Florence R. Sabin und die Herkunft der Lymphgefäße

Heute blogge ich mal billig, indem ich mich selbst plagiiere: indem ich einen Abschnitt zitiere, den ich eben in den Wikipedia-Artikel über die Anatomin Florence Rena Sabin eingefügt habe. Bis gerade eben hätte man meinen können, das einzig Besondere an Sabin sei die Tatsache, dass sie als erste Frau der American Association of Anatomists vorstand und als erste Frau ein weltweit führendes Rockefeller-Institut leiten durfte. Nun, diese Vorreiterrolle kam nicht von ungefähr; Sabin hat herausragende Forschung betrieben.

Zwei ihrer Arbeiten, 1902 und 1904 erschienen, werden in aktuellen Reviews zur Entstehung der Lymphgefäße zitiert, die ich für das Buch ausgewertet habe. Was hier natürlich fehlt, sind die Wikilinks zu Fachbegriffen wie Endothel. Wohlan:

Herkunft der Lymphgefäße aus den Blutgefäßen

Zu den wissenschaftlichen Leistungen Sabins gehören ihre sorgfältigen Färbeversuche an Tierembryonen, mit denen sie die damals bereits seit gut 200 Jahren diskutierte Frage klären wollte, woher die Lymphgefäße der Wirbeltiere stammen. Zwei Hypothesen standen sich gegenüber: Viele Anatomen glaubten wie der Mediziner G. Lovell Gulland, die Flüssigkeit, die sich im Bindegewebe ansammle, übe einen Druck auf die benachbarten Zellen aus und schaffe sich so Hohlräume, die sich miteinander verbänden und schließlich mit den Blutgefäßen in Verbindung träten. Auch die Anatomen George S. Huntington und Charles F. W. McClure vertraten ein solches Zentripetalmodell (Ausdehnung des embryonalen Lymphsystems von der Peripherie in Richtung Zentrum). Sie untersuchten histologische Schnittserien von Katzenembryonen und meinten zu erkennen, dass die ersten Endothelzellen der Lymphgefäße aus isolierten Vorläuferzellen im Mesenchym entstehen. Diese lymphatischen Endothelzellen würden sich zunächst zu einem Netzwerk und erst anschließend mit dem Blutgefäßsystem verbinden, um die Lymphe aus dem Gewebe ins Blut abzuführen.

Florence Sabin war überzeugt, dass Schnittserien keinen sicheren Aufschluss über die Ausbreitung des entstehenden Lymphsystems und über Verbindungen zwischen Lymphgefäßen und Blutgefäßen geben können, und setzte stattdessen auf die Injektion von Tusche in die ersten lymphgefäßartigen Strukturen in Schweineembryonen unterschiedlichen Alters. Dabei sah sie, dass sich an den Kardinalvenen knospenartige Lymphsäcke bilden, die sich dann durch Sprossung verlängern und miteinander verbinden, sodass ein Netzwerk entsteht. Dieses Lymphgefäßnetz breitet sich vom Zentrum (den Kardinalvenen) in die Peripherie aus (Zentrifugalmodell).

Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts standen molekulare, genetische und bildgebende Verfahren zur Verfügung, mit denen man das Schicksal von Zellen im Lauf der Entwicklung wirklich verfolgen kann (sogenanntes Fate mapping oder Lineage tracing). Dabei zeigte sich, dass ein Großteil der Lymphgefäße höherer Wirbeltiere tatsächlich aus Vorläufern im Endothel der Kardinalvenen und der von ihnen abzweigenden Blutgefäße des Embryos abstammt, wie von Sabin postuliert. Ein kleiner Teil scheint jedoch zumindest in einigen Organen und Gewebetypen nichtvenösen Ursprungs zu sein.

Literatur: 

Florence Rena Sabin: The origin and development of the lymphatic system. Johns Hopkins Press, Baltimore 1913

Jan Kazenwadel, Natasha L. Harvey: Morphogenesis of the lymphatic vasculature: A focus on new progenitors and cellular mechanisms important for constructing lymphatic vessels. In: Developmental Dynamics. Band 245, Nr. 3, 1. März 2016, ISSN 1097-0177, S. 209–219, doi:10.1002/dvdy.24313

Jonathan Semo, Julian Nicenboim, Karina Yaniv: Development of the lymphatic system: new questions and paradigms. In: Development. Band 143, Nr. 6, 15. März 2016, ISSN 0950-1991, S. 924–935, doi:10.1242/dev.132431

The Florence R. Sabin Papers

Zwillingsstudie: Chronischer Schlafmangel schwächt die Abwehr

Eine kleine Ergänzung zum Beitrag über die überraschend großen Unterschiede im Immunsystem eineiiger Zwillinge: Einer kürzlich veröffentlichten Studie zufolge sind bei Personen, die regelmäßig im Durchschnitt eine Stunde kürzer schlafen als ihre eineiigen Zwillingsgeschwister, etliche Gene des Immunsystems herunterreguliert, etwa jene für die Interleukine (Botenstoffe des Immunsystems) oder für die Aktivierung von Immunzellen. Dieser Befund unterscheidet sich deutlich von anderen Studien, in denen die Schlafdauer im Labor für kurze Zeit künstlich verringert wurde: Bei Probanden, die nicht aus freien Stücken und nicht dauerhaft besonders wenig schlafen, waren dieselben Immunsystem-Parameter erhöht.

Der Vorteil der neuen Studie ist das deutlich weniger künstliche Setting – aber um einen hohen Preis: Da es in der zugrunde liegenden Datenbank sehr wenig eineiige Zwillingspaare gab, bei denen sich die Schlafdauer deutlich unterschied und die auch sonst alle Einschlusskriterien (Nichtraucher, gesund usw.) erfüllten, konnten nur Daten von 11 Paaren, also 22 Personen ausgewertet werden. Ein weiterer Schwachpunkt: Die Immunsystem-Parameter wurden nur einmal täglich anhand einer Blutprobe analysiert. Dabei schwanken diese Parameter im Tagesverlauf deutlich. Für einen soliden Vergleich zwischen chronischem und akutem Kurzschlaf wären also erheblich aufwändigere Analysen nötig.

N. F. Watson et al. (2017): Transcriptional Signatures of Sleep Duration Discordance in
Monozygotic Twins

Checks and balances: Das Alarmsignal HMGB1

Im vorigen Beitrag ging es um Polly Matzingers danger theory, der zufolge ein Gewebe, das eine Infektion oder einen physikalisch oder chemisch bedingten Schaden erleidet, Gefahren- oder Schadsignale aussendet, die das Immunsystem aktivieren. Solche DAMPs (danger- oder damage-associated molecular patterns) können durch Traumata wie Quetschungen, Verschleiß, Verbrennungen oder Infarkte aus dem Inneren von Zellen austreten, in denen sie sich normalerweise verbergen, und lösen dann im Immunsystem eine sogenannte sterile Entzündung aus. Diese dient der Beseitigung verletzter und toter Zellen und der anschließenden Gewebsreparatur.

Sterile Entzündungen haben vieles mit Entzündungen gemeinsam, die durch Infektionen ausgelöst werden; beispielsweise erkennen dieselben Rezeptoren auf antigenpräsentierenden Zellen (dendritischen Zellen und Makrophagen) sowohl DAMPs als auch PAMPs, also pathogen-associated molecular patterns. Eine sterile Entzündung belastet aber das Gewebe weniger und läuft oftmals ohne volle Einschaltung der erworbenen Abwehr ab: Der Einsatz von antigenspezifischen T- und B-Zellen ist ja nicht nötig, wenn die Schadensursache kein Pathogen ist, das diese Zellen passgenau erkennen, bekämpfen und erinnern müssten.

DAMPs und Autoimmunerkrankungen

Sterile Entzündungen und DAMPs interessieren uns hier, weil sie mit Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht wurden: Nur bei sehr wenigen dieser Erkrankungen ist eine Infektion als Auslöser nachgewiesen; bei anderen wie Rheuma ist die Beteiligung von Pathogenen umstritten. Bei vielen scheint das Immunsystem aber ganz ohne Mitwirkung eines Keims aus dem Ruder zu laufen und sich gegen körpereigene Strukturen zu richten – und zwar dauerhaft, sofern die angeborene Abwehr doch die erworbene Abwehr zu Hilfe ruft.

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Die Auslösung steriler Entzündungen ist nur eine der vielen Funktionen von HMGB1.

Ein wichtiges Alarmsignal mit dem sperrigen Namen HMGB1 spielt offenbar bei der Pathogenese von Lupus (SLE), rheumatoider Arthritis, Sjögren-Syndrom, Vaskulitiden wie Morbus Behçet, Sklerodermie, Typ-1-Diabetes und weiteren Krankheiten eine unglückliche Rolle: Im erkrankten Gewebe oder im Blut der Betroffenen ist seine Konzentration gegenüber Gesunden stark erhöht, und in Tierversuchen lassen sich einige Autoimmunreaktionen durch die Ausschaltung von HMGB1 bremsen.

Gerade wegen seiner Schlüsselrolle beim Anstoßen von Entzündungsreaktionen reguliert unser Körper die örtliche Konzentration und das Aktivitätslevel dieses Moleküls normalerweise strikt, und zwar auf mehreren Wegen. Um diese raffinierte Selbstkontrolle – die checks and balances, die bei Autoimmunerkrankungen offenbar versagen – soll es im Folgenden gehen. Um sie zu verstehen, müssen wir uns zunächst das Molekül genauer ansehen.

