten die Myelinscheiden der Nervenzellen im zentralen Nervensystem (ZNS) angreifen. Sind die Myelinscheiden defekt, sterben auch die normalerweise von ihnen umhüllten Nervenausläufer – und mit ihnen die Nervenzellen. Die Orte, an denen das geschieht, kann man in bildgebenden Verfahren als Flecken oder Plaques erkennen.
In der Gehirn- und Rückenmarks-Flüssigkeit von MS-Kranken findet man autoreaktive B-Zellen und von ihnen produzierte Autoantikörper vom Typ IgG sowie zytotoxische T-Zellen, die ebenfalls das körpereigene Myelin angreifen. Inwieweit die Autoantikörper am Erkrankungsprozess beteiligt sind, ist unklar. Vermutlich richten die autoreaktiven T-Zellen mehr Unheil an. Die Antikörper wären dann eher Biomarker, also leicht nachweisbare Anzeichen dafür, dass im ZNS Myelinscheiden und Neuronen angegriffen werden.
Es gibt aber auch die Forschungsmeinung, dass MS am Anfang eine rein neurodegenerative Erkrankung ist und die Autoimmunreaktionen erst durch die vielen absterbenden und nicht korrekt „entsorgten“ Zellen im ZNS ausgelöst werden. Schädlich sind diese Reaktionen auf jeden Fall, ob sie nun die erste Ursache sind oder erst später hinzukommen.
Man unterscheidet drei klinische Stadien der Erkrankung. In der ersten treten noch keine Symptome auf, etwa Sehstörungen oder Bewegungsprobleme; man erkennt nur mit bildgebenden Verfahren, dass im Gehirn etwas nicht stimmt. Das zweite, sogenannte schubförmig-remittierende Stadium ist durch Zyklen von Symptomschüben und Erholungsphasen gekennzeichnet. Im dritten Stadium schreitet die Krankheit ohne komplette Erholung weiter voran (sekundär progrediente MS). Bei einer Minderheit der Betroffenen gibt es kein Stadium mit Schüben und Erholungsphasen; sie haben eine sogenannte primär progrediente Multiple Sklerose.
An einer MS sind immer genetische Veranlagungen und Umweltfaktoren beteiligt. Bestimmte Genvarianten aus unseren beiden Haupthistokompatibilitätskomplexen, MHC Klasse I und MHC Klasse II, die dem Immunsystem Proteinbruchstücke als Antigene präsentieren, erhöhen oder verringern das Risiko, an MS zu erkranken. Der mit großem Abstand bedeutendste Risikofaktor ist die MHC-Klasse-II-Genvariante HLA-DRB1*15:01; sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, MS zu bekommen, auf das Siebenfache des Durchschnittsrisikos. Insgesamt hat man über 230 Orte in unserem Genom entdeckt, die mit dem MS-Risiko assoziiert sind – jeweils für sich genommen fast alle nur schwach. Die meisten dieser DNA-Sequenzen regulieren Funktionen des Immunsystems.
Dass die genetische Veranlagung längst nicht allein über die Krankheit entscheidet, zeigt sich bei eineiigen Zwillingen: Erkrankt ein Geschwister, so hat das andere eine Chance von 70-80 Prozent, keine Multiple Sklerose zu bekommen – dem identischen Genom zum Trotz: Die sogenannte Konkordanzrate beträgt nur 20-30 Prozent.
Zu den Umweltfaktoren, die eine Erkrankung begünstigen, gehört ein Leben in hohen Breiten, also fern vom Äquator, was mit der Sonnenlichtmenge und damit dem Vitamin-D-Spiegel zusammenhängen könnte. Aber auch Rauchen, Übergewicht in der Kindheit, Geschlecht, Ernährung usw. korrelieren mit dem Erkrankungsrisiko, ebenso wie Immunsuppression durch Stress – und Vireninfektionen. Vor allem das Epstein-Barr-Virus steht seit Jahrzehnten im starken Verdacht, etwas mit MS zu tun zu haben.
Was ist das Epstein-Barr-Virus?
