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Selbst-Erkenntnis auf dem Schneckenhaus

#NaNoWriMo22, Tag 3

Im Oktober berichtete Sophie Fessl in The Scientist von einer neu erschienenen Forschungsarbeit aus dem Team um Matthew L. Nicotra. Dem Bericht zufolge sind Immunglobuline wohl viel früher entstanden sind, als man bisher glaubte. Was  heißt das genau, warum interessiert mich das, und was ist daran wirklich neu?

Was sind Immunglobuline?

Immunglobuline im engeren Sinne sind Antikörper und B-Zell-Rezeptoren, die wiederum nichts anderes sind als Antikörper mit einem etwas längeren „Stiel“, der sie in der Zellmembran verankert. Diese Proteine dienen der hochspezifischen Erkennung von Antigenen (daher „Anti“), und sie sind kompakt, fast kugelig gebaut (daher „Globulin“, man denke an Globus). Sie enthalten mehrere Immunglobulin-Domänen: Aminosäuresequenzen oder Proteinstrangabschnitte, die sich zu zwei sandwichartig angeordneten blattartigen Strukturen zusammenlagern. Es gibt sogenannte konstante und variable Immunglobulin-Domänen. Die konstanten Domänen bilden zum Beispiel die Stiele der Antikörper, die variablen dagegen die Antigen-Erkennungsstellen (hier mit Pfeilen markiert).

Was ist die Immunglobulin-Superfamilie?

Die Immunglobuline haben eine weitläufige Verwandtschaft: Proteine, die ebenfalls Immunglobulin-Domänen enthalten und allesamt der Oberflächen-Erkennung dienen. Viele von ihnen sind in der Zellmembran verankert und suchen gewissermaßen das direkte Umfeld der Zelle nach passenden Bindungspartnern ab. Zu dieser Großfamilie, der sogenannten Immunglobulin-Superfamilie, zählen zum Beispiel die T-Zell-Rezeptoren, die Haupthistokompatibilitätskomplexe (MHC Klasse I und MHC Klasse II) und etliche Co-Rezeptoren wie CD-8, also viele Proteine, die Funktionen im Immunsystem haben.

Kein Wunder, geht es bei der Abwehr doch oft darum, ganz spezifisch an eine andere Zelle oder ein großes Molekül zu binden, um dieses im nächsten Schritt auszuschalten. Es gibt aber auch andere Gründe, hochspezifisch zwischen eigenen und fremden Zellen zu unterscheiden – eine Fähigkeit, die man Allorecognition, also Fremd-Erkennung nennt. Zum Beispiel kann ein Tier oder Pilz so geeignete Paarungspartner identifizieren, und Blütenpflanzen können eine Selbstbefruchtung, also eine Fusion einer Eizelle mit einer Samenzelle derselben Pflanze verhindern. In diesem Fall ist also – anders als bei der Immunabwehr – das Fremde das Gute und das Identische das Schlechte, denn die sexuelle Fortpflanzung dient ja gerade der genetischen Durchmischung.

Wie lebt das Nesseltier Hydractinia?

Das Forschungsteam um Nicotra untersucht seit längerem ein unscheinbares Nesseltier namens Hydractinia symbiolongicarpus, Die Nesseltiere, zu denen beispielsweise die Quallen und Korallen gehören, haben einen radiärsymmetrischen, z. B. glocken- oder schlauchförmigen Körperbau und nur zwei sogenannte Keimblätter, aus denen sich während der Embryonalentwicklung die Organe und Schichten des Organismus aufbauen. Sie unterscheiden sich also ganz grundlegend von den sogenannten Bilateria oder Zweiseitentieren, die aus drei Keimblättern aufgebaut sind und eine Rücken- und eine Bauchseite haben. Zu diesen zählen beispielsweise wir Säugetiere, aber auch Fische, Mollusken oder Manteltiere. Der letzte gemeinsame Vorfahr der Nessel- und der Zweiseitentiere lebte vor mindestens 600, vielleicht aber auch vor weit über 700 Millionen Jahren – und hatte vermutlich nur zwei Keimblätter.

Hydractinia symbiolongicarpus lebt im Meer und besteht aus einem Geflecht von Röhren, die auf dem Untergrund festgewachsen sind und eine Matte bilden, aus der einzelne sogenannte Hydranthen oder Polypen herausragen, die ein bisschen wie Mini-Seeanemonen aussehen oder wie die Süßwasserpolypen, die wir als Kinder aus Tümpeln gefischt und unter der Lupe beobachtet haben. (Kein Wunder: Beides sind ebenfalls Nesseltiere.) Wie auch bei den Korallen oder Anemonen hat Hydractinia frei schwimmende Larven, die sich in eine festsitzende, mattenbildende Form umwandeln, sobald sie einen passenden Untergrund gefunden haben.

Der Untergrund, auf dem die Matten wachsen, ist typischerweise ein Schneckenhaus – und zwar eines, in dem ein Einsiedlerkrebs lebt. Lebende Schnecken würden eine solche Besiedlung ihrer Gehäuse nicht dulden; den Krebsen ist das egal: Der Bewuchs wiegt nicht viel. Die Nesseltier-Kolonien lassen sich also von den Krebsen herumtragen, filtern mit ihren Tentakeln Nahrung aus dem Meerwasser und wachsen, indem sie am Rand der Matte weitere Röhrchen und Polypen aufbauen.

Dabei kann es passieren, dass ein Rand einem anderen begegnet – entweder, weil eine Matte einmal um das Schneckenhaus herumgewachsen ist (Skizze oben), oder weil sich zwei Organismen auf  demselben Schneckenhaus angesiedelt haben (Skizze unten).

Im ersten Fall verschmelzen die beiden Ränder, im zweiten Fall kommt es nach kurzem „Beschnuppern“ zu einer heftigen Abstoßungsreaktion, die einen der Ränder – wenn nicht gar den ganzen unterlegenen Organismus – zum Absterben bringt.

Wozu braucht es einen Gewebeverträglichkeits-Check?

Hier noch einmal die Abfolge der Ereignisse, bei denen Proteine mit Immunglobulin-Domänen eine Schlüsselrolle spielen, indem sie dem Organismus verraten, ob er da gerade sich selbst oder einem genetisch unterschiedlichen Artgenossen begegnet ist.