Steckbrief

Das 1973 aus Kalbsbries (Thymus) isolierte Protein heißt ausgeschrieben „High mobility group box 1“, weil es sich auf einem Elektrophorese-Gel schnell bewegt. Da diese Eigenschaft weiter nichts zur Sache tut, bleiben wir im Folgenden bei der Abkürzung. Das 215 Aminosäuren lange Protein ist evolutionär stark konserviert; 99 Prozent der Aminosäuren stimmen zwischen Maus und Mensch überein. Normalerweise hält es sich im Zellkern auf. 1999 entdeckte man, dass es nicht nur im Zellinneren vorkommt, sondern insbesondere von Makrophagen auch ausgeschieden wird – und zwar relativ spät in einem Entzündungsprozess, nämlich frühestens acht Stunden nach Aktivierung der Immunzellen. So lange brauchen die Zellen, um das Molekül so zu modifizieren, dass es ausgeschleust werden kann.

Für diese Ortsverlagerung und den damit einhergehenden Funktionswechsel sind zwei in der folgenden Abbildung mit „Kerntransport“ bezeichnete Abschnitte zuständig, in denen die Aminosäure Lysin angereichert ist. Diese Lysine werden bei Bedarf acetyliert oder phosphoryliert; ihnen werden also Acetyl- oder Phosphatgruppen angehängt. Dank dieses Signals werden sie aus dem Zellkern, in dem sie sonst an die DNA gebunden sind, ins Zytoplasma und ggf. ganz aus der Zelle transportiert.

Das Molekül gliedert sich in drei große Funktionseinheiten: zwei sogenannte HMG-Boxen (A und B), mit denen es sich relativ locker und nicht sequenzspezifisch an DNA anlagert, sowie einen sogenannten C-Schwanz, der bei der Krümmung von DNA zum Einsatz kommt, also etwa bei der Reparatur der Doppelhelix oder beim Ablesen (der Transkription) von Genen. Box B enthält eine Bindungsstelle für den wichtigen Zelloberflächen-Rezeptor TLR4 und an ihrem Ende eine Bindungsstelle für den ebenfalls an Zelloberflächen angesiedelten Rezeptor RAGE. Von beiden wird noch die Rede sein. Weitere Bindungsstellen sind bekannt, hier aber nicht eingezeichnet.

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Wichtig sind noch drei Positionen, die mit der Aminosäure Cystein besetzt sind. Deren Seitenketten oder „Reste“ sind – zumindest solange sich das Molekül im Zellkern aufhält – sogenannten Thiolgruppen (-SH), die aus einem Schwefel- und einem Wasserstoffatom bestehen. Ich komme weiter unten auf sie zurück, denn ihre chemische Veränderung bestimmt die Aktivität des Moleküls nach seiner Ausschleusung aus der Zelle.

Je nach Aufenthaltsort unterschiedliche Aufgaben

HMGB1 ist weit mehr als ein DAMP, ein Alarmsignal für antigenpräsentierende Zellen: Außerhalb des Immunsystems übt es zum Beispiel lebenswichtige Funktionen im Nervensystem und im Stoffwechsel aus.

Normalerweise hält es sich im Zellkern auf, wo es als DNA-Chaperon, also als Faltungs- oder Krümmungshelfer für die Doppelhelix dient: Es stabilisiert die dreidimensionale Struktur der Nukleosomen, und es fördert die Transkription der Gene, die somatische Rekombination in B- und T-Zellen, die Reparatur von DNA-Schäden und den Erhalt der Telomere – der Schutzkappen an den Enden der Chromosomen. Kurz: Ohne HMGB1 keine intakten Chromosomen.

Wird es aus dem Zellkern ins Zytoplasma transportiert, was bei Zellstress und vor allem bei einer bakteriellen Infektion der Zelle passiert, fördert es die sogenannte Autophagie, eine partielle Selbstverdauung der Zelle, die den Bakterien die Lebensgrundlage entzieht. Zugleich hemmt es die Apoptose, also den kontrollierten Zelltod.

In die extrazelluläre Flüssigkeit gelangt es entweder durch passive Freisetzung aus allen möglichen beschädigten, sterbenden oder toten Zellen – dann ist es ein Alarmsignal, ein DAMP – oder durch aktive Ausschüttung aus Immunzellen, vor allem aus antigenpräsentierenden Zellen, also Makrophagen und dendritischen Zellen – dann kann man es als Zytokin auffassen, also als Immunsystem-internen Botenstoff.

Es kann als Chemokin dienen, also als Lockstoff für Immunzellen. Es kann andere Immunzellen aktivieren oder deaktivieren, zur Vermehrung bringen und zur Produktion und Ausschüttung von Boten- oder Wirkstoffen anhalten. Es kann alleine agieren, sich aber auch mit anderen Immunzell-Aktivatoren zusammenlagern und dann synergistisch wirken. Es kann als Adjuvans dienen, also Immunreaktionen unspezifisch verstärken. Auch an der Wundheilung im Anschluss an eine Immunreaktion wirkt es mit. Manche Forscher sehen in ihm den zentralen Koordinator oder Choreografen steriler und infektionsbedingter Entzündungen.

Polygamie

Extrazelluläres HMGB1 bindet an mindestens elf verschiedene Transmembran-Rezeptoren, von denen wir hier nur wenige besprechen, nämlich TLR4, RAGE und CD24/Siglec-10. Einige Rezeptoren auf Zellen der angeborenen Abwehr lösen, wenn HMGB1 an ihre Außenseite bindet, innerzelluläre Signalketten wie den NFκ-B-Weg aus, die zur Produktion von entzündungsfördernden Zytokinen führen. Andere Rezeptoren senden dagegen nach HMGB1-Bindung produktionshemmende Signale ins Zellinnere. Darauf komme ich im Abschnitt „Hase und Schildkröte“ zurück.

Es lagert sich auch gerne mit anderen extrazellulären Molekülen zusammen, etwa mit DNA (natürlich!), aber auch mit dem Zytokin Interleukin-1, mit dem Chemokin CXCL12 oder bakteriellen Substanzen wie LPS. Bindet es dann gemeinsam mit ihnen an einen Rezeptor auf einer Immunzelle, so fällt die Wirkung oft stärker oder anders aus als bei einer Bindung des einen oder anderen Partners allein.

So lagert es sich bei einer Bakterieninfektion mit dem bakteriellen Molekül LPS zusammen. Durch das gemeinsame Andocken an einen Rezeptor einer antigenpräsentierenden Zelle wird ein Transportmechanismus ausgelöst, durch den das LPS ins Innere der Zelle gelangt, wo es zu präsentationsfähigen Antigen-Peptiden weiterverarbeitet wird, die dann spezifisch passende T-Zellen aktivieren, sodass die erworbene Abwehr ins Spiel kommt.

Der Rezeptor RAGE ist ebenso polygam wie sein Bindungspartner HMGB1: Zum einen bindet er auch eine Reihe weiterer Moleküle, zum anderen hängt seine Wirkung vom Zusammenspiel mit weiteren Rezeptoren auf denselben Zellen ab. Ein Regulierungsnetzwerk aus HMGB1, seinen extrazellulären Bindungspartnern und seinen Rezeptoren wird rasch unüberschaubar komplex. Konzentrieren wir uns auf drei exemplarische HMGB1-Regulierungsmechanismen: die Freisetzung, den extrazellulären Oxidations-Countdown und das innerzelluläre Wettrennen von Hase und Schildkröte.

Der schlechte und der gute Tod: Nekrose und Apoptose

Um die Logik des ersten Regulierungsmechanismus zu verstehen, benötigen wir Basiswissen über den traumatischen und den programmierten Zelltod, Nekrose und Apoptose genannt. Tatsächlich können Zellen noch auf andere Weisen sterben, etwa durch Pyroptose, ein für innerzelluläre Infektionen typisches Todesprogramm, oder durch NETose, eine Art Selbstmordattentat von Neutrophilen und anderen Granulozyten. Hier beschränke ich mich auf die beiden klassischen Formen des Ablebens. Bei der Nekrose, die unvorhergesehen kommt, schlägt die Zelle leck:

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Dabei treten Moleküle wie DNA und allerlei Proteine aus, die normalerweise außerhalb von Zellen nichts zu suchen haben und daher prädestiniert sind, das Immunsystem als DAMP über den Gewebeschaden zu informieren. (Leider können auch T-Zellen und Antikörper auf diese Substanzen überreagieren, wenn sie sie fälschlich als körperfremd auffassen. Das war hier im Blog schon öfter Thema.)

Bei der Apoptose leitet eine Zelle selbst ihren kontrollierten Rückbau und ihre Entsorgung ein, etwa weil sie merkt, dass sie von Viren oder Bakterien befallen, alt oder auf andere Weise geschädigt ist. Sie ruft dazu eine T-Zelle zur Hilfe, die das Rückbauprogramm startet, und ihre Überreste werden von Makrophagen vertilgt:

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Bei der Apoptose sollten keine Zellinnereien auslaufen. In der Spätphase kann es aber zu einer sogenannten sekundären Nekrose kommen, bei der das in kleinem Umfang doch passiert. Außerdem scheiden apoptotische Zellen aktiv Substanzen aus, etwa um das Immunsystem über die Ursache ihres Ablebens zu informieren oder um Makrophagen – ihre Totengräber – anzulocken.

Freisetzung von HMGB1: passiv, schnell und reduziert – oder aktiv, verzögert und oxidiert

Bei einer Nekrose tritt HMGB1 passiv aus einer sterbenden Zelle aus, sobald diese undicht wird. Viele nekrotische Zellen haben keine Zeit, das Molekül vorher zu modifizieren. Dann gelangt das HMGB1 in genau der Form in die Gewebsflüssigkeit, in der es im Zellinneren vorlag.

