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Ansätze zu zielgerichteten Therapien von Autoimmunerkrankungen

Im Magazin „The Scientist“ hat Lawrence Steinman vor einigen Tagen neue, im Tierversuch vielversprechende Therapieansätze vorgestellt, mit denen das Immunsystem dazu gebracht werden soll, auf bestimmte Autoantigene nicht mehr zu reagieren. Das wäre ein großer Fortschritt gegenüber den heutigen Immunsuppressionstherapien, die Entzündungen und Immunreaktionen unspezifisch dämpfen, was zu einem erhöhten Infektionsrisiko und zahlreichen Nebenwirkungen führt.

Steinman ist nicht nur Pädiater und Neurologe an der Stanford University, sondern auch Gründer eines Unternehmens mit dem treffenden Namen Tolerion, das sich auf die Entwicklung von Plasmiden und anderen biologischen Wirkstoffen spezialisiert hat, die nach ihrer Injektion oder Inhalation eine solche Toleranz des Immunsystems für ein Autoantigen induzieren sollen.

Leider ist bei vielen Autoimmunerkrankungen das maßgebliche Autoantigen noch gar nicht bekannt – oder es gibt mehrere Autoantigene, die gleichzeitig oder nacheinander die Krankheit vorantreiben. So verlief eine klinische Phase-2-Studie an MS-Patienten, in der ein Plasmid Toleranz gegen Myelin-Basische Protein (MBP) induzieren sollte, enttäuschend – vermutlich weil etliche andere Autoantigene ebenfalls zu Multipler Sklerose beitragen.

Bisher nur im Tierversuch erprobt wurde ein Plasmid, das ein Myasthenia-gravis-Autoantigen codiert: den Acetylcholin-Rezeptor (AChR). Antigepräsentierende Zellen, die diese Plasmide aufnehmen, exprimieren AChR anschließend ohne die sonst üblichen Kostimulatoren auf ihrer Oberfläche, sodass die passenden T-Zellen durch diese Präsentation nicht zu einer Autoimmunreaktion ermuntert, sondern tolerant gestimmt werden.

Wohl wegen einiger Fehlschläge bei prinzipiell ähnlichen Therapieansätzen gegen Krebs und wegen der vergleichsweise wenigen Betroffenen hält sich pharmazeutische Industrie bei der Weiterentwicklung und klinischen Erprobung solcher spezifischer Therapien gegen Autoimmunerkrankungen bisher ziemlich zurück. Immerhin: Für Typ-1-Diabetes laufen bereits einige frühe klinische Studien.

Steinmans Team hat ein Plasmid entwickelt, auf dem das Gen für Proinsulin – das normalerweise von den Betazellen der Bauchspeicheldrüse hergestellte Vorprodukt für Insulin – mit einer Sechs-Basen-Sequenz namens GpC kombiniert ist, die Immunreaktionen dämpft. Im Tierversuch wiesen besonders diabetesanfällige Mäuse (sogenannte NOD-Mäuse) nach der Injektion dieses Plasmids einen normaleren Zuckerstoffwechsel, weniger entzündetes Bauchspeicheldrüsengewebe und weniger gegen Proinsulin gerichtete Antikörper auf. Das Wirkprinzip ist dasselbe wie beim Myasthenia-gravis-Therapieansatz: Antigenpräsentierende Zellen wie Makrophagen oder auch Muskelzellen präsentieren den T-Zellen das Proinsulin ohne die sonst üblichen Kostimulatoren wie CD80 der CD86; daraufhin werden die T-Zellen, deren Rezeptoren Proinsulin erkennen, tolerant.