Zunächst die Begegnung auf einem noch nicht bewachsenen Teil des Schneckenhauses:

Dann die Reaktion: entweder Angriff …

… oder weitere Annäherung und Verschmelzung mit dem anderen Rand desselben Organismus:

Warum aber ist es den Hydractinien so wichtig, andere Organismen zu bekämpfen? Kann man sich nicht einfach das Schneckenhaus teilen und eine Grenze aushandeln, wie gute Nachbarn? Die Antwort heißt Stamm- oder Keimzellenparasitismus: Wenn sich die Gelegenheit bietet, schmarotzt einer der verschmelzenden Organismen auf den Beiträgen des anderen zum Stoffwechsel und zum Struktur-Aufbau. Er steckt seine Energie ganz in die Produktion von Keimzellen, um seine Gene in der nächsten Generation durchzusetzen – auf Kosten des anderen Organismus, der schuftet, aber kaum Nachwuchs hervorbringen kann. Nur wenn beide Ränder zur selben Kolonie gehören und ihre Zellen dieselben Gene in sich tragen, ist eine Fusion risikolos – ja vorteilhaft, um den begrenzten Platz auf dem Schneckenhaus voll auszuschöpfen.

Haben unsere Gen-Datenbanken blinde Flecken?

Das Forschungsteam hat nun das Genom von Hydractinia symbiolongicarpus komplett sequenziert. Über zwei schon länger bekannte Vertreter der Immunglobulin-Superfamilie hinaus, die banalerweise Allorecognition 1 und Allorecognition 2 heißen, haben sie dabei zahlreiche weitere, ähnliche Gene gefunden. Zusammen bilden sie einen Allorekognitionskomplex (ARC), der an den Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) der Wirbeltiere erinnert. Und wie im MHC sind zumindest einige dieser Gene extrem polymorph; sie unterscheiden sich also von Individuum zu Individuum ein wenig. Zusammen bilden die Immunglobulin-Genvarianten eines Individuums so etwas wie eine eindeutige Personenkennung. Und so, wie diese unterschiedlichen Signaturen bei uns Menschen zu Abstoßungsreaktionen nach einer Organtransplantation führen, lösen sie bei den Hydractinien eine Abstoßung zwischen zwei Organismen aus, die sich auf einem Schneckenhaus begegnen.

Die Forscher*innen waren aber zunächst unsicher, ob die von ihnen entdeckten Proteine wirklich Immunglobulin-Domänen enthalten. Denn die DNA-Sequenzen im Genom und folglich auch die in ihnen codierten Aminosäuresequenzen hatten nur wenig mit den Immunglobulin-Domänen anderer Tiere in den großen Genomdatenbanken gemeinsam.

Erst als das Team von dem Google-Programm AlphaFold die Sequenzen in dreidimensionale Proteinknubbel umrechnen ließ, wurde klar: Ja, das sind wirklich Immunglobulin-Domänen. Wenn wir uns die Proteine als Schlüssel vorstellen, so sind die Datenbanken voll mit Schlüsseln nach dem oberen der beiden folgenden Baupläne:

Sieht man sich nur die jeweils vier Bestandteile der Schlüssel an, so erkennt man kaum eine Gemeinsamkeit. Erst wenn man die Teile richtig zusammensetzt (so, wie AlphaFold das mit den Nesseltier-Proteinen gemacht hat), erkennt man, dass beide Gebilde dieselbe Funktion haben: Beide haben vorne einen Bart, der in dasselbe Schloss passt.

Die Autor*innen  warnen daher davor, den Gen-Datenbanken blind zu vertrauen, wenn man nach entfernten Verwandten oder Vorformen bestimmter Gene und Proteine sucht: In den Daten sind Organismen, die uns selbst ähneln, stark überrepräsentiert. Spuckt ein Datenbank-Abgleich neu sequenzierter Gene aus nur sehr entfernten verwandten Lebensformen wie den Nesseltieren keinen Match aus, kann man daraus nicht ableiten, dass die Gene nicht auf eine gemeinsame Urform zurückgehen oder die Proteine nicht dieselbe Funktion haben.

Was heißt das für die Evolution des Immunsystems – und der Autoimmunstörungen?

Diese Wirbeltierlastigkeit der Datenbanken macht es schwer, das früheste Auftreten von Neuerungen im Immunsystem zu rekonstruieren. Hinzu kommt, dass Immunglobulin-Domänen unterschiedliche Funktionen übernehmen können, auch solche außerhalb des Immunsystems. Und vielleicht gibt es wirklich keinen gemeinsamen Urahn der Nesseltier- und Wirbeltier-Immunglobulin-Domänen, sondern diese wurden unabhängig voneinander zweimal „erfunden“, weil ihre Gestalt für die Aufgabe der raschen und genauen Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Zellen oder Zellprodukten unschlagbar gut geeignet ist.

Die meisten Vertreter der Immunglobulin-Superfamilie in unserem Körper übernehmen Aufgaben in der erworbenen oder adaptiven Abwehr, die erst mit den Fischen vor etwa 500 Millionen Jahren aufgekommen ist. Einige sind aber auch der stammesgeschichtlich älteren angeborenen Abwehr zuzurechnen, etwa Zytokin-Rezeptoren oder Rezeptoren der natürlichen Killerzellen. Insofern ist es nicht unplausibel, dass die Immunglobulin-Domäne schon vor der Aufspaltung zwischen den Nesseltieren und den Zweiseitentieren entstanden ist.

Mich hätte interessiert, ob den Nesseltieren bei der Allorekognition auch Fehler unterlaufen: Kommt es vor, dass eine Hydractnie sich selbst attackiert, weil ihre Immunglobulin-Domänen zum Beispiel falsch gefaltet sind und daher eigenes Gewebe irrtümlich für fremdes halten? Dazu habe ich keine Informationen gefunden. Allorekognitionssysteme sind bei Nicht-Wirbeltieren recht weit verbreitet, aber wie präzise sie arbeiten und ob es bei ihnen Störungen gibt, die unseren Autoimmunerkrankungen ähneln, ist wohl offen. Es kann schon sein, dass solche Pannen vorkommen, denn Nicotra und sein Team haben Indizien dafür gefunden, dass eine Abstoßung nach einer Begegnung zweier Kolonieränder gewissermaßen das Standardprogramm ist, das nur dann abgebrochen wird, wenn die Zellen einander als Teile desselben Organismus erkennen.