Stirbt eine Zelle dagegen durch Apoptose oder Pyroptose, kann sie das HMGB1 in Ruhe umbauen, um es auf seine künftige Aufgabe vorzubereiten. Zu diesen sogenannten posttranslationalen Modifikationen des Proteins zählen etwa die oben erwähnte Acetylierung oder Phosphorylierung, die für einen geregelten Transport aus dem Zellkern ins Zytoplasma und aus dem Zytoplasma in den extrazellulären Raum sorgen.

Jetzt kommen die drei Thiol-Reste der Cysteine im HMGB1-Molekül ins Spiel, die ich oben im Steckbrief erwähnt habe. Sollte das Schulwissen über Redox-Zustände verschüttet sein, hier eine kurze Auffrischung: Oxidation wurde klassisch als Hinzufügen von Sauerstoff (O wie Oxygenium) oder als Entzug von Wasserstoff (H wie Hydrogenium), also als Dehydrierung aufgefasst. Der umgekehrte Vorgang, also die Hinzufügung von Wasserstoff oder der Entzug von Sauerstoff, wird Reduktion genannt.

Sinnvoller ist es eigentlich, diese sogenannten Redox-Reaktionen als Abgabe oder Aufnahme von Elektronen zu definieren, aber wir bleiben hier beim volkstümlichen Verständnis: Ein frisch aufgeschnittener Apfel hat helles Fruchtfleisch. An der Luft, also bei der Reaktion mit Sauerstoff, oxidiert er. Die Schnittfläche läuft an und wird schließlich richtig braun:

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Antioxidantien wie Vitamin C können diesen Prozess aufhalten; sie sind Reduktionsmittel.

Im Normalfall ist das chemische Milieu in einer Zelle reduzierend; es gibt kaum freien Sauerstoff, der HMGB1 oxidieren könnte. Daher liegen im Zellkern alle drei Cystein-Reste als Thiol (-SH) vor. Bei der abrupten Freisetzung aus einer nekrotischen Zelle bleibt das Molekül zunächst in dieser vollständig reduzierten Form.

Gerät das Molekül jedoch in ein oxidierendes Milieu, so verändert es sich schrittweise: Zunächst bildet sich zwischen den beiden benachbarten Resten in Box A eine Disulfidbrücke (-S-S-) aus; die Reste geben also Wasserstoff ab; der dritte Rest liegt weiter als Thiol (-SH) vor. Wird das Molekül weiterhin mit reaktionsfreudigem Sauerstoff konfrontiert, reagieren schließlich alle drei Reste mit ihm und bilden Sulfonsäure (-SO3H).

Diese schrittweise Oxidation kann sogar innerhalb der Zelle ablaufen, wenn sich das chemische Milieu ändert: Manchmal kann das HMGB1 aus nekrotischen Zellen eine Disulfidbrücke ausbilden, bevor es freigesetzt wird. Auch Makrophagen oder dendritischen Zellen, die mit Bakterien infiziert sind und einen programmierten Zelltod namens Pyroptose durchlaufen, enthalten reaktionsfreudigen Sauerstoff und setzen HMGB1 mit einer Disulfidbrücke frei. Bei einer Apoptose wird HMGB1 vor seiner aktiven Ausscheidung oft sogar vollständig oxidiert, denn die Mitochondrien in den sterbenden Zellen setzen bei ihrem Rückbau reaktiven Sauerstoff frei.

Die drei freigesetzten Formen von HMGB1 wirken sich auf das Immunsystem grundverschieden aus, wie ich im nächsten Abschnitt zeige.

Countdown durch Oxidation

Vollständig reduziertes HMGB1 (das mit den drei Thiol-Resten), wie es etwa bei einer Nekrose freigesetzt wird, wirkt als Lockstoff, und zwar in Verbindung mit einem anderen Molekül: Es bindet an das Chemokin CXCL12, das aus aktivierten Immunzellen abgeschieden wird. Das Doppelpack (ein sogenanntes Heterodimer) aus HMGB1 und CXCL12 bindet sehr gut an den Chemotaxis-Rezeptor CXCR4 und führt dazu, dass Immunzellen mit diesem Rezeptor angelockt werden und sich vor Ort vermehren. Findet das reduzierte HMGB1 nicht genug CXCL12-Moleküle vor, kann es durch Bindung an den Rezeptor RAGE sogar die CXCL12-Produktion ankurbeln. Diese Rekrutierung von Immunzellen ist nach einer Nekrose besonders sinnvoll, denn diese Form des Zelltods läuft – wie oben zu sehen war – ungeplant und ohne Beteiligung von Immunzellen ab. Und die Überreste der zugrunde gegangenen Zellen müssen ja beseitigt, die Ursachen bekämpft, die Gewebeschäden repariert werden.

Teilweise oxidiertes HMGB1, das vorne eine Disulfidbrücke und hinten eine Thiolgruppe aufweist, kann dagegen an den Immunzell-Rezeptor TLR4 binden und so die Produktion und Freisetzung von Zytokinen anstoßen, also eine Entzündungsreaktion anheizen. Das ist besonders sinnvoll, wenn bereits Immunzellen vor Ort sind, von denen einige gerade an einer Pyroptose zugrunde gehen: Hier müssen keine weiteren Immunzellen rekrutiert, sondern die anwesenden zur eifrigen Mitarbeit an der Entzündung angeregt werden.

Vollständig oxidiertes HMGB1 hingegen, bei dem alle drei Cystein-Reste als Sulfonsäure vorliegen, kann Immunzellen weder anlocken und zur Vermehrung anregen noch zur Zytokinproduktion bewegen. Es bindet weder an CXCL12 und CXCR4 noch an TLR4: Es trägt überhaupt nichts zu einer Entzündungsreaktion bei, sondern stimmt anwesende Immunzellen tolerant, sozusagen als Anti-DAMP. Diese Wirkung ist besonders sinnvoll, wenn eine Zelle eine geregelte Apoptose durchlaufen hat, denn hier ist keine weitere Immunreaktion nötig: Es reicht, wenn die bereits anwesenden Fresszellen den Rest der gestorbenen Zelle beseitigen.

Zumeist wird HMGB1 also genau in der Form freigesetzt, in der es die jeweils erforderlichen Reaktionen in Gang setzen kann. Analog zum oxidierenden Apfel von oben sind hier die drei Formen des Moleküls dargestellt, ergänzt um die beiden Oxidationsreaktionen durch reaktiven Sauerstoff (ROS) und um die jeweilige Hauptwirkung des Moleküls auf das Immunsystem, hier durch eine T-Zelle vertreten: Anlockung, Aktivierung und Toleranz:

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Wie verhindert unser Körper aber, dass das vollständig reduzierte HMGB1, das aus nekrotischen Zellen austritt, immer mehr und mehr Immunzellen rekrutiert und alarmiert, sodass die Entzündung chronisch wird und das umliegende Gewebe Schaden nimmt? Nun: Das extrazelluläre chemische Milieu ist im Vergleich zum gesunden Zellinneren oxidativ. Mit der Freisetzung von vollständig reduziertem HMGB1 beginnt daher ein Countdown. Die extrazelluläre Flüssigkeit oxidiert die Moleküle zunächst teilweise, dann vollständig – bis sie nicht mehr als Alarmsignale wirken.

Hase und Schildkröte

Wir kommen zum dritten Kontrollmechanismus, nämlich der Beschränkung der Zytokinproduktion in Makrophagen und anderen Immunzellen, die HMGB1 in seiner teilweise oxidierten Form aktiviert. Es bindet nicht nur an aktivierende Rezeptoren wie TLR4, sondern auch an inhibierende Rezeptoren wie CD24 und Siglec-10. TLR4 löst daraufhin eine schnelle Signalkette aus, CD24/Siglec-10 eine langsamere:

HMGB1_an_beiden_Rezeptoren_1_650

Beide Signale streben den Chromosomen im Zellkern zu, um dort die Ablesung der Zytokin-Gene zu beeinflussen:

Wettrennen_Hase_Schildkröte_2_650

Das vom TLR4 ausgesandte Signal erreicht sein Ziel zuerst und stößt eine starke Produktion entzündungsfördernder Zytokine an:

Hase_da_Zytokinproduktion_an_3_500

Etwas später trifft das Stoppsignal ein und beendet die Ablesung der Zytokin-Gene. Die Zelle lässt die Produktion auslaufen:

Schildkröte_da_Zytokinproduktion_wieder_aus_4_650

Bei Autoimmunerkrankungen versagen die checks and balances

So raffiniert diese Kontrollmechanismen sind: Bei Autoimmunerkrankungen versagen sie. Welchen Anteil hat HMGB1 an diesen Störungen? Es ist sicher nicht die Hauptursache, aber es kann in Individuen mit entsprechender Veranlagung eine Überaktivierung des Immunsystems fördern. Wichtiger als seine direkte Wirkung auf die Zellen der erworbenen Abwehr, also auf die Vermehrung und Aktivierung von T- und B-Zellen, ist vermutlich die indirekte, nämlich über die antigenpräsentierenden Zellen vermittelte Wirkung.

