Allmählich hält die Ökosystemtheorie Einzug in die Immunologie. Immer mehr Forscher plädieren dafür, sich von der alten Kriegsmetaphorik zu verabschieden und die Wahrung der menschlichen Gesundheit eher wie die Pflege eines Naturschutzgebiets anzugehen: Bevor man Organismen bekämpft, sollte man wissen, welche Rollen sie im jeweiligen Ökosystem spielen. Sonst geht es uns mit unseren Symbionten und Kommensalen so wie mit der Vogelwelt auf so mancher Insel, auf der Katzen eingeführt wurden, um die Ratten in Schach zu halten. Womöglich ist genau das schon passiert, als wir in der ersten Welt bestimmte Würmer und Bakterien ausgerottet haben, die über Jahrhunderttausende auf und in uns lebten – mit der Folge, dass Autoimmunerkrankungen überhand nehmen.
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Frühwarn- und Entsorgungssysteme
Gar nicht so leicht für Parasiten und Pathogene, unbemerkt in uns einzudringen: Die Härchen auf unserer Haut verlängern die Zeit, die ein stechendes oder beißendes Insekt braucht, um eine geeignete Stelle zu finden, und warnen uns vor den Plagegeistern. Da die Körperflüssigkeiten von Insekten oft Pathogene enthalten, die durch Stiche und Bisse in unser Blut gelangen, kann man die Behaarung als Teil unseres Immunsystems ansehen.
Schädliche Bakterien, Würmer usw., die in unseren Verdauungstrakt eingedrungen sind, werden dort von zähen Substanzen aufgehalten, die die Schleimhaut absondert, und bei Bedarf zusammen mit größeren Schleimmengen hinausgespült.
Januswürmer
Hakenwürmer und andere Darmparasiten können einerseits unsere Gesundheit beeinträchtigen, da sie sich in der Darmschleimhaut festbeißen und von unserem Blut leben. Andererseits deutet einiges darauf hin, dass sie unser Immunsystem am Überschießen hindern, indem sie die Produktion regulatorischer T-Zellen (Tregs) anregen, die die Aktivität der T-Helfer- und -Effektorzellen hemmen.
Ausgewachsene Würmer sind einfach zu groß, als dass Antikörper oder Phagozyten etwas gegen sie ausrichten können. Daher regelt unser Körper bei einem chronischen Wurmbefall die Immunantwort, die mehr Schaden als Nutzen anrichten würde, nach einer Weile herunter. Der Mangel an Tregs im Körper von Menschen, die in einer parasitenarmen Umgebung aufwachsen, könnte eine Mitursache etlicher Autoimmunerkrankungen und autoentzündlicher Erkrankungen sein.
Die ökologische Perspektive: Auch unsere Plagegeister haben Plagegeister
Gestern war kein so produktiver Tag, was das Autoimmunbuch angeht. Abends sind dann doch noch zwei Skizzen fürs Einführungskapitel entstanden.
Nicht genug damit, dass unser Immunsystem ein furchtbar kompliziertes Netzwerk ist – die Wechselwirkungen enden auch nicht an unserer Haut. Vielmehr gehören wir Ökosystemen an, in denen zum Beispiel auch Krankheitserreger untereinander in Wechselwirkung treten. So kann es sein, dass ein Wurm, der sich in uns eingenistet hat, seinerseits von Parasiten befallen ist, in denen sich Bakterien tummeln, in denen Viren leben. Und sie alle haben im Lauf der Evolution Mechanismen hervorgebracht, um einerseits ihre Plagegeister unter Kontrolle zu halten und andererseits die Schutzmaßnahmen ihrer Wirte abzumildern:
Auch auf einer Hierarchiestufe dieser Babuschka-Netzwerke herrscht keineswegs Eintracht. Erreger unterschiedlicher Art (oder auch derselben Art, aber aus unterschiedlichen Stämmen oder in verschiedenen Entwicklungsstadien) machen sich beim Kampf um Ressourcen, also zum Beispiel um Lebensraum auf unserer Haut oder in unserem Verdauungstrakt, gegenseitig Konkurrenz:
Wie wir noch sehen werden, paktieren einige Erreger sogar mit dem Feind (in Gestalt unseres Immunsystems), um lästige Neuankömmlinge auszuschalten, die sich auch noch einen Claim abstecken wollen. Wenn wir im Zuge verbesserter Hygienemaßnahmen, Wurmkuren usw. diese vermeintlichen Gegner ausschalten, die tatsächlich im Lauf der Evolution zu Verbündeten geworden sind, kann unser Immunsystem aus dem Lot geraten und körpereigenes Gewebe angreifen.