Wie tief reichen die Wurzeln?

Als ich mich gestern daran machte, diesen Blogartikel zu schreiben, hat mich eine Information aufgehalten, die die ganze Argumentation im eingangs erwähnten Bericht in The Scientist infrage zu stellen droht: Offenbar haben sogar Hefen, also wirklich nur ganz, ganz entfernt mit uns verwandte Lebewesen, die zu den Pilzen zählen, Erkennungsproteine mit Immunglobulin-Domänen – oder zumindest Domänen, die diesen sehr ähnlich sind. Die Proteine heißen Agglutinine und spielen eine Rolle beim Hefe-Sex, bei dem sich zwei unterschiedliche Fortpflanzungszellen finden müssen: solche, die a-Agglutinin an ihrer Oberfläche tragen, und solche, die α-Agglutinin exprimieren.

Gestern habe ich aufgegeben. Heute scheint mir, dass die Verwirrung nicht nur bei mir herrscht, sondern auch in der Wissenschaft: Was ist ein Immunglobulin im engeren Sinne? Was macht ein vollwertiges Mitglied der Immunglobulin-Superfamilie aus? Und was ist diesen Proteinen bzw. Proteindomänen nur homolog, also ähnlich, aber lediglich entfernt mit ihnen verwandt? Die Grenzen scheinen mir noch nicht endgültig ausgehandelt zu sein.

Und so bleibt bis auf Weiteres offen, ob die stammesgeschichtlichen Wurzeln der Immunglobuline, die sowohl an unserer intakten Abwehr als auch an unseren Autoimmunstörungen maßgeblich beteiligt sind, nun bei den frühen Wirbeltieren, bei den noch früheren ersten Chordatieren, bei den noch früheren ersten Zweiseitentieren, bei den uralten gemeinsamen Vorfahren der Nessel- und der Zweiseitentiere oder sogar ganz am Grunde des gesamten Eukaryoten-Stammbaums liegen.

CRISPR-Cas: weit mehr als die erworbene Abwehr der Prokaryoten

Vor gut 10 Jahren habe ich hier die Funktionsweise von CRISPR-Cas erklärt, dem erworbenen oder adaptiven Immunsystem der Bakterien und Archäen. Schon damals war bekannt, dass  Prokaryoten-Zellen beim versehentlichen Einbau von Sequenzen aus dem eigenen Erbgut anstelle von Viren-Sequenzen an Autoimmunreaktionen sterben können. Und schon damals wurde die Frage gestellt, ob der Einbau eigener Sequenzen nicht auch andere Folgen, ja regelrechte Funktionen haben kann, etwa die Regulierung der Ablesung eigener Gene.

Heute ist in nature microbiology eine Arbeit erschienen, in der dies am Beispiel des Typ-IV-CRISPR-Cas-Systems des Bakteriums Pseudomonas oleovorans nachgewiesen wird. Der Artikel steckt hinter einer Bezahlschranke, aber das Manuskript ist an anderer Stelle frei zugänglich. Die Funktion der Typ-IV-Systeme waren der Forschung lange ein Rätsel, denn sie können fremde Nukleinsäuren, also virale Eindringlinge gar nicht zerschneiden. Nun zeigt sich, dass die spezifischen Erkennungssequenzen an bakterieneigene Gene binden und so deren Transkription unterdrücken – siehe Pressemitteilung beim idw.

Einen guten Überblick über die Vielfalt möglicher CRISPR-Cas-Funktionen jenseits der erworbenen Viren-Abwehr bietet eine frei zugängliche und mit anschaulichen Schemazeichnungen ausgestattete Übersichtsarbeit von Devi et al. (2022): CRISPR-Cas systems: role in cellular processes beyond adaptive immunity.

Lupus: Behandlungserfolge mit CAR-T-Zellen

Therapien interessieren mich ja nun überhaupt nicht, zumindest nicht für Band 2 des Autoimmunbuchs. Dennoch möchte ich kurz auf diese gute Nachricht vom 16. September hinweisen:

Den Reset-Knopf drücken: Wie sich eine Autoimmunerkrankung auflöst (PM der Uni Erlangen)

A. Mackensen et al.: Anti-CD19 CAR T cell therapy for refractory systemic lupus erythematosus (das Paper in nature medicine, nur Abstract frei lesbar)

Erfolg bei CAR-T-Zelltherapie gegen Lupus (Expertenstimmen, eingesammelt vom Science Media Center)

Das Ende des Horrors (Bericht in der SZ aus dem Jahr 2021)

Die CAR-T-Zell-Therapie kommt nur bei wirklich schweren Autoimmunerkrankungen infrage, die man auf anderem Wege nicht in den Griff bekommt. Zum einen ist sie unglaublich aufwändig und kostspielig. Zum anderen werden hier mal eben alle CD19-exprimierenden B-Zellen im Körper platt gemacht. Die fünf SLE-Patient*innen haben das offenbar gut vertragen und sind dem Tod vorerst von der Schippe gesprungen – aber ohne Not tut man so etwas nicht.

Dennoch: ein Durchbruch. Womöglich erleben wir gerade das Ende der Ära, in der Autoimmunerkrankungen per se als unheilbar galten.