Sein Beitrag zum Teufelskreis sei am Beispiel Typ-1-Diabetes skizziert: Wenn Betazellen im Pankreas sterben, kann zunächst passiv ein wenig HMGB1 freigesetzt werden. Bei einer unzureichenden Entsorgung der Zellreste reifen durch dieses Alarmsignal oder DAMP zahlreiche dendritische Zellen und Makrophagen heran und werden aktiv: Zum einen können sie selbst noch mehr HMGB1 freisetzen und so die Entzündungsreaktion verstärken. Zu anderen aktivieren sie nun ihrerseits Lymphozyten, indem sie ihnen Antigene präsentieren – unter anderem jene Autoantigene, die zusammen mit dem HMGB1 aus den sterbenden Betazellen ausgetreten sind. In genetisch prädestinierten Individuen greifen diese autoreaktiven Lymphozyten daraufhin Betazellen an, was diese zum Absterben bringt, und so weiter und so fort.

Dieses Modell hat sich im Tierversuch bewährt: Die Pankreas-Lymphknoten von Mäusen mit Diabetes-Neigung, in denen HMGB1 experimentell neutralisiert wurde, enthielten weniger dendritische Zellen des an der Diabetes-Entstehung beteiligten Subtyps und dafür mehr regulatorische T-Zellen (Tregs). In der Milz der Tiere fanden sich zudem sogenannte tolerogene dendritische Zellen, die – wie die Tregs – besänftigend auf Lymphozyten einwirken und so den Teufelskreis durchbrechen können. Es gab zwar noch autoreaktive T-Zellen in den Pankreas-Lymphknoten, aber diese wurden mangels HMGB1 kaum noch in die Langerhans-Inseln gelockt und richteten daher unter den Betazellen wenig Schaden an.

Auch in Versuchstieren mit Lupus-Neigung beteiligt sich HMGB1 an der Pathogenese. Bei ihnen kommen vermutlich zwei Faktoren hinzu: Erstens richtet sich die Autoimmunreaktion bei Lupus primär gegen Zellkern-Bestandteile wie DNA oder Histone – und an diese bindet HMGB1 bekanntlich besonders gut. Es transportiert diese Autoantigene über den Rezeptor RAGE sehr effizient in die antigenpräsentierenden Zellen hinein, was die Autoantigenpräsentation und damit die Aktivierung autoreaktiver Lymphozyten verstärkt. Außerdem tragen auch die Endothelzellen unserer Blutgefäße den Rezeptor RAGE. Bindet dieser HMGB1, so können sich die Blutgefäße entzünden, und es kommt zu einer Lupus-Vaskulitis.

Bei rheumatoider Arthritis scheint zunächst ein Sauerstoffmangel (Hypoxie) Zellen in den Gelenken unter Stress zu setzen. Im Zuge ihrer Stressreaktion setzen sie HMGB1 in die Gelenkflüssigkeit frei, woraufhin sich die Gelenke entzünden können. Das Molekül fördert auch die Neubildung von Blutgefäßen und von Zellen, die Knochengewebe abbauen: sogenannten Osteoklasten. So kann sich die Gelenkschädigung verschlimmern.

Leider ist die Ausschaltung von HMGB1 kein Allheilmittel für Autoimmunerkrankungen. Zum einen hat das Molekül in unserem Körper zahlreiche weitere, lebenswichtige Funktionen. Zum anderen gibt es Hinweise, dass es bei chronischen Entzündungen nicht nur verheerend, sondern auch heilsam wirken kann. So scheint es bei einer Myositis – einer Entzündung von Muskelgewebe – anfangs die Entzündung zu fördern, später aber zum Schutz und zur Regeneration des Muskels beizutragen. Man müsste also eine HMGB1-Blockade entwickeln, die örtlich und zeitlich sehr begrenzt wirkt. Eingriffe in die komplexen und noch nicht vollständig verstandenen checks und balances des Immunsystems bleiben ausgesprochen heikel.

Literatur:

A. Broggi, F. Granucci (2015): Microbe- and danger-induced inflammation

H. E. Harris et al. (2012): HMGB1: A multifunctional alarmin driving autoimmune and inflammatory diseases

R. Kang et al. (2013): HMGB1 in Cancer: Good, Bad, or Both?

S.-A. Lee et al. (2014): The Role of High Mobility Group Box 1 in Innate Immunity

G. Li et al. (2013): HMGB1: the central cytokine for all lymphoid cells

M. Magna, D. S. Pisetsky (2014): The Role of HMGB1 in the Pathogenesis of Inflammatory and Autoimmune Diseases

C. Pilzweger, S. Holdenrieder (2015): Circulating HMGB1 and RAGE as Clinical Biomarkers in Malignant and Autoimmune Diseases

H. Yang et al. (2015): High Mobility Group Box Protein 1 (HMGB1): The Prototypical Endogenous Danger Molecule

J. Zhong (2012/2013): HMGB1 as an Innate Alarmin Promotes Autoimmune Progress: An Essential Role in the Pathogenesis of Type 1 Diabetes

Das Immunsystem nach Matzinger: alarmbereite Feuerwehr statt xenophober Cops

Charles A. Janeway (1943-2003)

Charles A. Janeway (1943-2003)

Wer aus dem Stegreif das Immunsystem definieren soll und dabei auf sein Schulwissen oder seither Angelesenes baut, wird wahrscheinlich ungefähr sagen, dass dieses System das Selbst vor Angriffen von außen schützt, indem es auf Fremdes im Körper reagiert und dieses nach Möglichkeit zerstört, isoliert oder ausscheidet – zum Beispiel Krankheitserreger oder Allergene. Als Vertreter dieses traditionellen Verständnisses, das auch als „self-nonself model“ bezeichnet wird, habe ich hier den Immunologen Charles Janeway skizziert, auf den eines der großen Lehrbücher der Immunologie zurückgeht. Er vertrat eine moderne Variante des Konzepts, der zufolge das Immunsystem nicht jedes „nonself“ angreift, sondern nur „infectious nonself“, also Infektionserreger (s. u.).

Polly Matzinger (*1947)

Polly Matzinger (*1947)

Vor einigen Jahrzehnten stellte Polly Matzinger dieses Konzept infrage, denn es ließ ihres Erachtens zu viele Phänomene außer Acht – etwa Autoimmunstörungen, bei denen das Immunsystem körpereigenes Gewebe bekämpft, oder die heilsame Wirkung dieses Systems bei sogenannten sterilen Entzündungen, etwa Quetschungen, bei denen keine Keime in den Körper eindringen. Sie nannte ihr Konzept „Danger theory“, denn das Immunsystem reagiert ihr zufolge auf Gefahren aller Art, ob diese nun von außen (aus dem „nonself“) kommen oder im Inneren (im „self“) angesiedelt sind.

Lange galten die Konzepte als unverträglich, und die Anhänger beider Schulen bezichtigten die jeweils andere Schule zum Beispiel, „Selbst“ oder „Gefahr“ tautologisch oder zu schwammig zu definieren. Dahinter steckten auch kulturelle Differenzen. So entstand das traditionelle Bild vom Immunsystem wesentlich im Zweiten Weltkrieg, als man viele Brandwunden zu versorgen hatte und bei den Hauttransplantationen regelmäßig Abstoßungsreaktionen beobachtete, die nur dann nicht auftraten, wenn die Haut von einem eineiigen Zwillingsgeschwister stammte – also von einem zweiten Selbst. Die Begrifflichkeit dieser Schule ist entsprechend kriegerisch: Angriff, Eindringlinge, Abwehr und so weiter. Als sich in den 1970er-Jahren das ökologische Denken ausbreitete, suchte man nach Alternativen: nach einem integrativeren Konzept, in dem zwischen dem Selbst und der Umwelt keine Mauern oder Gräben lagen, sondern durchlässige „grüne Grenzen“.

Nach Matzinger reagiert das Immunsystem nicht auf alles, was nicht zum Körper gehört (alles außerhalb des linken Kreises, "non-self") und auch nicht auf alle Baktrien, Viren usw. (rechter Kreis, "infectious nonself"), sondern auf alles, was eine Gefahr darstellt (mittleres Oval, "danger" - ob nun körpereigen wie Krebszellen oder körperfremd wie Pathogene.

Nach Matzinger reagiert das Immunsystem nicht auf alles, was nicht zum Körper gehört (alles außerhalb des linken Kreises, „nonself“) und auch nicht auf alle Bakterien, Viren usw. (rechter Kreis, „infectious nonself“), sondern auf Gefahren (mittleres Oval, „danger“) – ob nun körpereigene wie Krebszellen oder körperfremde wie Pathogene. Autoimmunerkrankungen wären demnach in derselben Schnittmenge zwischen Selbst und (vermeintliche) Gefahr angesiedelt wie Krebs.

