Dringende Leseempfehlung: An Epidemic of Absence

Ich bin noch nicht durch, aber mein Urteil steht bereits fest. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Moises Velasquez-Manoff hat ein hervorragendes Sachbuch über die Hygiene- oder Alte-Freunde-Hypothese geschrieben: auf aktuellstem Wissensstand und gut lesbar – sofern man einigermaßen Englisch kann. (Hoffentlich wird es eine deutsche Fassung geben; einen Verlag habe ich schon neugierig gemacht.) In bester amerikanischer Manier wechseln sich erzählerische Intros mit verständlichen und dennoch informationsdichten Passagen über den wissenschaftlichen Background ab.

Die immense Zunahme von Allergien und Autoimmunerkrankungen in den letzten Jahrzehnten führt der Autor auf die allzu erfolgreiche Bekämpfung von Krankheitserregern, vor allem Würmern und anderen Eukaryoten, zurück: eine Hypothese, für die sich die Belege häufen und die mich hier im Blog schon öfter beschäftigt hat. (Einen Überblick bietet dieser Artikel, den ich ursprünglich für Spektrum.de geschrieben habe).

Anlass für die gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema (bis hin zum Selbstversuch, der Infektion mit dem Hakenwurm Necator americanus) war die eigene Erkrankung an Alopecia universalis und Asthma. Ich bin ein wenig neidisch auf den Autor, der im Grunde fast das Buch geschrieben hat, das mir vorschwebt. Zugleich bin ich froh, weil ich offenbar auf der richtigen Spur bin. Außerdem wird sich mein Buch im Aufbau und vor allem in der Aufmachung doch so sehr von „An Epidemic of Absence“ unterscheiden, dass die beiden Bücher sich keine Konkurrenz machen.

Gemäßigter Langzeit-Alkoholkonsum scheint RA-Risiko bei Frauen deutlich zu senken

Ethanol (Strukturformel)

Diese Literaturzusammenfassung – wie immer noch nicht allgemein verständlich aufbereitet – schließt an die Arbeit über die negative Korrelation von Alkoholkonsum und Hashimoto-Erkrankungen an, über die ich vor einigen Monaten berichtet habe. Die Indizien verdichten sich, dass diese Effekte nicht einfach auf eine erbliche Veranlagung zurückzuführen sind, die sowohl eine Neigung zum Alkoholkonsum als auch ein verringertes Erkrankungsrisiko bewirkt, sondern dass Alkohol tatsächlich dämpfend auf die Entzündungsprozesse einwirkt, die an Autoimmunerkrankungen beteiligt sind. Interessant auch, dass es nicht auf die Art der alkoholischen Getränke (Bier, Wein oder Spirituosen) anzukommen scheint.

Daniela Di Giuseppe et al.: Long term alcohol intake and risk of rheumatoid arthritis in women: a population based cohort study. BMJ 2012;345:e4250, doi:10.1136/bmj.e4230 (Open Access)

Abstract: Daten aus der schwedischen Mammografie-Kohorte, 34.141 Frauen der Geburtsjahrgänge 1914 bis 1948, Befragungen 1987 und 1997; Follow-up Anfang 2003 bis Ende 2009 mit 226.032 Personenjahren: 197 neue Fälle von rheumatoider Arthritis (RA). Statistisch signifikant 37% geringeres RA-Risiko bei Frauen, die >4 Gläser Alkohol pro Woche (1 Glas = 15 g Ethanol) tranken, ggü. Frauen, die <1 Glas/Woche oder gar keinen Alkohol tranken. Konsum aller Alkoholtypen (Bier, Wein, Schnaps) einzeln nichtsignifikant invers mit RA-Risiko assoziiert. Langzeiteffekte: Frauen, die sowohl 1987 als auch 1997 angaben, >3 Gläser/Woche zu trinken, hatten gegenüber denen, die gar keinen Alkohol tranken, ein um 52% reduziertes RA-Risiko. Weiterlesen