In einer kleinen placebokontrollierten Studie an 80 Typ-1-Diabetikern, die 2012 endete, wurde als primärer Endpunkt die Konzentration von C-Peptid erfasst, einem 31 Aminosäuren langen Fragment von Proinsulin. Seine Konzentration soll anzeigen, wie gut die Bauchspeicheldrüse noch arbeitet. In Patienten, denen das Plasmid injiziert wurde, stieg die Konzentration, während sie in der Kontrollgruppe sank. Vermutlich hatten sich bereits geschädigte, aber noch lebensfähige Betazellen in den Bauchspeicheldrüsen erholt, sodass sie wieder mehr Proinsulin herstellen konnten. T-Zellen, die auf andere Antigene reagieren, wurden durch die Therapie nicht inaktiv; sie war also – wie erhofft – autoantigenspezifisch.

Ein anderer vielversprechender Ansatz ist die Entnahme und Kultivierung von regulatorischen T-Zellen oder Tregs aus den Bauchspeicheldrüsen von Typ-1-Diabetikern: In einer (allerdings sehr kleinen) Studie von Jeffrey Bluestone und seinem Team war die C-Peptid-Konzentration noch zwei Jahre nach der Behandlung besser als in der Kontrollgruppe – wohl weil das Interleukin-10, das die vermehrten Tregs ausschütteten, die Entzündung der Bauchspeicheldrüse dämpfte.

Die Gruppe von Pere Santamaria an der University of Calgary schließlich hat in Tierversuchen Erfolge mit Nanopartikeln erzielt, die mit Peptiden aus Autoantigenen und Bruchstücken des MHC-Komplexes beschichtet sind und im Körper die Rolle von antigenpräsentierenden Zellen einnehmen. Da wiederum die Kostimulatoren fehlen, stimmen sie autoreaktive T-Zellen zu Tregs um. Bei Mäusen funktioniert das mit verschiedenen Autoimmunerkrankungsmodellen, darunter Diabetes. Am Menschen wurde das Verfahren noch nicht erprobt.

Thymus-Veränderungen und Autoimmunerkrankungen

Wenn schon die Struktur des Thymus, die Funktion einiger seiner Bestandteile und die Vor- und Nachteile seiner Rückbildung ab der Kindheit nicht vollständig aufgeklärt sind, wundert es nicht, dass auch das Verhältnis zwischen einer normalen oder abweichenden Entwicklung des Thymus und allen möglichen Autoimmunerkrankungen strittig ist.

Wie so oft sind zum Beispiel Ursache und Wirkung nicht leicht zu unterscheiden: Entwickelt sich der Thymus wegen einer Autoimmunerkrankung merkwürdig? Zieht eine anomale Entwicklung des Organs die Entlassung autoreaktiver T-Zellen in die Peripherie und damit eine Autoimmunstörung nach sich? Schaukeln sich beide Entwicklungen gegenseitig hoch? Oder sind sowohl die Autoimmunerkrankung als auch die Fehlentwicklung des Thymus Folgen von etwas Drittem, etwa einer genetischen Abweichung in den T-Zell-Vorläufern?

Ich versuche gar nicht erst, aus der Literatur ein stimmiges Gesamtbild abzuleiten, sondern stelle die Aussagen verschiedener Autoren einfach nebeneinander.

1. Thymome und Autoimmunerkrankungen

Eric A. Engels (2010): Epidemiology of thymoma and associated malignancies (Volltext)

Bei Thymomen (Tumoren aus Thymus-Epithelzellen) gelangen häufig abnorm konditionierte T-Zellen in den Kreislauf, die wahrscheinlich für die mit Thymomen assoziierten Autoimmunerkrankungen wie Myasthenia gravis (MG) verantwortlich sind. Was Thymome verursacht, ist unbekannt.