Doch welche Instanzen in unserem Körper entscheiden, wann eine Gefahr vorliegt, und setzen eine angemessene Immunreaktion in Gang? In ihren Essays „The Danger Model in Its Historical Context“ und „The Danger Model: A Renewed Sense of Self“ stellt Matzinger die Entwicklung der immunologischen Modelle und die wiederholte Vorverlagerung dieser Kontrollinstanz dar. Den Anfang macht das ursprüngliche, von Frank Macfarlane Burnet 1959 vorgestellte Self-nonself-Modell, dem zufolge die Lymphozyten (hier eine B-Zelle) aktiviert werden, sobald sie ein fremdes Antigen erkennen. Demnach hätte das Antigen (hier ein Bakterium) die Kontrolle:

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Auf dieselbe Weise sollten auch T-Zellen infizierte Körperzellen erkennen und dann gegen sie vorgehen. 1969 erweiterten P. Bretscher und M. Cohn das Modell um ein zweites Signal, das eine Absicherung gegen zerstörerische Überreaktionen darstellt. Denn man hatte entdeckt, dass einmal aktivierte B-Zellen durch somatische Hypermutation eine Vielzahl leicht unterschiedlicher Rezeptoren hervorbringen, von denen sehr viele an körpereigene Antigene binden und so ständig Autoimmunreaktionen auslösen müssten. Also postulierte man, dass nur solche B-Zellen überleben, die das von ihren Rezeptoren erkannte Antigen einer T-Helferzelle vorzeigen (2) und von dieser die Bestätigung erhalten, dass es sich um ein fremdes Antigen handelt (3). In diesem Modell hat die T-Helferzelle die Kontrolle über die Immunreaktion:

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1974 ergänzten K. J. Lafferty und A. J. Cunningham das Tableau um einen weiteren Zelltyp, der heute als antigenpräsentierende Zelle (APC) bekannt ist, und ein weiteres Signal, die sogenannte Kostimulation (3). Denn wie sich gezeigt hatte, sind T-Helferzellen im Grundzustand inaktiv. Wie die B-Zellen brauchen sie, um richtig aufzuwachen und Alarm zu schlagen, mehr als bloß Kontakt zu einer B-Zelle, die ihr ein passendes Antigen vorzeigt. Fehlt die Kostimulation durch eine APC, sterben die T-Helferzellen und in der Folge auch die B-Zellen – oder aber die T-Helferzellen werden tolerant, d. h. sie schlagen nicht Alarm, sondern wirken vielmehr beschwichtigend auf die B-Zellen ein. In diesem Modell steuert also die antigenpräsentierende Zelle die Immunreaktion:

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Rätselhaft blieb allerdings, wieso ausgerechnet antigenpräsentierende Zellen – also Makrophagen und dendritische Zellen – diese wichtige Kontrollfunktion ausübern sollten. Schließlich haben sie als Zellen der angeborenen Abwehr keine antigenspezifischen Rezeptoren und können gar nicht zwischen fremden, potenziell gefährlichen Antigenen und irgendwelchen harmlosen körpereigenen Proteinschnipseln usw. unterschieden.1989 schlug der eingangs erwähnte Charles Janeway eine Lösung vor.

Ihm zufolge können die APCs getrost alles präsentieren, was sie finden, ob nun fremd oder körpereigen (1). Die T-Helferzellen werden nur dann aktiv, wenn sie gleichzeitig ein weiteres Signal empfangen (2), das nur entsteht, wenn die APC über bestimmte Rezeptoren, die „pattern recognition receptors“ (PRRs), typische Strukturen erkennen, die eindeutig nicht aus dem eigenen Körper, sondern von evolutionär sehr weit entfernen Organismen stammen müssen. Solche Strukturen oder Muster werden als „pathogen-associated molecular patterns“ (PAMPs) bezeichnet. Ein typisches Beispiel sind Lipopolysaccharide (LPS), die in der äußeren Membran sehr vieler Bakterien vorkommen: In unserem Körper gibt es nichts Ähnliches. Also sind auch die antigenpräsentierenden Zellen nicht ständig aktiv, sondern nur, wenn sie Gefahr wittern. In diesem Modell haben letztlich die PRRs die Kontrolle:

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Aber Janeways „infectious nonself“-Modell kann nicht erklären, warum das Immunsystem auch auf Transplantate oder Tumoren reagiert, die ja keine für die PRRs erkennbaren Bestandteile evolutionäre sehr fremder Organismen enthalten. Auch Autoimmunerkrankungen bleiben in diesem Modell rätselhaft, denn meistens sind dabei ebenfalls keine Bakterien, Viren oder Pilze im Spiel.

Auftritt Matzinger. Sie schlug 1994 vor, dass die APCs nicht nur durch PAMPS alarmiert werden können, sondern auch durch DAMPs, also „danger-associated molecuar patterns“ oder „damage-associated molecular patterns“. Bei Transplantationen sterben zum Beispiel auf einen Schlag recht viele Zellen des Implantats ab, sobald dieses wieder durchblutet wird. Auch bei Krebs kommt es zu einem massenhaften Zellsterben, und viele Krankheitserreger fallen dem Immunsystem selbst gar nicht auf, verletzen aber zahlreiche Zellen, aus denen dann Substanzen austreten, die normalerweise ausschließlich im Zellinneren zu finden sind – etwa DNA oder RNA. APCs nehmen solche DAMPs zum Teil über dieselben Rezeptoren wahr wie PAMPs, denn beide Substanzklassen sind evolutionär sehr alt und gut konserviert, also nahezu unveränderlich und damit leicht zu erkennen. In diesem Modell hat das verletzte Gewebe die Kontrolle über die Immunreaktion:

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Das Gewebe steuert Matzinger zufolge nicht nur,  ob eine Immunreaktion in Gang kommt, sondern teilweise auch, welcher Art sie ist. Denn das jeweilige Gewebe oder Organ weiß selbst am besten, welche Immunreaktion ihm gefährlich werden könnte: Im Auge oder anderen lebenswichtigen Organen werden zurückhaltende Reaktionen benötigt, etwa in Form von Antikörpern in der Tränenflüssigkeit. Andernorts kann die Abwehr energisch zuschlagen, um eine Ausbreitung einer Gefahr zu verhindern.

Am Ende eines viertelstündigen Vortrags, der unten verlinkt ist, fasst Matzinger ihre Vorstellung vom Immunsystem in einem eingängigen Bild zusammen: Es besteht ihr zufolge nicht etwa aus schießwütigen Cops, die auf jeden losgehen, den sie nicht spätestens in der Highschool kennen gelernt haben …

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… sondern aus Feuerwehrleuten im Bereitschaftsdienst, die in der Einsatzzentrale in aller Ruhe Karten spielen, bis ein Alarm eingeht. Dann rücken sie aus und löschen den Brand. Dabei ist es ihnen völlig egal, ob ein Nachbar die 112 angerufen hat, ein durchreisender Vertreter oder sogar der Brandstifter selbst.

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Lange litt Matzingers „danger theory“ darunter, dass sie selbst keine Experimente durchführt, sondern eher Theoretikerin ist. Und DAMPs waren verdammt schwer nachzuweisen. Inzwischen hat man aber einige sehr überzeugende Beispiele gefunden. Eines davon, ein Protein mit dem sperrigen Kürzel HMGB1, werde ich im nächsten Beitrag vorstellen. Es übt zahlreiche Funktionen aus, reguliert seine Aktivität auf faszinierende Art und Weise selbst und spielt bei mehreren Autoimmunerkrankungen eine unglückliche Rolle: Es tritt aus den vom fehlgeleiteten Immunsystem beschädigten Zellen aus und treibt dann den Teufelskreis an.

Linktipps

Polly Matzinger (2001): The Danger Model in Its Historical Context

Polly Matzinger (2002): The Danger Model: A Renewed Sense of Self (PDF)

Video: Polly Matzinger Recaps 65 Years of Immunological Theory in One Diagram (2016, 16 Minuten)

Krankheitsverhalten: kurzfristig heilsam – chronisch belastend

Anhedonie (Lustlosigkeit), verringerte Libido

Anhedonie: Lustlosigkeit, z. B. verringerte Libido

Wenn wir krank sind, uns ins Bett legen, fiebern und nichts essen mögen: ist das schlecht für uns? Ist es nur ein Zeichen dafür, dass es uns schlecht geht? Oder ist es vielmehr gut für uns, ein Teil unserer Genesung? Erstaunlich lange blieb diese Frage unbeantwortet. Erst 1988 veröffentlichte Benjamin L. Hart seine wegweisende Arbeit „Biological basis of the behavior of sick animals“, in der er das Krankheitsverhalten (sickness behavior) von Tieren als evolutionäre Anpassung zur effizienten Überwindung von Infektionskrankheiten darstellte.

Zu diesem Krankheitsverhalten zählen etwa

  • Anorexie (verringerter Appetit)
Anorexie: verringerter Appetit

Anorexie: verringerter Appetit

  • Adipsie (wenig Durst)
Adipsie: verringerter Durst

Adipsie: verringerter Durst

  • Lethargie und Schläfrigkeit
Lethargie, viel Schlaf, Schonhaltung, Wärmeverlustminimierung

Schläfrigkeit, Schonhaltung, Wärmeverlust-Minimierung

  • Anhedonie (Lustlosigkeit, Unfähigkeit zur Freude, siehe oben: keinen Bock aufs Haserl!)
  • Rückzug und Asozialität (verringerte Revierverteidigung, Brutfürsorge, wechselseitige Körperpflege, sexuelle Aktivität usw.)
reduziertes Sozialverhalten, z. B. Brutpflege

reduziertes Sozialverhalten

  • Desinteresse am Erkunden der Umgebung, am Spielen und Lernen
  • Übelkeit, Unwohlsein
  • erhöhte Schmerzempfindlichkeit
  • bei Warmblütern Zittern zur Wärmeproduktion und bei wechselwarmen Tieren das Aufsuchen einer warmer Umgebung („behavioral fever“) sowie
"Verhaltensfieber" bei wechselwarmen Tieren

„Verhaltensfieber“ bei wechselwarmen Tieren

  • eine kompakte Körperhaltung, die den Wärmeverlust minimiert.

Hinzu kommen physiologische Veränderungen, etwa eine vom Hypothalamus im Gehirn angeordnete Erhöhung der Körpertemperatur (Fieber), Entzündungsreaktionen und eine träge Verdauung.