Besetzungsliste: die „bad guys“
Das Immunsystem und seine Störungen kann man meines Erachtens nur aus einer ökologischen und evolutionsbiologischen Perspektive verstehen. Die Immunantwort hängt unter anderem davon ab, wer sich da in unserem Körper einzunisten versucht:
Oben links: verschiedene Bakterien; oben rechts: die im Buch immer wieder auftauchenden Bakterien-Karikaturen.
Zweite Reihe, links: verschiedene Viren, deren Hüllen oft geometrische Formen haben. Rechts daneben: meine Viren-Symbolbildchen – ganz rechts (Konservendose) eine geöffnete Hülle.
Dritte Reihe: Pilze und einzellige Parasiten (Entamoeba histolytica, der Erreger der Amöbenruhr, und der Malaria-Erreger Plasmodium). In all meinen Zeichnungen deutet ein Kreis oder Oval in der Mitte einer Zelle (Zellkern) auf einen Eukaryoten hin. Das gilt nicht nur für zellulären Erreger, sondern auch für unsere Immun- und sonstigen Körperzellen.
Unten ein Wurm, genauer: ein Hakenwurm. Die „Mikroskopaufnahme“ im Kreis zeigt, dass auch dies ein Eukaryot ist.
Umwelt oder Gene: eine falsche Alternative
Immunologische Meldungen des VBIO, 12/2011 bis 01/2012
Nachzutragen sind noch die verlinkten Überschriften einiger älterer VBIO-Meldungen aus den vergangenen Monaten:
Wie Cortison bei der Behandlung von Rheumatoider Arthritis wirkt
Neuer Auslöser von chronischen Darmentzündungen entdeckt
Makrophagen sind Teil eines unbekannten Immunsystems
Anti-bakterielle Immunantwort: Bisher unbekanntes Molekül charakterisiert
Antipsychotika können die Aktivität endogener Retroviren beim Menschen verstärken
Grundlage für neue Entzündungshemmer
Infektionsbiologen entdecken therapeutisches Potenzial von Wurmparasiten
Schließen Autoimmunerkrankungen und Allergien einander aus? Teil 3
Nachdem die Autoren der beiden bereits vorgestellten Studien zu diesem Thema zu dem Schluss gelangten, dass zumindest einige Allergien einen gewissen Schutz vor Autoimmunerkrankungen darstellen, wird es Zeit für einen Dämpfer: Wie in beiden Studien erwähnt, fanden andere Forscher keine belastbaren negativen Korrelationen zwischen diesen beiden Erkrankungstypen. Im Jahr 2011 erschien ein Review-Artikel, in dem die Frage durch eine Metaanalyse (eine systematische Zusammenführung der Ergebnisse mehrerer Einzelstudien) beantwortet werden sollte. Hier die Zusammenfassung – wie immer: noch nicht allgemein verständlich aufbereitet. Dazu werde ich demnächst einen kleinen Zeichentrickfilm drehen.