Antigen-präsentierende Zellen spenden T-Zellen ihre Telomere

Telomere und ihre Rolle bei der Alterung (Seneszenz) von Immunzellen habe ich im Blog schon öfter thematisiert, denn ihre Verkürzung bei jeder Zellteilung könnte einer der Faktoren sein, die bei älteren Menschen zum Ausbruch von Autoimmunerkrankungen beitragen. Jetzt gibt es sensationelle Neuigkeiten:

Lanna, A., Vaz, B., D’Ambra, C. et al. An intercellular transfer of telomeres rescues T cells from senescence and promotes long-term immunological memory. Nat Cell Biol (2022). https://doi.org/10.1038/s41556-022-00991-z

Bei Nature in der Artikel nur in einer Leseansicht ohne Markierungs- und Download-Funktion verfügbar, aber das Manuskript ist bei biorxiv zu finden. Frei zugänglich ist auch die Meldung bei The Scientist: T Cells Ward Off Aging with Help from Their Friends

Abstract: T-Zellen sollen nach bisheriger Vorstellung ihre Alterung aufhalten durch Telomerase, die ihre Telomere wieder verlängert (s. Nothing in Oncology Makes Sense Except in the Light of Evolution). Die Autor*innen zeigen hier: Vor allem naive T-Zellen und zentrale Gedächtnis-T-Zellen nehmen Telomer-Vesikel von APCs auf und verlängern ihre Telomere so ohne Telomerase-Aktivität. Bei Kontakt bauen APCs Shelterin ab; ihre Telomere werden vom Trimming-Faktor TZAP abgeschnitten und an der Immun-Synapse in extrazelluläre Vesikel verpackt. Diese enthalten auch den Rekombinationsfaktor Rad51, der die Fusion mit Enden der T-Zell-Telomere bewirkt. Die antigenspezifischen T-Zellen empfangen die Telomerverlängerungen (im Mittel ca. 3000 Basenpaare) vor ihrer klonalen Expansion, was zu langfristiger Immunität führt.

Intro: Telomere = TTAGGG-Wiederholungen. Bei kurzen Telomere von < 4kb lässt die Teilungsfähigkeit nach (replikative Seneszenz). Bei vielen Alterskrankheiten und Krebs werden kurze Telomere beobachtet. Zellen können die Verkürzung mit oder ohne Telomerase aufhalten. – Immunologische Synapsen dienen der Kommunikation zwischen APCs und Lymphozyten, initiieren Immunreaktionen, die zu langlebigen Gedächtnis-T-Zellen führen. Eine Synapse aktiviert die Telomerase in der T-Zelle zunächst; mehrfache synaptische Interaktion zieht aber einen Aktivitätsrückgang nach sich und damit die Seneszenz der T-Zelle, ein Nachlassen des immunologischen Gedächtnisses, u. U. also mehr Infektionen, Krebs, Tod. Telomerase allein kann also die T-Zell-Seneszenz letztlich nicht verhindern. Wenn T-Zellen aber Telomere aus APCs empfangen, werden sie zu Stammzell-ähnlichen und/oder zentralen langlebigen Gedächtniszellen, während andere T-Zellen altern und sterben. Die APCs entscheiden also bei der ersten Synapse über das Schicksal der T-Zellen.

Ergebnisse: Das Team hat eine Verlängerung von T-Zell-Telomeren und gleichzeitige Verkürzung von APC-Telomeren beobachtet, in Gegenwart von Antigenen aus Epstein-Barr-Virus-, Influenza-Virus- und Cytomegalovirus-Lysaten. Das klappt auch in T-Zellen ohne Telomerase (Knock-out), kann auch nicht auf alternativem Telomer-Verlängerungs-Mechanismus per Rekombination und DNA-Synthese beruhen, weil sich die T-Zellen noch gar nicht teilten. Gelabelte Telomer-DNA aus den APCs tauchte später in den T-Zellen auf; damit war die Herkunft belegt. TCR-besetzte planare Lipiddoppelschichten lösen die Telomer-Freisetzung aus den APCs ebenso gut aus wie komplette T-Zellen. Außer TCR sind auch Anti-CD3 und Antigene auf den APC-MHC-Komplexen nötig. Die APCs sterben nicht nach Telomer-Angabe, zeigen auch kein Blebbing. Myeloide APCs (dendritische Zellen und Monozyten) geben am meisten Telomere ab, B-Zellen weniger. Die Vesikel enthalten außer Telomeren auch Histokompatibilitäts-Antigen-Proteine sowie TZAP (telomeric zinc-finger associated protein), ein telomerbindendes Protein, das die terminalen Enden von Chromosomen beschneidet (Telomer-Trimming) und fürs Abschneiden und Verpacken der Telomere nötig ist. Damit TZAP an die Telomere binden kann, muss das Shelterin herunterreguliert und abgebaut werden, das die Telomere normalerweise stabilisiert und vor DNA-Reparaturmechanismen beschützt. Die Vesikel enthalten auch Rad51, einen homologen Rekombinationsfaktor, der an der Telomer-Verlängerung beteiligt ist und für den Anbau der gestifteten Telomere in den T-Zellen nötig ist. In Mäusen wandern die T-Zellen mit den APC-verlängerten Telomeren rasch in Langzeit-Überlebensnischen wie Milz und Lymphknoten; im Blut sind sie kaum zu finden.
Influenza-Impf-Experiment: Mäusen wurden antigenspezifische, geprimete T-Zellen mit APC-verlängerten oder mit nicht verlängerten Telomeren injiziert; die Kontrollgruppe erhielt keine solchen T-Zellen. Entweder 18 Stunden oder 15 Tage nach der Injektion wurden die Tiere mit Influenza infiziert. Ungeimpfte Mäuse starben alle rasch; mit unveränderten Telomer-T-Zellen wurde die frühe Infektion gut abgewehrt (alle Tiere überlebten), die späte Infektion aber nicht (alle Tiere starben im Lauf einige Tage), weil kein Gedächtnis ausgebildet wurde. Mäuse mit T-Zellen mit APC-verlängerten Telomeren überlebten sowohl eine frühe als auch eine späte Infektion; das immunologische Gedächtnis reichte aus.

Diskussion: Es gibt auch andere Pfade zu Gedächtnis-T-Zellen, teils von naiven T-Zellen ausgehend, teils nach Effektor-Tätigkeit durch Umschalten von Glykolyse auf oxidative Phosphorylierung. Vermutung: Die Antigenstärke könnte die Menge der übertragenen Telomere und damit die Zahl der möglichen nachfolgenden Zellteilungen beeinflussen. Aber auch bei identischen Antigenen hat ein Großteil der T-Zellen keine Telomere aufgenommen; sie blieben kurzlebige Effektorzellen. T-Zellen sollen nach wiederholter Antigenstimulation seneszent werden; stark ausdifferenzierte Effektor-T-Zellen können ihre Telomerase nicht weiter aktivieren; ihre Proliferation lässt nach -> lineare Seneszenz. Alternatives Modell: Die Unfähigkeit, während der Antigenstimulation APC-Telomere zu empfangen, besiegelt schon das Schicksal der T-Zellen -> Seneszenz. Nach Auflösung der Synapse startet die massive Proliferation; jetzt kommt die Telomerase hinzu, die an alle Chromosomen pro Teilung ca. 100-200 bp anhängt. Ein Telomer-Transfer verlängert dagegen bestimmte, vermutlich sehr kurze, Telomere um ca. 3000 bp noch vor den Zellteilungen. Vermutlich ist der Telomer-Transfer das schon länger postulierte Signal, von dem die terminale Differenzierung der T-Zellen abhängt. Unklar bleibt, wonach sich entscheidet, ob eine T-Zelle die Telomere einbauen kann. – Darüber hinaus kann es weitere Wege zur Bildung von Gedächtniszellen geben, etwa eine Dedifferenzierung von Effektorzellen, sodass sie ebenso Stammzell-ähnlich werden wie die Gedächtniszellen mit den APC-Telomeren.