Das Epstein-Barr-Virus, kurz EBV, gehört zur großen Familie der Herpesviren, deren Erbgut aus Doppelstrang-DNA besteht, so wie unseres auch. Die allermeisten Menschen infizieren sich in den ersten Lebensjahren, und zwar unbemerkt. Man bleibt ein Leben lang infiziert, wie bei anderen Herpesviren auch. Denn die Viren befallen spezifisch B-Zellen und verbergen sich in deren Inneren vor dem Rest des Immunsystems – äußerst erfolgreich: Über 95 Prozent aller Erwachsenen haben EBV in einem Teil ihrer B-Zellen.
Die Viren vermehren sich meistens nicht aktiv; sie sind quasi im Tiefschlaf. In dieser sogenannten Latenz sind sie für uns ungefährlich. Steckt man sich als Kleinkind an, merkt man zumeist ein Leben lang nichts von ihnen. Schwierig wird es, wenn die Infektion zum Beispiel aufgrund stark verbesserter hygienischer Bedingungen erst später erfolgt, in Europa oder den USA z. B. bei etwa einem Drittel der Bevölkerung erst zwischen dem 10. und dem 20. Lebensjahr. Dann arrangieren sich Virus und Immunsystem oft nicht so friedlich, und man kann das Pfeiffer-Drüsenfieber bekommen, das auch infektiöse Mononukleose genannt wird und mit Fieber, Lymphknotenschwellungen und Mandelentzündung einhergeht.
Eine späte EBV-Infektion wird auch mit bestimmten Tumoren in Verbindung gebracht – und eben mit Multipler Sklerose. Auch das könnte der Grund für die höhere MS-Prävalenz in höheren Breiten sein: In Äquatornähe infizieren sich die meisten Kinder rechtzeitig, um eine friedliche Koexistenz zwischen den Viren und dem Immunsystem zu erreichen – bei uns eben nicht mehr. Bei Menschen mit weiteren Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder systemischem Lupus erythematodes (SLE) scheinen die Epstein-Barr-Viren ebenfalls öfter aus ihrer Latenz zu erwachen und sich aktiv zu vermehren als bei Gesunden; hier sind die Forschungsergebnisse aber nicht so konsistent wie bei MS: Es kann sein, dass die Autoimmunstörungen aus anderen Gründen ausbrechen und erst das so hervorgerufene Ungleichgewicht des Immunsystems die Viren erwachen lässt.
Epstein-Barr-Viren infizieren nur Menschen, keine anderen Primaten und erst recht keine Nagetiere wie Mäuse und Ratten. Unter anderem deshalb sind die Zusammenhänge zwischen den Viren und MS so schwer zu erforschen: Es gibt zwar ein (krudes) Tiermodell für MS, Experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis oder EAE genannt, aber bei diesen Versuchstieren wird die MS-ähnliche Neurodegeneration nicht durch EBV ausgelöst, sondern durch die Injektion anderer Substanzen erzwungen. Ob man daraus wirklich viel über MS lernt, sei dahingestellt.
Wenn man die Stammbäume der am nächsten mit EBV verwandten Herpesviren und ihrer Wirte vergleicht, findet man ähnliche Baumstrukturen. Das heißt: Die Viren und ihre jeweiligen Wirte haben eine Koevolution durchlaufen. Wenn sich zum Beispiel der Affen-Stammbaum vor etwa x Millionen Jahren in zwei Äste aufgespalten hat, hat sich auch der Stammbaum der Affen-spezifischen Herpesviren aufgespalten. (Mit Ausnahmen: Manchmal sind auch Viren von einer Art auf eine andere übergesprungen.) Der letzte gemeinsame Vorfahr des Epstein-Barr-Virus, eines Gorilla-Virus und zweier Schimpansen-Viren hat vor etwa 12 Millionen Jahren gelebt. Seither wird die Evolution unseres Immunsystems unter anderem durch das fast allgegenwärtige EBV geprägt – und umgekehrt.