DNA-Schleifen: Introns mit risikoassoziierten SNPs als Enhancer für benachbarte Autoimmun-Risikogene

Wie im letzten Beitrag angedeutet, wird durch die Daten des gigantischen ENCODE-Projekts (Encyclopedia of DNA Elements) und neue Techniken wie 3C (chromosome conformation capture), mit denen sich Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Teilen des Erbguts analysieren lassen, nun endlich klar, warum die bisherigen Versuche, Risikogene für Autoimmunerkrankungen dingfest zu machen, so bescheidene Ergebnisse erbracht haben. Jahrelang wurden mit Hilfe von genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) alle möglichen sogenannten Einzelnukleotid-Polymorphismen oder SNPs (single nucleotide polymorphisms) identifiziert, die irgendwie mit einem erhöhten Risiko verbunden waren, bestimmte Autoimmunerkrankungen zu bekommen. Manchmal lagen diese Hochrisiko-SNPs tatsächlich in oder direkt neben Genen, von denen man weiß, dass ihre Proteine etwas mit dem Immunsystem zu tun haben. Oft blieb der Zusammenhang aber völlig rätselhaft.

Jetzt zeigt sich: Man sollte immer auch untersuchen, ob die Sequenzen, in denen die SNPs liegen, womöglich gar keine Immunsystem-Proteine codieren, sondern als Steuerungselemente die Intensität der Ablesung anderer Gene in der weiteren Umgebung beeinflussen. Im Folgenden stelle ich eine Arbeit vor, in der auf diese Weise ein völlig neues Risikogen für Typ-1-Diabetes identifiziert wurde, dessen Funktion noch nicht bekannt ist. Die Autoren haben auch ein Modell entwickelt, das die „Fernwirkung“ der Sequenz mit den SNPs auf das Risikogen erklären kann.

Meine Notizen sind – wie immer – noch nicht allgemein verständlich aufbereitet.

Lucy J. Davison et al.: Long-range DNA looping and gene expression analyses identify DEXI as an autoimmune disease candidate gene. Human Molecular Genetics 21/2, 2012,  322-333; doi:10.1093/hmg/ddr468 (Open Access)   Weiterlesen

Stand der Dinge beim Autoimmunbuch

Wie immer geht es mir nicht schnell genug voran, und ich hoffe nur, dass meine Unterstützer mehr Geduld mit mir haben. 😉

Vor einer Woche bin ich aus dem Urlaub zurückgekehrt, gestern habe ich die letzte Buchübersetzung für lange Zeit abgeschlossen, und morgen trete ich eine halbe feste Stelle im Kommunikationsressort des IQWiG in Köln an. Von diesen Schritt erhoffe mich mir, dass ich mich in der „anderen Hälfte“ meines Lebens voll auf das Autoimmunbuch und ein weiteres, aber dem gegenüber eindeutig untergeordnetes Projekt, nämlich die Kraut Publishers, konzentrieren kann. Die Unsicherheiten und Belastungen des selbständigen Übersetzerdaseins (Akquise, Deadlines, Wochenend- und Nachtarbeit …) lasse ich für zwei Jahre hinter mir.

Vor, im und nach dem Urlaub habe ich weiter Fachliteratur gelesen, die ich in den nächsten Tagen und Wochen zum Teil hier verbloggen werde. Vor allem das ENCODE-Projekt hat neue Erkenntnisse erbracht, die das Verständnis der genetischen Veranlagung zu Autoimmunerkrankungen revolutionieren.

Ansonsten werde ich mit meinen Skizzen da weitermachen, wo ich vorm Urlaub aufgehört habe, und testen, ob die Autoren-Software Scrivener mir hilft, den Überblick über mein ausuferndes Material zu behalten.