C. R. Thomas, C. D. Wright und P. J. Loehrer (1999): Thymoma: state of the art (PDF)

10-15 Prozent der MG-Patienten haben ein Thymom; 30 Prozent der Patienten mit einem Thymom haben MG. Mit Thymomen sind außerdem unter anderem assoziiert (bei weniger als 5-10 Prozent der Patienten): akute Perikarditis, Morbus Addison (Nebennierenrindeninsuffizienz), Agranulozytose, Alopecia areata, Colitis ulcerosa, Morbus Cushing, hämolytische Anämie, limbische Enzephalopathie, Myokarditis, nephrotisches Syndrom, Panhypopituitarismus, perniziöse Anämie, Polymyositis, rheumatoide Arthritis, Sarkoidose, Sklerodermie, sensorimotorsche Radikulopathie, Stiff-Person-Syndrom, systemischer Lupus erythematosus (SLE) und Thyroiditis. Die meisten dieser Krankheiten sind Autoimmunerkrankungen.

2. Thymus-Involution und Autoimmunerkrankungen

M. Meunier et al. (2013): Incomplete thymic involution in systemic sclerosis and rheumatoid arthritis (nur Abstract gelesen)

In der Studie wurde bei Patienten mit systemischer Sklerose (SSc) und rheumatoider Arthritis (RA) nach Thymus-Anomalien gesucht, wie sie für andere Autoimmunerkrankungen bereits nachgewiesen wurden. Alle Studienteilnehmer waren mindestens 40 Jahre alt. Eine unvollständige Thymus-Involution (Thymus-Reste über 7 mm dick) trat signifikant häufiger bei Patienten mit SSc (15 Prozent) und RA (14 Prozent) auf als in der Kontrollgruppe (0 Prozent).

Brandon D. Coder et al. (2015): Thymic Involution Perturbs Negative Selection Leading to Autoreactive T Cells That Induce Chronic Inflammation (nur Abstract gelesen)

Die Thymus-Involution und die aus ihr folgende vermehrte Freisetzung autoreaktiver T-Zellen erhöht den Autoren zufolge das Risiko für Autoimmunerkrankungen im Alter. In der Studie sollte an Foxn1-Knockout-Mäusen untersucht werden, ob das auch für chronische Entzündung (Inflammaging) gilt: ja. Wird das Gen Foxn1 „ausgeknockt“, läuft die Involution beschleunigt ab, während der Rest des Körpers jung bleibt. Die Involution führt dazu, dass T-Zellen kurz nach Verlassen des Thymus aktiviert werden, was mit Anzeichen einer chronischer Entzündung einhergeht: Zell-Infiltration in Nicht-Lymphgewebe, erhöhte TNF-α-Produktion, erhöhter IL-6-Spiegel im Serum. Nicht eine verminderte Treg-Produktion, sondern ein Versagen der negativen Selektion durch einer verringerte Aire-Expression führt zur Entstehung autoreaktiver T-Zell-Klone.  Weiterlesen

Linkshändigkeit, Migräne, Dyslexie und Immunstörungen

Chronologische Sammelbesprechung von fünf Arbeiten aus den letzten 30 Jahren; noch nicht allgemeinverständlich aufbereitet; Anlass der Recherche war mein erster (und hoffentlich letzter), harmloser und kurzer Migräne-Anflug mit Aura vorletzte Woche:

Norman Geschwind, Peter Behan: Left-handedness: Association with immune disease, migraine, and developmental learning disorder. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 79, 1982, 5097-5100

Leonardo da Vinci, ein berühmter Linkshänder (mutmaßliches Selbstporträt)

Eine damals aufsehenerregende Arbeit, in der die aus klinischen Beobachtungen gewonnene Hypothese getestet werden sollte, dass bei Linkshändern und ihren Angehörigen Autoimmunerkrankungen, Migräne und Lernschwierigkeiten wie Dyslexie gehäuft auftreten. In zwei voneinander unabhängigen Studien wurden Immunstörungen und Lernschwierigkeiten bei Linkshändern deutlich häufiger festgestellt als bei Rechtshändern. In einer dritten Studie wurde der Linkshänderanteil bei Menschen mit Migräne bzw. der Autoimmunerkrankung Myasthenia gravis mit dem Linkshänderanteil in einer Kontrollgruppe aus der Allgemeinbevölkerung verglichen; er war höher.   Weiterlesen