Noch immer glauben viele Menschen, Fieber sollte gesenkt werden und Brandwunden müsse man kühlen, weil die Wärme schädlich sei. Dabei dient beides „nur“ der Schmerzbekämpfung, nicht aber der Heilung – von Ausnahmen abgesehen. Zwar ist bei weitem nicht bei jeder Erkrankung klar, auf welchen Wegen Fieber uns nützt (Beschleunigung enzymatischer Reaktionen, Hemmung der Vermehrung hitzeempfindlicher Viren oder Bakterien, Entfernung des für Pathogene wichtigen Spurenelements Eisen aus unserem Blut …). Aber dass es eine Anpassungsleistung darstellt und in vielen Situationen das Überleben fördert, ist mittlerweile klar. So hatten in Tierexperimenten gezielt infizierte Wüstenleguane oder Zebrafische, die eine wärmere Umgebung aufsuchen konnten, eine deutlich höhere Überlebenswahrscheinlichkeit als Leidensgenossen, die man daran hinderte.

Viele der oben genannten Aspekte des Krankheitsverhaltens hängen miteinander zusammen. So rufen die Entzündungsreaktionen, mit denen unser Immunsystem Infektionen bekämpft, im Wachzustand Übelkeit, Abgeschlagenheit, Schmerz usw. hervor, die unsere Aktivitäten stören und riskanter machen können. Daher der Rückzug und der viele Schlaf. Der Rückzug von sozialen Aktivitäten könnte auch die Gefahr verringern, verwandte Artgenossen anzustecken. Andererseits kennen wir von vielen Tierarten Fürsorge für erkrankte Gruppenmitglieder, was darauf hindeutet, dass das verringerte Sozialverhalten und die Lethargie nicht dem Schutz der anderen, sondern der eigenen Genesung dienen, etwa der Konzentration der Energiereserven auf die kostspieligen Aktivitäten des Immunsystems.

Ob die verfügbare Energie eher in die Heilung oder doch in die kurzfristige Maximierung des Fortpflanzungserfolgs investiert wird, hängt wesentlich von der „life history“ und der Reproduktionsstrategie der Art ab: Kurzlebige kranke Säugetiermännchen paaren sich im Zweifel lieber noch einmal und kippen dann tot um. Langlebige Organismen schonen sich lieber; zur Not vernachlässigen sie ihre Jungen und setzen darauf, dass sie nach ihrer Genesung neuen Nachwuchs großziehen können.

Bei einer akuten Erkrankung fördert ein solches Krankheitsverhalten die Gesundung und damit die Chance, das Erbgut, in das dieses Verhalten eingeschrieben ist, in die nächsten Generationen weiterzutragen. So funktioniert natürliche Auslese. Bei chronischen Erkrankungen ist dasselbe Verhalten oftmals kontraproduktiv, denn ich kann nicht jahrelang hungern, die Tage verdämmern, enthaltsam leben und die sozialen Bedürfnisse meiner Mitgeschöpfe ignorieren, ohne mir selbst und meinen Verwandten zu schaden. Außerdem werden viele chronische Erkrankungen, etwa Autoimmunerkrankungen, wohl gar nicht durch Bakterien oder Viren verursacht, die sich durch ein solches Verhalten besiegen ließen.

Da aber etliche chronische Erkrankungen erst gegen Ende oder gar nach der Reproduktionsphase auftreten, hat die natürliche Auslese keinen Ansatzpunkt, um einem solchen „chronifizierten Krankheitsverhalten“ entgegenzuwirken. Das einmal entgleiste Immunsystem, das fälschlich meint, eine Infektion bekämpfen zu müssen, schüttet permanent entzündungsfördernde Botenstoffe wie Interleukin 1β (IL-1β), Interleukin 6 (IL-6) und Tumornekrosefaktor (TNF) aus, die dem Hypothalamus und anderen Schaltzentralen suggerieren, der Organismus müsse noch ein Weilchen kürzer treten und sich zurückziehen. Das könnte der Grund für ein Phänomen sein, das vielen chronisch Kranken nur allzu bekannt ist: Fatigue.

 

Epigenetik: ein Erklär-Comic aus Berlin

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Vom 9. Forum Wissenschaftskommunikation, das im November in Bielefeld stattgefunden hat, habe ich diesen Wissenschaftscomic mitgebracht: herausgegeben vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin, gezeichnet von Annette Köhn, konzipiert und getextet von Dr. Alexandra Weyrich und Olaf Nowacki, basierend auf der Fachpublikation „Paternal intergenerational epigenetic response to heat exposure in male Wild Guinea“ von Weyrich et al. (2015), 24 Seiten einschließlich Glossar und Impressum für 10 Euro.

Wie so oft kann ich als Fachidiotin schlecht beurteilen, wie lehrreich und verständlich der Comic für Nichtbiologen oder gar Nichtwissenschaftler ist. Mir haben Aufbau, Stil und Umfang gut gefallen. Bei der Veranstaltung habe ich allerdings den Eindruck gewonnen, dass die Produktion solcher Comics doch sehr aufwändig ist. Ohne starke Subventionierung kann ein solches Format m. E. nicht überleben; dafür ist die Konkurrenz zu stark. Und bei allem Bemühen bleiben Wissenschaftscomics nun einmal etwas dröge; dessen bin ich mir auch beim Autoimmunbuch bewusst.

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Große Unterschiede im Immunsystem eineiiger Zwillinge

Nur wenige Forscher beschäftigen sich mit der Entwicklung des gesamten Immunsystems, also all der Komponenten sowohl der angeborenen als auch der erworbenen Abwehr, über das ganze Leben hinweg: von der Geburt bis ins hohe Alter. Hier stelle ich eine dieser wenigen Arbeiten vor:

Petter Brodin et al. (2015): Variation in the Human Immune System Is Largely Driven by Non-Heritable Influences (Open Access)

Die Autoren haben an 105 gesunden Zwillingspaaren, also 210 Personen, 204 Immunsystem-Parameter untersucht, darunter die Häufigkeit von 95 verschiedenen Immunzelltypen, die Konzentration von 51 Zytokinen, Chemokinen und Wachstumsfaktoren im Serum und die Veränderungen dieser Werte nach Anregung der Immunzellen durch Botenstoffe. 78 Zwillingspaare waren eineiig, 27 zweieiig. Bei der großen Mehrheit, nämlich 77 Prozent der Parameter waren die Unterschiede zwischen den Zwillings-Messwerten überwiegend (nämlich zu mehr als der Hälfte) nicht erblich, sondern durch unterschiedliche Umwelteinflüsse bedingt. Die Unterschiede bei 58 Prozent der Immunsystem-Parameter waren sogar ganz überwiegend (zu mehr als 80 Prozent) nicht erblich bedingt. Außerdem unterschieden sich die Immunsysteme älterer Zwillingspaare deutlich stärker als die jüngerer: Der Umwelteinfluss nimmt mit den Jahren zu.

Mit den Jahren entwickeln sich Zwillinge immunologisch immer weiter auseinander, weil unterschiedliche Umwelteinflüsse auf sie einwirken, etwa Impfungen, Infektionen, Allergene oder Nahrung

Mit den Jahren entwickeln sich Zwillinge immunologisch immer weiter auseinander, weil unterschiedliche Umwelteinflüsse auf sie einwirken, etwa Impfungen, Infektionen, Zellgifte oder ihre Kost.

Die Erblichkeit der Parameter wurde anhand von Messungen an eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren ermittelt. Zwischen eineiigen Zwillingen sollten erbliche Faktoren (also Gene und dauerhafte epigenetische Markierungen des Erbguts) zu 100 Prozent übereinstimmen, zwischen zweieiigen Zwillingen dagegen – wie bei anderen Geschwisterpaaren – nur zu 50 Prozent. Umweltfaktoren (darunter auch stochastische epigenetische Veränderungen) sollten dagegen ein- und zweieiige Zwillinge gleichermaßen beeinflussen.

Unter den Immunzelltypen gab es einige wenige, deren Häufigkeit im Blut der Probanden stark erblich bedingt war, also zwischen eineiigen Zwillingen sehr gut übereinstimmte – vor allem naive CD27+-T-Zellen und CD4+-Gedächtnis-T-Zellen. Die Häufigkeit der meisten Zellen der erworbenen (T- und B-Zellen) sowie der angeborenen Abwehr (Granulozyten, Monozyten und NK-Zellen) unterschied sich dagegen zwischen eineiigen Zwillingen praktisch ebenso stark wie zwischen zweieiigen Zwillingen, sodass man annehmen muss, dass Zufälle und Umweltreize wie Infektionen die Werte prägen.

Unter den Zytokinen erwies sich IL-12p40 als besonders stark erblich. Varianten im Gen dieses Proteins werden mit Krankheiten wie Psoriasis oder Asthma in Verbindung gebracht, an denen das Immunsystem beteiligt ist. Bei vielen anderen Zytokinen war der erbliche Einfluss gering.

Schon im Ruhezustand (oben) unterscheiden sich viele Immunparameter zwischen Zwillingen. Eine Anregung des Immunsystems löst bei den wenigen erblich dominierten Parametern gleich starke Veränderungen aus (Zeile 2), bei vielen nicht erblich dominierten Parametern aber ungleich starke Veränderungen, die die Unterschiede zwischen den Basiswerten ausgleichen oder verstärken können.

Schon im Ruhezustand (oben) unterscheiden sich viele Immunparameter zwischen Zwillingen. Eine Anregung des Immunsystems löst bei den wenigen erblich dominierten Parametern (etwa den homöostatischen Zytokinen IL-2 und IL-7, die die Vermehrung von T-Zellen steuern) gleich starke Veränderungen aus (Zeile 2). Bei den vielen nicht erblich dominierten Parametern (etwa IL-6, IL-20 oder IL-21) können die unterschiedlichen Reaktionsstärken die Unterschiede zwischen den Basiswerten ausgleichen oder verstärken.