Das Pflanzen-Immunsystem verwendet flüchtige Warnstoffe

Skizze für Teil III des Buches (Evolution des Immunsystems):

Pflanzen enthalten keine frei beweglichen Immunzellen, sondern müssen die Abwehr von Pathogenen und Fressfeinden lokal organisieren. Bei einem lokalen Angriff steht zu erwarten, dass als nächstes ein Blatt ganz in der Nähe des bereits befallenen oder angenagten Gewebes angegriffen wird. Botenstoffe, die über die Leitbündel transportiert würden, wären u. U. sehr lange unterwegs und würden zu stark verdünnt. Daher setzen Pflanzen auf flüchtige Warnstoffe, die über den kürzeren Luftweg ans Ziel gelangen und dort prophylaktisch die Abwehr ankurbeln (Priming).

(Weitere Erläuterungen folgen im Buch.)

Hashimoto-Thyreoiditis und Morbus Basedow: neue Risikogenorte identifiziert

(Public domain, Wikimedia Commons)

Jason D. Cooper et al.: Seven newly identified loci for autoimmune thyroid disease.  Hum. Mol. Genet. 2012, doi: 10.1093/hmg/dds357 (Accepted manuscript, Open Access)

Zusammenfassung noch nicht allgemein verständlich aufbereitet

Abstract: Der ImmunoChip ist ein von zwölf Autoimmunforschergruppen und dem Wellcome Trust entwickelter Chip für die schnelle Durchmusterung von DNA-Proben auf 186 mit zwölf Autoimmunerkrankungen assoziierte SNPs (Einzelnukleotidpolymorphismen) und weitere von den Forschergruppen benannte „Kandidaten“ für Genorte, die mit den Erkrankungen assoziiert sein könnten. Hier wurden mit dem Chip 103.875 relativ häufige SNPs (Allelfrequenz mindestens 5 Prozent) aus 2285 Morbus-Basedow-Patienten, 462 Hashimoto-Patienten und 9364 Kontrollpersonen durchgetestet. Dabei wurden sieben neue Risiko-Genorte aufgespürt, von denen fünf auch mit anderen Autoimmunerkrankungen assoziiert sind.   Weiterlesen

Immunschwäche durch Autoimmunreaktion

Gamma-Interferon, Grafik von Nevit Dilmen, GNU Free Documentation License, Wikimedia

In der vergangenen Woche wurde unter anderem bei Spiegel Online über eine neue Aids-ähnliche Immunschwäche berichtet, die vor allem bei älteren Erwachsenen aus Thailand und Taiwan auftritt und nicht durch HIV-Viren ausgelöst wird, sondern durch Autoantikörper gegen das Zytokin Gamma-Interferon (IFN-γ).

Der Fachartikel ist nicht frei zugänglich, würde mir für mein Buch aber auch nicht weiterhelfen, da die Mechanismen, die zu der Autoimmunreaktion führern, noch völlig unklar sind. Aus dem Abstract geht hervor, dass 88 Prozent der Betroffenen, bei denen – ähnlich wie bei unbehandelten Aids-Patienten – zahlreiche opportunistische Infektionen auftreten, Autoantikörper im Serum haben, die das körpereigene Gamma-Interferon attackieren und ausschalten. Dieser wichtige Botenstoff wird bei bakteriellen Infektionen von Th1-Zellen ausgeschüttet, sobald sie Kontakt mit einer antigenpräsentierenden Zelle hatten (einem Makrophagen, der Bakterien oder Bakterienteile verschlungen hat). Er aktiviert weitere Makrophagen und löst die Herstellung antibakterieller Peptide aus. Durch seinen Ausfall können die Infektionen nicht richtig bekämpft werden.