L. Monteiro et al., Association between allergies and multiple sclerosis: a systematic review and meta-analysis. Acta Neurol Scand 2011, 123/1: 1–7. DOI: 10.1111/j.1600-0404.2010.01355.x
Abstract: Multiple Sklerose (MS) ist eine Th1-dominierte Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems. Die vorliegende systematische Übersicht und Metaanalyse soll die umstrittene Beziehung zwischen MS und Allergien klären. Alle entsprechenden klinischen und epidemiologischen Studien, die bis zum Juli 2009 veröffentlicht wurden, sollten auf ihre Tauglichkeit für eine Einbeziehung in die Metaanalyse untersucht werden. Von 1010 gefundenen Artikeln wurden schließlich 10 Studien in der Analyse zusammengefasst. Das Ergebnis: Es gibt keine signifikante Assoziation zwischen MS und Allergien (odds ratio: 0,91; Konfidenzintervall 95%: 0,98-1,23), Asthma (OR: 0,83, KI: 0,48-1,44), allergischer Rhinitis (Heuschnupfen, OR: 0,81, KI: 0,59-1,12) oder Ekzemen (OR: 0,93, KI: 0,71-1,23). Weiterlesen
Literaturliste zur Alte-Freunde-Hypothese, Teil 2
(Teil 1 und Erläuterung des Zwecks hier; die Listen sind alphabetisch sortiert, die Zuordnung der Artikel zu Teil 1 oder 2 ist zufällig)
Bager, Peter, et al.: Symptoms after Ingestion of Pig Whipworm Trichuris suis Eggs in a Randomized Placebo-Controlled Double-Blind Clinical Trial. PLoS ONE 6(8): e22346, 2011. doi: 10.1371/journal.pone.0022346
Trichuris suis, TSO, CED, Tregs, Zytokine, Heuschnupfen, allergische Rhinitis, Asthma, Hakenwürmer, klinische Studie, Magen-Darm-Trakt, Gastrointestinaktrakt, Magen-Darm-Beschwerden, Eosinophilie, IgE, IgG, IgA, Bauchschmerzen, Flatulenz, Diarrhoe, Fragebogen
Bilbo, Stacy D., et al.: Reconstitution of the human biome as the most reasonable solution for epidemics of allergic and autoimmune diseases. Medical Hypotheses, Volume 77, Issue 4, October 2011, Pages 494-504. doi: 10.1016/j.mehy.2011.06.019
Würmer, Humanbiom, Immunsuppression,Entzündungen, Selbst, Nicht-Selbst, Multiple Sklerose, MS, Typ-1-Diabetes, Allergien, Immunsystem als Schnittstelle zur Umwelt, Bakterienflora, Pathogene, Mutualismus, Parasitismus, Kiefermäuler, Evolution, Wirbeltiere, Koevolution, Klima, sozioökonomischer Status, >340 Würmerarten befallen Menschen, präindustrielle Kulturen, Primaten, Depleted Biome Theory, Heuschnupfen, Hygiene-Hypothese, sanitäre Anlagen, Toiletten, Epigenetik, Trichuris suis, Colitis, Zytokine, CED, Stress, Autismus, Schizophrenie, Epidemiologie, MHC II, Altern, Neuronen, Tiermodelle, postindustrielle Gesellschaft, Fetus, Muttermilch, Laborratten, wilde Ratten, Biomrekonstitution, transgene Würmer, Therapie, Domestikation von Würmern Weiterlesen
Literaturliste zur Alte-Freunde-Hypothese, Teil 1
Für meinen Spektrumdirekt-Artikel über die Selbstinfektion mit Darmparasiten (jetzt auch hier nachzulesen) und für das entsprechende Kapitel im Autoimmunbuch habe ich in den letzten Monaten etliche Fachartikel über die sog. Old-friends-Hypothese gelesen, der zufolge Würmer und andere Parasiten im Laufe ihrer Koevolution mit uns wichtige Funktionen in der Immunabwehr übernommen haben und dem Immunsystem jetzt fehlen. (Diese Hypothese ist die Nachfolgerin der Hygiene-Hypothese, der zufolge die Zunahme der Autoimmunerkrankungen und vor allem Allergien in den letzten Jahrzehnten auf die fehlende Konfrontation mit Krankheitserregern im Kindesalter zurückzuführen sei.)
Mir fehlt die Zeit, all diese Artikel hier ausführlich vorzustellen; andererseits muss ich mir das Material so erschließen, dass ich beim Schreiben des Kapitels schnell die richtigen Zitate und Informationen finde. Daher liste ich die Arbeiten einfach alphabetisch auf und versehe sie mit Schlagwörtern: nicht schön, aber hoffentlich praktisch. Wenn der entsprechende Artikel frei zugänglich ist, hinterlege ich den Titel mit einem Link. (Teil 2: hier) Weiterlesen