Abb. 8: Versuchsdesign mit Absterben der grippeinfizierten Mäuse ohne injizierte T-Zellen mit verlängerten Telomeren während der Gedächtnis-Phase; in der Effektorphase haben die Tiere eine Infektion noch überlebt. Mäuse mit injizierten T-Zellen mit verlängerten Telomeren überleben auch eine späte Infektion während der Gedächtnis-Phase, weil die T-Zellen so lange leben. Außerdem Illustration der Synapse mit Vesikeltransfer und Telomerfusion.

 

Literatur-Links bis Oktober 2020

Um endlich einige Browser-Tabs schließen und Lesezeichen löschen zu können, notiere ich hier Hinweise auf neuere Arbeiten zum Immunsystem, zu seiner Evolution, zu Autoimmunstörungen und (unvermeidlich!) zu COVID-19. Das meiste habe ich selbst noch nicht  komplett gelesen; daher verzichte ich vorerst auf allgemeinverständliche Zusammenfassungen und überwiegend auch auf Bewertungen. Die Links gehen teils zu Sekundärliteratur, teils zu den Forschungsarbeiten selbst.

 

Mikrobiom, Humanpathogene:

Ruth Williams (2020): Fecal Transfer from Moms to Babies After C-Section: Trial Results – „Tiny doses of maternal poo mixed with breast milk and given to Cesarean-born infants makes their gut microbiota resemble those of babies born vaginally.“ – Zu K. Korpela et al., “Maternal fecal microbiota transplantation in cesarean-born infants rapidly restores normal gut microbial development: a proof-of-concept study” – Man fragt sich, warum das nicht schon vor Jahren geklärt wurde. Um Kommissar Wallander zu zitieren: „Dann wissen wir das.“

L. H. Morais et al. (2020): The gut microbiota–brain axis in behaviour and brain disorders – Review aus der Mazmanian-Gruppe

C. L. Vernier et al. (2020): The gut microbiome defines social group membership in honey bee colonies

S. Duchêne et al. (2020): The Recovery, Interpretation and Use of Ancient Pathogen Genomes

Ann Gibbons (2020): Newly discovered viruses suggest ‘German measles’ jumped from animals to humans

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Immunreaktionen auf SARS-CoV-2

Eigentlich wollte ich mich bei Twitter und hier im Blog nicht über COVID-19 äußern, weil ich meiner Meinung nach zu wenig Ahnung davon habe. Mehr Ahnung als die allermeisten, die sich keinerlei Zurückhaltung auferlegen, aber eben doch zu wenig, um etwas Sinnvolles zur Verbesserung der Lage beizutragen.

Das habe ich schon bei Twitter nicht ganz durchgehalten. Und inzwischen gibt es erste Berichte, die in mein Wissensgebiet fallen und die ich daher kurz einordnen möchte: Man hat untersucht, wie das Immunsystem von Patient*innen auf eine SARS-CoV-2-Infektion reagiert. Ich gehe hier zum einen auf eine Besonderheit bei der Antikörper-Produktion ein, die kürzlich im Ärzteblatt mitgeteilt wurde, und zum anderen auf die Nachricht, dass Kuba mit seiner Interferon-alpha-2b-Produktion anderen Ländern bei der Behandlung der Betroffenen helfen will, wie die taz am 20. März berichtete.

Zunächst zu den Antikörpern oder Immunglobulinen. Das sind Proteine, die von B-Lymphozyten (Zellen der sogenannten erworbenen Abwehr) hergestellt werden. Sie erkennen und binden hochspezifisch bestimmte Antigene, also Bestandteile von Krankheitserregern, hier von den Coronaviren. Jeder B-Lymphozyt kann genau ein Antigen erkennen und bekämpfen, mit dem seine Rezeptoren und später seine Antikörper nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip zusammenpassen. Die zu den Viren passenden B-Lymphozyten brauchen ein paar Tage, bis sie von anderen Zellen des Immunsystems ausfindig gemacht und aktiviert wurden, sich hinreichend vermehrt und mit der Massenproduktion von Antikörpern begonnen haben.

Außerdem werden die Antikörper in einer Art Turbo-Mini-Evolution immer passgenauer; sie durchlaufen ein Feintuning, die sogenannte Affinitätsreifung. Und die B-Lymphozyten stellen normalerweise erst ziemlich klobige Antikörper her, das sogenannte Immunglobulin M (kurz: IgM). In ihm sind 5 Y-förmige Funktionseinheiten sternförmig am „Stiel“ miteinander verbunden, sodass insgesamt 10 Antigen-Bindungsstellen nach außen ragen. Diese Sterne sind so groß, dass sie die Blutbahn nicht verlassen können. Sie rauschen in der Frühphase der erworbenen Abwehrreaktion durch unsere Adern und binden dort möglichst alle Viruspartikel, denen sie begegnen. Die so entstehenden Klumpen aus IgM und Viren werden dann von bestimmten Zellen des Immunsystems beseitigt. So wird die sogenannte Virenlast schon stark verringert, aber das IgM allein schafft es meist nicht, alle Viren zu erwischen.

IgM (rechts) verklumpt Virenpartikel. Das kleinere IgG ähnelt wie IgE (Mitte) einem einzelnen Y.