Interessanterweise hat sich das Epstein-Barr-Virus seither deutlich langsamer verändert als viele andere Herpesviren. Die Forscherinnen und Forscher vermuten, dass das an der Latenz liegt: Das Virus ist die meiste Zeit im Tiefschlaf, mutiert dann kaum und unterliegt auch keiner natürlichen Auslese, denn diese setzt ja an der mehr oder weniger erfolgreichen Vermehrung von Organismen an. Aber auch wenn seine evolutionäre Uhr langsamer tickt als in vielen anderen Viren: Das EBV ist seit etwa zwölf Millionen Jahren unser ständiger Begleiter. Das ist wichtig für unsere Überlegungen zur Impfung gegen EBV.
Epidemiologie des Zusammenhangs zwischen Epstein-Barr-Viren und MS
EBV steht seit Jahrzehnten im Verdacht, ein Auslöser oder eine Mitursache von MS zu sein: Während etwa 90-95 Prozent der erwachsenen Allgemeinbevölkerung EBV-positiv sind, lassen sich die Viren bei über 99 Prozent der Menschen mit Multipler Sklerose nachweisen. Und wer einmal das Pfeiffer-Drüsenfieber hatte, hat ein um den Faktor 3,2 erhöhtes Risiko, später Multiple Sklerose zu bekommen.
Aber erst eine Publikation in diesem Frühjahr brachte Gewissheit: Bjornevik et al. haben die über viele Jahre zusammengetragenen Blutwerte von über zehn Millionen Angehörigen des US-Militärs ausgewertet, um eine bloße Korrelation zu einem kausalen Zusammenhang weiterzuentwickeln. Den jungen Erwachsenen wurde alle zwei Jahre eine Blutprobe entnommen, um sie auf HIV zu screenen. Im Verlauf von 20 Jahren (1993-2013) erhielten 955 von ihnen die Diagnose MS. Von 801 dieser Menschen lagen mindestens drei Blutproben aus der Zeit vor der Diagnose vor, die nun nachträglich serologisch untersucht werden konnten. Für die weitere statistische Analyse wurden zu jedem dieser Fälle aus demselben Datenbestand zwei Menschen ohne MS ausgesucht, die den Erkrankten in Sachen Alter, Geschlecht, Ethnie, Beruf bzw. Rang innerhalb des Militärs und Zeitpunkte der Blutproben möglichst genau entsprachen.
Bei den frisch an MS Erkrankten war – mit einer einzigen Ausnahme – die letzte Probe vor der Diagnose EBV-positiv: eine Quote von nahezu 100 Prozent. Unter den 35 Menschen mit MS, die bei der ersten Blutprobe noch EBV-frei gewesen waren, hatten sich 34 bis zur letzten Probe vor ihrer Diagnose mit dem Virus angesteckt: ein Anteil von 97 Prozent, verglichen mit 57 Prozent in der anfangs ebenfalls EBV-freien Kontrollgruppe ohne MS.
Das Blut wurde auch nach Antikörpern auf andere weit verbreiteten Viren untersucht, aber diese waren bei den Menschen mit und ohne MS gleich häufig nachweisbar. Das ist ein starker Hinweis auf die Richtung des Zusammenhangs: nicht etwa erst eine Schwächung der Abwehr durch eine einsetzende Multiple Sklerose und dann gehäufte Virusinfektionen, sondern erst gehäufte neue EBV-Infektionen und dann MS. Und es sind auch nicht Virusinfektionen bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen allgemein, sondern ganz spezifisch späte Infektionen mit EBV, die das Risiko für eine MS massiv erhöhen.
Allerdings dauerte es nach der Infektion im Median 7,5 Jahre, bis die Multiplen Sklerose ausbrach. Diese lange und zwischen den Betroffenen auch stark variierende Zeitspanne hat es bislang so schwer gemacht, den kausalen Zusammenhang wirklich festzunageln. Das gelang hier nur dank der enormen Datenbasis und der sehr langen Beobachtungsdauer.
Und der Mechanismus hinter dem Zusammenhang?