Aufgrund der ähnlichen Symptome kann die Erkrankung leicht mit Aids oder mit Tuberkulose verwechselt werden. Da sie nicht familiär gehäuft auftritt, ist sie wohl nicht im engeren Sinne erblich. Warum sie aber bisher nur bei Asiaten nachgewiesen wurde, ist unklar. Wenn ich raten sollte: Vielleicht betreibt irgendein ansonsten harmloser Erreger, der vor allem in Asien auftritt, molekulare Mimikry mit Gamma-Interferon als „Vorlage“, sodass unsere gegen den Erreger gerichteten Antikörper bei entsprechender genetischer Prädisposition (z. B. bei bestimmten MHC-Varianten, die vielleicht auf Asiaten beschränkt sind) übers Ziel hinausschießen und auch das ähnlich strukturierte Gamma-Interferon angreifen.

Der Fall zeigt, dass Immunschwäche und Autoimmunerkrankungen, obwohl sie gewissermaßen entgegengesetzte Störungen (Unter- und Überreaktionen) des Immunsystems sind, einander nicht ausschließen: Eine Autoimmunreaktion kann, wenn sie sich ausgerechnet gegen eine andere Komponente des Immunsystems richtet, auch zu einer Immunschwäche führen.

Multiple Sklerose: Zelldegeneration primär, chronische Entzündung und Autoimmunreaktion sekundär?

Axon mit Myelinscheide im Querschnitt, CC BY-SA 3.0, http://en.wikipedia.org/wiki/User:Roadnottaken

Ehrlich gesagt habe ich es aufgegeben, bei Multipler Sklerose (MS) den Überblick über die Fachliteratur und die Diskussionen zu ihren Ursachen und Mechanismen zu behalten: Nach meinem Eindruck wird alle paar Wochen eine neue Sau durchs Dorf getrieben, und oft wird mir nicht klar, welche Studienergebnisse nun mit welchen Theorien zusammenpassen und was sich gegenseitig ausschließt. Aber wenigstens diesen Meinungsbeitrag möchte ich vorstellen – wie immer noch nicht allgemeinverständlich zusammengefasst:

 

Peter K. Stys et al.: Will the real multiple sclerosis please stand up? Nature reviews Neuroscience 13, Juli 2012, 507-514; doi: 10.1038/nrn3275

Die Autoren legen dar, warum MS in ihren Augen eine Kombination aus einer primären neurodegenerativen Erkrankung und einer durch diese ausgelösten (und sie evtl. verstärkenden) Autoimmunreaktion bzw. chronischen Entzündung ist. Die nicht entzündliche primär progrediente Form der MS (PP-MS) ist ihres Erachtens die „eigentliche“ MS, die entzündlichen Formen wie die schubförmig remittierende MS (RR-MS) sind auf sekundäre (wenngleich sehr wichtige) Reaktionen zurückzuführen.

MS gilt ihnen zufolge traditionell als Autoimmunerkrankung, bei der wild gewordene T-Zellen Elemente des zentralen Nervensystems, insbesondere Myelin, angreifen. In der Zerebrospinalflüssigkeit der Patienten ist für gewöhnlich oligoklonales Immunglobulin G nachweisbar, und transiente Läsionen im Magnetresonanzscan weisen auf Entzündungen und Zusammenbrüche der Blut-Hirn-Schranke hin. Biopsien: Perivaskuläre Entzündungsinfiltrate bestehen überwiegend aus T-Zellen und Makrophagen; das Myelin wird abgebaut; die Axone degenerieren. Neuere Belege: nicht nur weiße, auch graue Substanz (Neuronen und Synapsen) betroffen.

Allgemein wird angenommen, dass die Pathophysiologie mit Immundysregulation beginnt, die das ZNS schädigt (Outside-in-Modell). Das passt aber nicht zu allen Befunden. Die Autoren vergleichen MS mit anderen neurodegenerativen Krankheiten, die wie Alzheimer oder Parkinson Stoffwechselursachen haben und nicht mit auffälligen Entzündungsphasen einhergehen. Sie schlagen ein alternatives Inside-out-Modell vor und untersuchen, welche molekularen Strukturen bei MS ohne primäre Beteiligung des Immunsystems gestört sein könnten.  Weiterlesen