Daher schalten die B-Lymphozyten im Zuge des sogenannten Klassenwechsels schon bald auf die Herstellung einer anderen Antikörperklasse um, nämlich Immunglobulin G (kurz: IgG). Dieses Protein besteht aus einem einzelnen Y und ist damit so klein, dass es aus dem Blut durch die Gefäßwände ins Gewebe eindringen kann, um dort weitere Virenpartikel aufzustöbern und durch Bindung unschädlich zu machen, bevor die Viren in unsere Körperzellen eindringen konnten. Denn nur wenn den Viren das gelingt, können sie sich massenhaft vermehren, die Zellen zerstören und in immer neue Zellen eindringen.

Wie das Ärzteblatt berichtet, hat ein Forscherteam in Melbourne immer wieder den Zustand des Immunsytsems einer 47-jährigen Frau untersucht, die an COVID-19 erkrankt war. Der Verlauf war vergleichsweise leicht, sie musste nicht beatmet werden. „Der Kampf des Immunsystems gegen das neue Virus“, so das Ärzteblatt, „scheint kurz und nicht besonders heftig gewesen zu sein. Einen Anstieg der proinflammatorischen Zytokine und Chemo­kine, die bei einer Influenza einen schweren Verlauf anzeigen, ist … ausgeblieben.“

Am 7. Tag ihres Klinikaufenthalts (der 11 Tage nach ihrer Rückkehr aus Wuhan begann, wo sie sich mutmaßlich angesteckt hatte) wurden bei ihr erstmals Antikörper nachgewiesen. Und jetzt kommt’s: IgG-Antikörper (die kleinen, die ins Gewebe eindringen) wurden zwei Tage vor den IgM-Antikörpern gefunden (den großen, die normalerweise erst mal im Blut aufräumen). Die Ergebnisse bei einer einzelnen Patientin seien aber, so die Studienautoren, vielleicht noch nicht aussagekräftig.

Bei einer Viren-Infektion produziert das Immunsystem erst das große IgM und dann zunehmend das kleinere IgG. Bei einer erneuten Infektion spielt IgM keine große Rolle; dafür schießt die IgG-Herstellung schnell in die Höhe.

Tatsächlich stellt sich die Lage in einer chinesischen Arbeit anders dar. Die Autoren haben das Blut von 173 COVID-19-Patient*innen in einer Klinik wiederholt auf die Antikörper gegen das Virus SARS-CoV-2 untersucht und dies mit der Schwere der Erkrankung in Beziehung zu setzen versucht. Antikörper vom Typ IgM, die gegen das Virus gerichtet waren, ließen sich im Median am 12. Tag nach der Klinikeinweisung nachweisen, IgG folgte dann am 14. Tag: der klassische Verlauf, wie bei anderen Infektionen. Das lässt vermuten, dass die Melbourne-Patientin untypisch war. Je schwerer der Krankheitsverlauf, desto mehr Antikörper hatten die chinesischen Patient*innen im Blut. Und vor allem bei den sehr schweren Verläufen reichten die Antikörper offenbar nicht aus, um die Infektion besiegen: Das Erbgut der Viren war trotz der starken Abwehrreaktion der B-Lymphozyten noch im Blut nachweisbar.

Nun zur zweiten Nachricht, die auch bei Twitter Entrüstung über das vermeintliche Versagen unseres Gesundheitssystems im Vergleich zu demjenigen Kubas geführt hat: Wie die taz berichtet hat, feiert Kuba große Erfolge bei der Behandlung von COVID-19-Patient*innen mit dem Zytokin Interferon alfa-2b. Ich bezweifle nicht, dass man in der Frühphase (!) bestimmter viraler Infektionen das Immunsystem durch die Gabe dieses Immunzellbotenstoffs unterstützen kann. Aber: Das ist eine sehr, sehr unspezifische Therapie, denn Interferone bewirken an tausenderlei Stellen im Organismus tausend verschiedene Dinge – nicht alle davon sind der Genesung förderlich.

Gleich zu Beginn einer Viren-Infektion stoßen befallene Zellen Interferone aus, um andere Zellen zu warnen und Immunzellen anzulocken.

Und vor allem kommt es auf das Timing an: Die großen Schwierigkeiten schwer erkrankter COVID-19-Patient*innen, die mit kaputter Lunge an einen Beatmungsapparat angeschlossen sind, stammen ja nicht primär von den Viruspartikeln und den durch sie vernichteten Zellen, sondern vor allem von der bereits heftigen Reaktion des Immunsystems auf die Infektion. Eine überschießende Abwehrreaktion kann lebenswichtiges Gewebe zerstören – hier in der Lunge.

Interferon alpha (IFNα) und beta (IFNβ) spielen in der Frühphase einer Infektion eine große Rolle. Noch bevor die Antikörperproduktion einsetzt, geht ihre Konzentration im Blut wieder stark zurück.

Die meisten COVID-19-Patient*innen in den Kliniken, insbesondere auf den Intensivstationen, sind in einem sehr weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium. Sie nun mit einem Interferon zu traktieren, das kann böse nach hinten losgehen. Einige Zytokine können einen sogenannten Zytokinsturm auslösen, eine Überreaktion, bei der die Botenstoffe zum Beispiel die Adern so weit stellen, dass das Blut viel langsamer fließt und daher gleich mehrere Organe des Körpers nicht mehr hinreichend mit Sauerstoff versorgt werden – und das womöglich in einer Situation, in der durch die kaputte Lunge ohnehin schon Sauerstoffmangel herrscht. Es ist also keine Borniertheit, dass Mediziner*innen in Deutschland kaum über Interferon reden, wenn es um mögliche COVID-19-Medikamente geht.