Was passiert in dieser langen Zeitspanne? Da gibt es leider viele Möglichkeiten, und einen Mechanismus für plausibel zu erklären oder auch auf biochemischer oder Zell-Ebene nachzuweisen reicht nicht aus. Zum Beispiel dienen MHC-Klasse-II-Komplexe den Epstein-Barr-Viren als Einfallstore bei der Besiedlung der B-Zellen. Es ist aber völlig unklar, ob die Viren an Komplexe, die von der Risikogenvariante MS-Risikogenvariante HLA-DRB1*15:01 abgelesen wurden, wirklich besser binden können als an die unzähligen anderen MHC-Klasse-II-Proteinvarianten.
Der meistdiskutierte Mechanismus ist die sogenannte molekulare Mimikry zwischen einem Schlüsselprotein der Viren und einer molekularen Struktur im Inneren bestimmter Zellen im zentralen Nervensystem, nämlich der Oligodendrozyten und der Astrozyten. Der Fachbegriff molekulare Mimikry ist etwas unglücklich, weil er suggeriert, die Viren würden körpereigene Strukturen nachahmen, um sich vor dem Immunsystem zu tarnen. Das wäre bei MS aber seltsam, denn Oligodendrozyten und der Astrozyten gibt es nur im zentralen Nervensystem, das normalerweise durch die Blut-Hirn-Schranke von den meisten Zellen des Immunsystems abgeschirmt ist. Außerdem sitzt die fragliche molekulare Struktur namens GlialCAM im Inneren dieser ZNS-Zellen, das für das Immunsystem normalerweise unsichtbar bleibt.
Wahrscheinlicher ist es, dass die virale Struktur namens EBNA-1 und der Nervensystem-Zellbestandteil namens GlialCAM zufällig ein paar Ähnlichkeiten haben, sodass bestimmte Antikörper an beide Strukturen binden und damit Immunreaktionen auslösen können. Fast zur selben Zeit wie die eben vorgestellte epidemiologische Analyse von Bjornvik et al. erschien im Frühjahr eine Arbeit von Lanz et al., in der dieser Grundmechanismus näher untersucht wurde.
Dieses Team rekonstruiert die Entwicklung von dem ersten Antikörpern, die nach einer EBV-Infektion auftreten und nur gegen EBNA-1 gerichtet sind, bis zu den kreuzreaktiven Antikörpern, die Jahre später Unheil im Gehirn anrichten (oder zumindest anzeigen), indem sie sehr stark an GlialCAM binden. Das liegt wohl zum einen an der Affinitätsreifung, einer im Lymphsystem ablaufenden Optimierung der B-Zellen und ihrer Antikörper, und zum anderen an der sogenannten posttranslationalen Modifikation des körpereigenen Proteins GlialCAM: Eine bestimmte Aminosäure in der Kette, das Serin an Position 376, wird phosphoryliert.
Solche nachträglichen kleinen Veränderungen körpereigener Proteine, etwa Phosphorylierungen oder Citrullinierungen, scheinen auch an anderen Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis und Lupus beteiligt zu sein. Wenn die Proteine nur in bestimmten Gewebetypen oder Organen modifiziert werden, die womöglich auch noch durch Schranken wie die Blut-Hirn-Schranke vom Lymphsystem abgeschirmt werden, kann es passieren, dass unser Immunsystem gegen sie keine Toleranz ausbildet, weil sie den Lymphozyten während der frühen Kindheit nicht „vorgestellt“ wurden.
Allerdings lassen sich die kreuzreaktiven Antikörper nur bei 20 bis 25 Prozent der MS-Patentinnen und -Patienten nachweisen. In meinen Augen steht der endgültige Beleg noch aus, dass diese fatale Kombination aus Antikörper-Reifung und ZNS-spezifischer GlialCAM-Phosphorylierung von der Epstein-Barr-Virus-Infektion zur Multiplen Sklerose führt. Auch andere Effekte, die wir von weiteren Autoimmunerkrankungen kennen, könnten Expert*innen zufolge an der Entstehung von MS beteiligt sein, etwa Bystander Activation und Epitope Spreading.