Das galt sowohl für die Basiswerte, die ohne Stimulation des Immunsystems erhoben wurden, als auch für viele Werte, die nach Anregung einer Immunreaktion ermittelt wurden. Eine stark erbliche Komponente fand sich bei den sogenannten homöostatischen Zytokinen IL-2 und IL-7, die bei einer Aktivierung des Immunsystems für die Vermehrung und die richtige Spezialisierung von T-Zellen sorgen. Die meisten Messwerte variierten jedoch nach der Immunsystem-Stimulation zwischen eineiigen Zwillingen fast ebenso unterschiedlich wie zwischen zweieiigen Zwillingen. Dabei waren schwache und starke Immunsystem-Reaktionen gleichermaßen nicht erblich, also durch Umweltfaktoren geprägt.

Stellt man alle gemessenen Immunsystem-Parameter als Netzwerk dar, in dem voneinander abhängige Größen durch Linien verbunden sind, zeigt sich: Die relativ wenigen Parameter mit starker Erblichkeit sind von Parametern umgeben, deren Variabilität durch die Umwelt bedingt ist. Das könnte erklären, warum bekannte Risiko-Genvarianten für bestimmte Krankheiten des Immunsystems oft nur für einen kleinen Teil des Erkrankungsrisikos verantwortlich zeichnen: Ihr Einfluss wird durch andere, nicht erbliche Faktoren abgepuffert, die zum Beispiel in denselben Signalketten oder Regelkreisen angesiedelt sind.

Der im Laufe des Lebens zunehmende Einfluss der Umwelt, vor allem wohl der Infektions- und Impfgeschichte auf den Zustand des Immunsystems war bei den regulatorischen T-Zellen oder Tregs am auffälligsten: Während ihre Häufigkeit bei jungen Zwillingspaaren gut übereinstimmte (Erblichkeit 0,78 von maximal 1,0), waren die Werte bei alten Zwillingspaaren so gut wie unkorreliert (Erblichkeit 0,24, also knapp über der Nachweisbarkeitsgrenze von 0,2). Besonders großen Einfluss auf das Immunsystem nimmt offenbar das Cytomegalovirus (CMV), das uns – wie andere Herpesviren – ein Leben lang erhalten bleibt. In 16 eineiigen Zwillingspaaren aus der Versuchspopulation war ein Geschwister mit CMV infiziert und das andere nicht. Viele ihrer Immunsystem-Parameter unterschieden sich stark, und zwar sowohl im Basiszustand als auch nach Stimulation.

Die Antikörperproduktion nach einer Grippeschutzimpfung war bei den Zwillingspaaren so gut wie gar nicht erblich beeinflusst, sondern fiel – wohl je nach Impf- und Infektionsgeschichte der Individuen – recht unterschiedlich aus.

Angesichts dieser Ergebnisse ist es kein Wunder, dass unter Geschwistern, die dieselben Risikogenvarianten für Autoimmunerkrankungen erben, oftmals nur eines wirklich erkrankt.

Müdigkeiten

Ich habe sie alle:

Die normale Müdigkeit, die sich einstellt, wenn man in der Nacht zu wenig geschlafen hat. Sie beunruhigt mich nicht; dann ist man eben mal nicht ganz so leistungsfähig; das schläft sich aus.

Die unerklärliche Müdigkeit, die mich ins Bett zwingt, wenn ich nachmittags aus dem Büro nach Hause komme, obwohl ich normal geschlafen habe. Sie ist ärgerlich, weil sie verhindert, dass ich das wenige Tageslicht nutze, das der Winter bietet.

Die körperliche Schwere, das Grippegefühl ohne Grippe, die verdoppelte Gravitation. Immer wieder mal, bei normalem Blutbild, unauffälligen Thyroxin- und TSH-Werten, nicht weiter alarmierendem Schilddrüsen-Ultraschall und -Szintigramm und harmlosem Magenspiegelungsbefund. Vitamin D kommt bisher nicht dagegen an.

Die Erschöpfung, die sich einstellt, wenn eine halbe Stelle ausufert. Belastend, weil man trotz aller Überstunden doch nie schafft, was man sich vorgenommen hat. Beschämend zudem, da die andere Hälfte meiner Zeit und Energie in dieses Projekt fließen sollte und ich den Unterstützern immer noch ein Buch schulde.

Und, let’s face it, die Depression. Die Doppelverglasung zwischen meiner Umwelt und mir. Lange als Winterblues durchaus korrekt beschrieben und mit einer Tageslichtlampe in die Schranken verwiesen. Dieses Jahr reicht das nicht mehr. Wie in der Hypothyreose vor einigen Jahren, kurz vor der Hashimoto-Diagnose, kostet bereits das Aufstehen an manchen Tagen mehr Kraft, als mir zur Verfügung steht. Kleine Widrigkeiten reichen dann, um mich bis zum späten Mittag auszuschalten. Freundschaften und Bekanntschaften leiden unter der Passivität; es fehlen belebende Begegnungen und Sinneseindrücke; man merkt das und kann gerade drum nicht aus seinem Schneckenhaus: der alte Teufelskreis.

Am Samstag beginnt, weit weg von hier, die „Zeit zwischen den Jahren“, in der ich nichts leisten muss. Im Januar sehen wir weiter: Die Tage werden länger; die halbe Stelle wird zurückgestutzt; Buch und Blog kommen zu ihrem Recht. Und vielleicht fällt meiner Ärztin noch etwas ein.

Autoimmunerkrankungen: Kollateralschäden der körpereigenen Krebsabwehr?

Vor einigen Monaten habe ich hier Krebs aus evolutionsbiologischer Perspektive beleuchtet. Der ziemlich ausführlich geratene Artikel sollte ursprünglich nur eine Hinleitung zum heutigen Thema werden: zu den Schnittmengen von Autoimmunreaktionen und Krebserkrankungen. Höchste Zeit, den Bogen zu vollenden.

Paraneoplastische Autoimmunerkrankungen

Die systemische Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der sich nicht nur die Haut verändert wie bei einer zirkumskripten Sklerodermie oder Morphea, sondern auch innere Organe angegriffen werden. Vor allem die Blutgefäße entzünden sich, und es kommt zu Bindegewebswucherungen (Fibrosen), die die Funktion der Organe beeinträchtigen und sehr schmerzhaft werden können. Einer Forschergruppe um Anthony Rosen aus Baltimore fiel vor einigen Jahren auf, dass relativ viele – insbesondere ältere – Menschen mit systemischer Sklerose kurz vor oder nach dieser Diagnose auch an Krebs erkranken, beispielsweise an Brustkrebs. Ähnliche Häufungen war früher bereits bei Dermatomyositis und anderen Autoimmunerkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis beobachtet worden, etwa bei Vaskulitiden, also Blutgefäß-Entzündungen, oder systemischem Lupus erythematodes. Autoimmunerkrankungen, die kurz vor, während oder nach Krebserkrankungen auftreten, bezeichnet man als paraneoplastisch (wörtlich „neben Neubildungen“, also gleichzeitig mit Tumoren).

Was kam zuerst?

Nun könnte eine bereits ausgebrochene Autoimmunerkrankung das Immunsystem so schwächen oder eine Therapie gegen diese Erkrankung so viele Mutationen auslösen, dass daraufhin die Krebsgefahr steigt. Das passt aber schlecht zu den Zeitverläufen und Begleitumständen, die Rosen und seine Kolleginnen bei den Patienten beobachtet haben. Daher stellten sie eine Gegenhypothese auf, bei der die Autoimmunreaktionen nicht Ursache, sondern Folge von Krebsvorstufen sind. Die „fremden“ Antigene, die die Autoimmunreaktionen und damit letztlich die systemische Sklerose auslösen, sollen also nicht von Krankheitserregern oder anderem körperfremden Material (etwa aus der Nahrung) stammen, sondern aus veränderten Körperzellen: aus Vorläufern von Tumorzellen.

Denn wie die Immunologin Polly Matzinger im Zuge ihrer danger theory immer wieder betont: Das Immunsystem dient bei weitem nicht nur der Bekämpfung von Bakterien, Viren und anderen äußeren Feinden, sondern der Abwehr von Gefahren aller Art – unter anderem Krebs. Wenn Immunzellen krankhaft veränderte Körperzellen erkennen, lösen sie Alarm aus. Das Immunsystem greift alle derartigen Zellen an, um ihre Ausbreitung zu verhindern oder den mutierten Zellklon sogar ganz zu vernichten, bevor daraus endgültig ein nicht mehr beherrschbarer Tumor entsteht.

Unreife gesunde Zellen auf der Fahndungsliste

Bei einigen Patienten mit Krebs und systemischer Sklerose ist das Gen POLR3A mutiert, in dem das Autoantigen RPC1 codiert ist. Dieses Protein ist ein Baustein einer RNA-Polymerase: eines Enzyms, das an der Ablesung von Genen, also an der Herstellung von RNA nach dem Vorbild eines DNA-Abschnitts beteiligt ist. Das Enzym kommt im ganzen Körper vor, insbesondere in unreifen Zellen, die vor allem bei der Wundheilung gehäuft auftreten – etwa in den Wänden von Blutgefäßen.