 

Der Stempel, den ich gerne hätte: „in mice, not humans!“

Mitte August habe ich den reichweitestärksten Tweet meiner bisherigen Social-Media-„Karriere“ und zugleich den erfolgreichsten deutschsprachigen Wissenschaftskommunikations-Tweet der Woche geschrieben. Verrückterweise wurde er wohl auch wegen des süßen Babyfotos so oft geliket und retweetet, dessen Verwendung ich gerade kritisierte:

Längst nicht jeder wird den ernsten Hintergrund dieses Tweets verstanden haben oder nachvollziehen können – aber es waren auch viele WissenschaftlerInnen und WissenschaftskommunikatorInnen dabei, und einige Rückmeldungen haben mir gezeigt, dass ich mit meinem Frust nicht alleine bin: Seit Jahren werden uns sowohl in der Fachpresse als auch in der Laienpresse Ergebnisse von Mikrobiom-Sudien an Tiermodellen so verkauft, als gälten sie eins zu eins auch für Menschen. Mal sind es die Studienpublikationen selbst, die das in der Überschrift suggerieren und erst irgendwo in der Einleitung oder gar im Methodenteil klarstellen, dass man an einem bestimmten Mäusestamm gearbeitet hat. Mal sind es die Pressemitteilungen der Forschungseinrichtung, die diesen Umstand erst gegen Ende beiläufig erwähnen und zugleich durch das mitgelieferte Bildmaterial falsche Erwartungen wecken, wie in diesem Fall. Und mal fallen die Mäuse und Ratten erst beim Transfer der Nachricht in die Tagespresse unter den Tisch.

Es sind nicht nur Provinzblätter und Werbeseiten, die falsche Erwartungen wecken: Ich habe mich hier schon einmal über eine krasse Text-Bild-Schere im News-Teil des renommierten Wissenschaftsjournals Science mokiert, in dem eine Studie zu Unterschieden zwischen der Darmflora männlicher und weiblicher Mäuse und damit einhergehenden Neigungen zu Autoimmunerkrankungen mit einer Illustration aufgehübscht wurde, in der eine Frau und ein Mann zu sehen sind.

Bei Twitter hat mich dann prompt jemand belehrt: Mäuse und Menschen seien als Säugetiere so eng verwandt und einander physiologisch so ähnlich, dass man an Mäusen gewonnene Erkenntnisse über irgendwelche Mechanismen und Signalwege an der Darmwand durchaus auf Menschen übertragen könne. I beg to differ, und das möchte ich hier anhand zweier aktueller Übersichtsarbeiten näher ausführen – in Ergänzung dessen, was ich bereits vor drei Jahren über Mäuse schrieb (Live fast, Love hard, Die young):

Nguyen, T. L. A., Vieira-Silva, S., Liston, A., & Raes, J. (2015). How informative is the mouse for human gut microbiota research? Disease Models & Mechanisms8(1), 1–16. http://doi.org/10.1242/dmm.017400

Hugenholtz, F., & de Vos, W. M. (2018). Mouse models for human intestinal microbiota research: a critical evaluation. Cellular and Molecular Life Sciences75(1), 149–160. http://doi.org/10.1007/s00018-017-2693-8

Ja, anatomisch und physiologisch haben Mäuse und wir vieles gemeinsam. Aber es gibt auch biologische Unterschiede: im Genom, in der Ernährung, in der Anatomie und Physiologie des Verdauungstrakts und seiner Teile (einschließlich des örtlichen Immunsystems), in der Zusammensetzung der Magen- und Darmflora und in den krankhaften Veränderungen dieses Mikrobioms.

Genom

Mit Mäusen meine ich im Folgenden Stämme der Art Mus musculus, die zum Teil seit über 100 Jahren als Versuchstiere gezüchtet werden. (Als Haustiere werden sogenannte Farbmäuse schon seit 1200 v. Chr. kultiviert, anfangs in China.) Es gibt über 400 Zuchtstämme.

Der letzte gemeinsame Vorfahr von Maus und Mensch lebte vor über 90 Millionen Jahren. Dennoch stimmen wegen einer starken Konservierung (also Selektionsvorteilen der alten Sequenzen gegenüber neuen Varianten, die durch Mutation entstehen) über 85 Prozent ihres Genoms noch überein. Die größten Unterschiede finden sich nicht in DNA-Abschnitten, die Proteine codieren, sondern in Steuerungssequenzen wie den Bindungsstellen von Transkriptionsfaktoren.

Insbesondere das Immunsystem und seine Regulierung haben sich zwischen Maus und Mensch stark auseinander entwickelt. Die Unterschiede im lokalen Immunsystem des Verdauungstrakts dürften einer der Gründe dafür sein, dass die Ergebnisse vieler an Mäusen durchgeführten Studien zu Entzündungen und Erkrankungen mit Beteiligung des Immunsystems bei Menschen nicht reproduziert werden konnten.

Das Gen für TLR5, jenen Rezeptor der angeborenen Abwehr, um den es in der Nature-Veröffentlichung von Fulde et al. geht, die mit dem süßen Baby „beworben“ wurde, gibt es sowohl bei Menschen als auch bei Mäusen. Überhaupt ähneln sich die TLR-Repertoires beider Arten – identisch aber sind sie nicht. Es ist auch nicht sicher, dass die einander genetisch entsprechenden Rezeptoren in Maus und Mensch exakt dieselben Funktionen ausüben, in denselben Zelltypen zu denselben Zeiten exprimiert werden, dieselben Signalketten auslösen und so weiter.

Ernährung, Energie- und Vitamin-Gewinnung

Mäuse sind Allesfresser, wobei der Großteil ihrer Kost pflanzlich ist. Ihre Nahrung enthält wesentlich mehr schwer aufzuschließende Kohlenhydrate als unsere. Menschen sind im Prinzip ebenfalls Omnivoren, die aber weniger schwer verdauliche Pflanzenbestandteile zu sich nehmen. Auch der Aufbau des Verdauungstrakts strikter Veganer ist evolutionär an die gemischte, fleischhaltige Kost ihrer Urahnen angepasst. Unsere Darmflora reagiert dagegen zügig (wenn auch mit recht subtilen Anpassungen) auf eine Ernährungsumstellung.

Ein Problem bei Mäuse-Studien: Die Zusammensetzung des Trockenfutters wird von den Herstellern nicht offengelegt und schwankt offenbar je nach Agrarmarktlage. Manchmal enthält es beispielsweise Luzerne, die wiederum Phytoestrogene enthalten kann. Diese Substanzen können im Körper wie Estrogen wirken und damit etwa Immunreaktionen oder auch die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflussen.