Nach wie vor gibt es zwei grundlegende Möglichkeiten, die blöderweise konträre Therapieansätze nach sich ziehen: Entweder das Immunsystem mancher Menschen reagiert auf das Virus und die mit ihm infizierten B-Zellen zu stark, und diese Überreaktion vor allem bestimmter T-Zellen steigert sich mit den Jahren zu einer fatalen Autoimmunreaktion im Gehirn. Dann müsste man diese T-Zellen deaktivieren oder zumindest herunterregeln. Oder das Immunreaktion mancher Menschen reagiert nicht entschieden genug auf die Viren und die infizierten B-Zellen, sodass die durch die Viren fremdbestimmten und fehlgesteuerten B-Zellen schließlich im Gehirn aufschlagen und dort auf körpereigene Substanzen losgehen. Dann müsste man die Immunreaktion stärken.
Impfung für eine sehr kleine Zielgruppe …
Beide Eingriffe in das Immunsystem sind nicht besonders spezifisch und sollten daher tunlichst nur bei Menschen erfolgen, die ein sehr hohes Risiko haben, nach einer EBV-Infektion Multiple Sklerose zu bekommen, oder bei denen die Krankheit bereits ausgebrochen ist. (Tatsächlich ist die derzeit wirksamste Behandlung bei MS die Gabe von sogenannten monoklonalen Anti-CD20-Antikörpern, die B-Zellen ausschalten, die auf ihrer Oberfläche das Protein CD20 tragen – darunter die EBV-infizierten und autoreaktiven, aber halt auch fast alle anderen B-Zellen im Körper.)
Oder man lässt es erst gar nicht so weit kommen, sondern impft rechtzeitig gegen EBV. Um diese Möglichkeit, mit der nicht nur MS, sondern auch Pfeiffer-Drüsenfieber, Krebs und womöglich weitere mit EBV assoziierte Autoimmunerkrankungen vorgebeugt werden soll, drehte sich die eingangs zitierte Tagesschau-Meldung. Mehrere Forschungsgruppen und Pharmaunternehmen haben Impfstoffe in der Entwicklung: zum Teil mRNA, wie wir sie von den Corona-Impfungen kennen, zum Teil Nachbauten verschiedener Bruchstücke der EBV-Hülle.
Sinnvoll sind solche Impfungen nur dann, wenn eine späte Infektion mit EBV wirklich eine notwendige (wenn auch keine hinreichende) Bedingung für Pfeiffer-Drüsenfieber, bestimmte Krebsformen und eben MS ist. Das heißt: Die Risikogenvarianten plus Umweltfaktoren wie etwa Rauchen und ein Mangel an Sonnenlicht reichen nicht aus, um die Kaskade von Autoimmunreaktionen in Gang zu setzen, die zu Multipler Sklerose führt; EBV ist ein „Treiber“, nicht nur einer von mehreren möglichen „Triggern“.
Aber wenn soll man wann impfen? Die allermeisten Menschen infizieren sich früh im Leben mit EBV und haben dadurch keine erkennbaren Nachteile. Von einer Impfung hätten sie nichts. Man müsste also diejenigen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen identifizieren, die EBV-negativ sind. Das kann man – wie die Untersuchung von Bjornevik et al. ja gut gezeigt hat – mit Bluttests verlässlich machen. Nur diese können von der Impfung profitieren, weil sie sich andernfalls wahrscheinlich doch noch infizieren würden und dann wiederum mit einer zumindest nicht vernachlässigbaren Wahrscheinlichkeit eine der mit EBV assoziierten Erkrankungen bekämen – oder mehrere, etwa erst Pfeiffer-Drüsenfieber und später MS oder Krebs.