Die mutierte Form wird dagegen nur von Krebsvorläuferzellen hergestellt, und zwar in großen Mengen. Diese Kombination – ein ungewöhnliches Antigen, das außergewöhnlich stark exprimiert wird – ist es wohl, die das Immunsystem alarmiert: Zahlreiche patrouillierende Antigen-präsentierende Zellen, etwa dendritische Zellen oder Makrophagen, nehmen das Antigen auf und präsentieren es in großem Stil den T-Zellen. So werden die passenden T-Zellen aktiviert, sie vermehren sich und aktivieren ihrerseits B-Zellen, die dann Massen von Antikörpern gegen die Antigene herstellen.

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Kreuzreaktivität: Antikörper gegen ein mutiertes Protein binden u. U. auch an das unveränderte Protein. So kann aus einer Immun- eine Autoimmunreaktion werden.

Die Forscher stellten fest, dass solche Autoantikörper im Blut der Sklerodermie-Patienten nicht zwischen der mutierten und der normalen Version von RPC1 unterscheiden, sondern beide angreifen. Offenbar binden die Antikörper nicht an die mutierte Stelle des Enzymbausteins, sondern an eine andere Stelle, die bei beiden RPC1-Varianten identisch ist. Entstehen darüber hinaus auch langlebige autoreaktive Gedächtnis-T- oder -B-Zellen, laufen die Autoimmunattacken auf unreife gesunde Zellen auch dann weiter, wenn das Immunsystem die Krebsvorstufen erfolgreich beseitigt hat. So kommt es zur Schädigung von Blutgefäßen, Haut und inneren Organen.

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Von der Krebsvorstufe zur Autoimmunerkrankung: 1 Eine Zelle wird zur Krebsvorläuferzelle (Transformation) und produziert sehr viel von einem für unreife Zellen typischen Protein. 2 Eine Mutation in einer solchen Zelle verändert das Protein. 3 Im Tumor kommen Zellen mit der Mutation und solche mit dem Wildtyp vor. 4 Aus den mutierten Zellen wird (z. B. wenn sie sterben) das veränderte Protein freigesetzt. 5 Antigen-präsentierende Zellen nehmen dieses Antigen auf und präsentieren es zusammen mit Kostimulationssignalen. 6 Das Antigen wird wegen seiner Fremdartigkeit als gefährlich eingestuft und aktiviert das Immunsystem. 7 Die aktivierten Effektorzellen bekämpfen den Tumor; dabei treten weitere Proteine aus – sowohl veränderte als auch unveränderte. 8 Auch das normale Protein wird nun als Antigen präsentiert. 9 Im Kontext der laufenden Immunreaktion wird auch das normale Autoantigen als gefährlich eingestuft; autoreaktive Effektorzellen werden aktiviert. 10 Fernab vom Tumor, zum Beispiel in Blutgefäßwänden, produzieren unreife Zellen dasselbe Antigen und werden damit zum Ziel der Abwehr. 11 Die Effektorzellen greifen die unreifen Zellen an und setzen so noch mehr der Autoantigene frei, auf die sie reagieren. 12 Dieser Teufelskreis läuft auch weiter, wenn der Tumor längst verschwunden ist: Die Autoimmunerkrankung hat sich etabliert.

Reizüberflutung

Woher aber kommen die ersten Effektorzellen, die hier (in Schritt 9) auf das normale körpereigene Antigen, etwa auf das Protein RPC1 reagieren? Eigentlich sollten solche autoreaktiven T- und B-Zellen bereits in unserer Kindheit im Thymus eliminiert werden, im Zuge der zentralen Toleranzinduktion. Aber kein System arbeitet fehlerfrei: Ein paar autoreaktive Effektorzellen gelangen doch in Umlauf. Normalerweise sind sie harmlos: Wenn „ihr“ Autoantigen in ihrer Umgebung nur vereinzelt vorkommt, bleibt der Reiz unterhalb ihrer Aktivierungsschwelle. Wird die Umgebung jedoch mit dem Autoantigen überschwemmt, etwa weil bei einer Entzündung oder bei der Tumorbekämpfung viele Zellen absterben und „auslaufen“, erwachen die wenigen autoreaktiven Immunzellen aus ihrem Schlummer, schlagen Alarm und vermehren sich.

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Vereinzelte autoreaktive Immunzellen bleiben friedlich, solange „ihr“ Autoantigen selten ist. Große Mengen dieses Antigens aktivieren sie dagegen.

Gelegentliche Pyrrhussiege

Patienten mit einer paraneoplastischen Autoimmunerkrankung, also zum Beispiel systemischer Sklerose und Brustkrebs, wären demnach Fälle, in denen das Immunsystem den Krebs nicht besiegen konnte. Oft sind die Tumoren dieser Patienten aber kleiner als die ähnlicher Betroffener ohne Autoimmunstörung; die Immunreaktion gegen die Tumor-Antigene hat also durchaus etwas bewirkt. Das Immunsystem von Patienten, die „nur“ unter ihrer Autoimmunerkrankung leiden, hat laut Rosen und seinem Team die Krebs-Vorstufen komplett beseitigt, bevor sie auffällig wurden.

Wie aber passen die vielen Patientinnen und Patienten ins Bild, die zwar Krebs, aber keine bekannte Autoimmunerkrankung haben? Auch bei ihnen könnte es laut Rosen und seinem Team in der Vergangenheit Immunreaktionen gegen mutierte Autoantigene in Krebsvorläuferzellen gegeben haben. Die Abwehrreaktionen hat einen Selektionsdruck auf die Zellklone ausgeübt und so die Zusammensetzung des entstehenden Tumors verändert. Bei diesem sogenannten Immun-Editing verschwinden Zellklone, die vom Immunsystem gut erkannt und effektiv bekämpft werden, während andere (Prä-)Tumorzellen, die nicht so leicht zu erkennen sind, der Abwehr entwischen und sich dann zu Krebs auswachsen.

Ist ein Klon mit mutierten Antigenen erst einmal eliminiert, flaut die Immunreaktion ab. Sofern noch keine Kreuzreaktionen mit der unmutierten Autoantigen-Variante aufgetreten sind, die im restlichen Körper vorkommt, kann das immunologische Gedächtnis die vorübergehende Autoimmunreaktion vergessen.

Beide Extremfälle kann man als Pyrrhussiege auffassen: Manchmal besiegt unser Immunsystem zwar den Krebs, bevor er gefährlich wird, bekämpft aber für den Rest des Lebens gesunde, unreife Zellen, weil es sie fälschlich für gefährlich hält. Und manchmal vernichtet unser Immunsystem zwar einen frühen mutierten Zellklon in einem entstehenden Tumor, schafft aber gerade dadurch anderen, noch gefährlicheren Zellklonen Platz. Dann erlischt zwar die Autoimmunreaktion, aber der Krebs wächst heran. Aber bei den allermeisten Menschen scheint das System ganz gut zu funktionieren: Ohne dass sie etwas davon ahnen, treten in ihnen Krebsvorstufen auf, die durch vorübergehende und damit ungefährliche Autoimmunreaktionen ausgemerzt oder so weit eingehegt werden, dass die Tumoren „okkult“ bleiben, also verborgen.

Cave!

Bei all diesen Überlegungen – auch in der „Begleitmusik“ zu den Publikationen des Rosen-Teams, etwa bei Science oder wiederholt bei The Scientist – darf eines nicht vergessen werden: Bisher wurden die Zusammenhänge zwischen systemischer Sklerose und Krebs nur an wenigen Menschen untersucht. Systemische Sklerose ist zum Glück selten, etwa gleichzeitig auftretender Krebs noch viel seltener. Einige der Schlussfolgerungen der Forscher beruhen auf einer guten Handvoll, andere Mutmaßungen sogar auf einem einzigen Fall. Ob dies wirklich die Keimzelle eines neuen Paradigmas zur Verursachungen systemischer Autoimmunerkrankungen ist: tja.

Klar ist, dass sehr viele Krebserkrankungen mit der Produktion von Autoantikörpern einhergehen. Ob diese Autoantikörper wirklich zur körpereigenen Krebsabwehr oder aber zur Gegenstrategie der Tumoren gehören oder doch eher Epiphänomene sind, die bestenfalls als frühe diagnostische Marker für bestimmte Krebstypen taugen, bleibt abzuwarten.

Literatur:

Christine G. Joseph et al. (2914): Association of the Autoimmune Disease Scleroderma with an Immunologic Response to Cancer (Open Access)

Ami A. Shah et al. (2015a): Cancer-induced autoimmunity in the rheumatic diseases (Open Access)

Ami A. Shah et al. (2015b): Examination of autoantibody status and clinical features that associate with cancer risk and cancer-associated scleroderma (Open Access)

Pauline Zaenker et al. (2016): Autoantibody production in cancer – The humoral immune response towards autologous antigens in cancer patients

Auch Typ-1-Diabetes ist stark mit weiteren Autoimmunerkrankungen assoziiert

Wo ich gerade dabei bin: Jing W. Hughes und KollegInnen stellen in ihrer Arbeit „Autoimmune Diseases in Children and Adults with Type 1 Diabetes from the T1D Exchange Clinic Registry“ (PDF, Open Access) die Prävalenzen weiterer Autoimmunerkranungen bei über 25.000 Personen mit Typ-1-Diabetes vor.

Die Hauptergebnisse: 27% der untersuchten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen hatten mindestens eine weitere Autoimmunstörung. Das Spektrum ist breit; am häufigsten waren Hashimoto-Thyreoiditis und Morbus Basedow (also beide Formen der Autoimmun-Thyreoiditis), Zöliakie, rheumatoide Arthritis und Vitiligo. Der Anteil der DiabetikerInnen mit mindestens einer weiteren Autoimmunerkrankung steigt mit dem Alter; bei den über 65-Jährigen liegt er bei 47%.