Wird es gelingen, die Impfung – deren Entwicklung ja sehr viel Geld kostet – auf diese kleine Zielgruppe zu beschränken, die wirklich von ihr profizieren kann? Oder wird „man“ (sprich: werden Pharmaunternehmen, Fachgesellschaften …) Gründe finden, die Gruppe auszuweiten – etwa auf Kinder, die sich ohnehin noch infiziert hätten, oder auf den globalen Süden, in dem es bislang kaum EBV-negative Erwachsene und sehr wenig MS gibt? Das fände ich ausgesprochen riskant. Denn die Epstein-Barr-Viren und wir gehen seit zwölf Millionen Jahren einen gemeinsamen evolutionären Weg, und der Gedanke, dass diese zumeist friedliche Koexistenz mittlerweile in die Austarierung unseres Immunsystems eingepreist ist, dass also die in einem Teil unserer B-Zellen schlummernden Viren neben dem Risiko, das sie bergen, auch positive Funktionen übernommen haben, erscheint mir nicht abwegig. Wir haben das schon bei den Würmern erlebt.
Das heißt nicht, dass ich mir hygienische Verhältnisse zurückwünsche, in denen kleine Kinder neben Würmern und Epstein-Barr-Viren oft auch gefährlichere Pathogene einsammeln. Aber die Medizin ist verdammt schlecht darin, die Kollateralschäden einer verbesserten (gelegentlich auch überzogenen) Hygiene und eines reduzierten Kontakts mit anderen Menschen in ihre Präventions- und Behandlungsstrategien einzupreisen. Eine immer weitere Isolation von der Umwelt, eine andere Ernährung und eine fortschreitende Atomisierung der engen sozialen Verbünde, in denen wir Menschen die meiste Zeit unseres Daseins gelebt haben, verändern unser Mikrobiom und Virom – und haben gesundheitliche Nebenwirkungen. Alles, was uns dennoch besiedelt, durch immer weitere Screenings aufzuspüren und dann wegzuimpfen (oder gar gleich zu impfen, ohne zu screenen), erscheint mir unklug, weil es die Koevolution, die Jahrmillionen andauernden Aushandlungsprozesse zwischen uns und diesen Lebensformen verkennt und unser Immunsystem auf schwer vorhersagbare Weise aus dem Gleichgewicht bringen kann.
… die durch die Pandemie vermutlich größer geworden ist
Eine gewisse Ausweitung der Zielgruppe „Jugendliche ohne EBV“ könnten wir aber schon sehr bald erleben. So umstritten die Hypothese von einer allgemeinen „Immunschuld“ durch die Corona-Maßnahmen ist: Bei einigen Pathogenen dürften viele Kleinkinder, die kurz vor oder zu Beginn der Pandemie geboren wurden, wirklich einen erheblichen Teil des Zeitfensters verpasst haben, in dem sie sich „normalerweise“ asymptomatisch oder mit nur leichten Symptomen infizieren. Und bei EBV ist eine deutlich spätere Infektion nun einmal nachweislich mit Gesundheitsrisiken verbunden. Insofern könnte die Nachfrage nach EBV-Impfungen in den nächsten Jahren steigen.
Literatur:
Ehlers et al. (2010): Lymphocryptovirus phylogeny and the origins of Epstein–Barr virus (Forschungsarbeit, Open Access)
Aloisi/Cross (2022): MINI-review of Epstein-Barr virus involvement in multiple sclerosis etiology and pathogenesis (Review, Bezahlschranke, einige informative Schnipsel frei zugänglich)
Läderach/Münz (2022): Altered Immune Response to the Epstein–Barr Virus as a Prerequisite for Multiple Sclerosis (Review, Open Access)
Bjornevik et al. (2022): Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis (epidemiologische Forschungsarbeit, Open Access)
Lanz et al. (2022): Clonally Expanded B Cells in Multiple Sclerosis Bind EBV EBNA1 and GlialCAM (Forschungsarbeit zum Pathomechanismus, Preprint Open Access)
He, Du, Wang (2022): Epstein-Barr virus infection: the leading cause of multiple sclerosis (Meldung zur Forschungsarbeit Bjornevik, Open Access)
Robinson/Steinman (2022): Epstein-Barr virus and multiple sclerosis (Meldung zu den Forschungsarbeiten Bjornevik und Lanz, Bezahlschranke)