Die Transitzeit einer Mahlzeit beträgt beim Menschen 14-76 Stunden – je schwerer verdaulich, desto länger. Resistente Stärke ist zum Beispiel fast 20 Stunden länger in uns unterwegs als leicht verdauliche Stärke. Bei Mäusen ist die Transitzeit mit 6-7 Stunden deutlich kürzer: Wie alle kleinen Warmblüter haben sie eine viel höhere Stoffwechselrate und daher einen (relativ zum Körpergewicht) viel größeren Stoffumsatz als wir. Sie müssen fast rund um die Uhr fressen, um ihren Energiebedarf zu stillen – und haben daher nur wenige Stunden Zeit, ihre schwer verdauliche Nahrung aufzuschließen. Sie lösen dieses Problem mit einem Trick, den wir Menschen (zum Glück!) nicht beherrschen.

Im vorderen Bereich des Mäuse-Dickdarms gibt es eine „Schleimfalle“: Falten und Furchen, in denen mit Darmbakterien durchmischter Nahrungsbrei hängen bleibt. Von dort wird er ein Stück „stromaufwärts“ in den Blinddarm geschoben. In dieser Fermentierkammer gewinnen die Bakterien Fettsäuren, Vitamin K und einige B-Vitamine aus der Kost. Die Nährstoffe und Vitamine können im Dickdarm nicht resorbiert werden und werden mit dem Kot ausgeschieden. Aber Mäuse fressen ihren Kot (sogenannte Koprophagie) und nehmen die wertvollen Stoffe beim zweiten Durchlauf im Dünndarm ins Blut auf. Auch ein Teil der wertvollen Darmflora wird so recycelt.

Aufbau des Verdauungstrakts

Mäuse haben – anders als wir – einen großen drüsenfreien Vormagen, der als reiner Nahrungsspeicher dient und mit einem pH-Wert von 3 bis 4 weniger sauer ist als der menschliche Magen mit seinem pH-Wert von etwa 1. In diesem weniger aggressiven Milieu gedeihen Bakterien: Die Wand des Vormagens ist mit einem Biofilm aus Lactobacillus-Arten ausgekleidet. Auch der Drüsenmagen, der sich an diese Kammer anschließt, ist weniger sauer als der menschliche Magen, da sich in ihm ständig frische Kost mit den Magensäften und der älteren Kost vermischt. Im menschlichen Magen überleben nur wenige Bakterien, die sich an die starke Säure angepasst haben: Streptokokken, Prevotella und Helicobacter pylori.

Der Dünndarm ist bei beiden Arten der längste Teil des Verdauungstrakts. Mit 33 cm ist er bei der Maus 2,5-mal so lang wie der Dickdarm, beim Menschen mit 700 cm 7-mal so lang. Noch deutlicher werden die Verhältnisse bei der Betrachtung der Flächen: In der Maus hat der Dünndarm eine 18-mal größere Oberfläche als der Dickdarm, beim Menschen beträgt der Faktor sogar 400. Durch diese riesige Grenzschicht wird ein Großteil der Nährstoffe in den Körper aufgenommen.

Die Schleimhaut des Dünndarms ist bei der Maus glatt, beim Menschen wirft sie ringförmige Falten, die die Oberfläche vergrößern und den im Schleim lebenden Bakterien Nischen bieten. Die Zotten oder Villi, die ebenfalls die Oberfläche vergrößern, sind dafür bei der Maus länger als beim Menschen.

Der Dickdarm einer Maus ist bis zu 14 cm lang, der eines Menschen etwa 105 cm – relativ zur Körpermasse also viel kürzer als bei dem kleinen, leichten Nager. Man unterscheidet Blinddarm (Caecum – nicht zu verwechseln mit dem Wurmfortsatz, der von Laien oft als Blinddarm bezeichnet wird) und Grimmdarm (Colon). Der Mäuse-Blinddarm dient, wie im vorigen Abschnitt erwähnt, als Fermentationskammer und ist mit 3 bis 4 cm ziemlich lang. Beim Menschen findet die Fermentation dagegen nur im Colon statt; der etwa 6 cm kurze Blinddarm hat keine wichtige Funktion. Der Wurmfortsatz ist bei Mäusen nicht so klar vom Blinddarm abgegrenzt wie wie bei uns. Der Grimmdarm ist bei der Maus glattwandig, beim Menschen hat er Ausbuchtungen (Hausten genannt).

Die Becherzellen, die den Darmschleim produzieren, konzentrieren sich bei der Maus auf den Dünndarm und den Anfang des Dickdarms, während sie sich beim Menschen bis hinunter zum Rektum über die ganze Länge verteilen. Die Paneth-Zellen, die antibakterielle Produkte wie die Defensine ausschütten, fehlen bei der Maus im Colon; es gibt sie nur im Blinddarm. Beim Menschen finden sich dagegen auch einige im Anfang des Colons. Auch die Menge, die Speicherung und die Ausschüttung von Defensinen unterscheiden sich zwischen den Arten; das wiederum kann über die Regulierung der örtlichen Immunreaktionen die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflussen.

Die Colon-Schleimhaut des Menschen produziert den Schleim schneller (etwa 240 µm/h) als die der Maus (etwa 100 µm/h). Die Colon-Schleimschicht wird beim Menschen etwa 480 µm dick und bei der Maus etwa 190 µm. Der Schleim hat eine ähnliche Zähigkeit und Porosität und besteht aus ähnlichen Schleimproteinen, die allerdings in beiden Arten anders glykosyliert werden. Die unterschiedlichen Glykane, die dabei seitlich an das Protein-Grundgerüst angehängt werden, sodass das Makromolekül schließlich wie eine Flaschenbürste aussieht, beeinflussen wiederum die Selektion der Darmflora.

Zusammensetzung des Mikrobioms

Die Darmflora von Maus und Mensch wird von zwei Bakterienstämmen (Stämmen im Sinne von phyla, nicht strains) dominiert, den Bacteroidetes und den Firmicutes. Das gilt auch für viele andere Säugetiere, egal ob Pflanzen- oder Fleischfresser. Dennoch gibt es beträchtliche Unterschiede.

Um diese Unterschiede zu entdecken, muss man sich auf Bakterien konzentrieren, die bei der Mehrheit der untersuchten Mäuse bzw. Menschen vorkommen, und die „Ferner-liefen-Bakterien“ ausklammern, die zwar zur Diversität des Mikrobioms einer der Art beitragen, aber nur in einem Bruchteil der untersuchten Individuen nachzuweisen sind. Sogenannte metagenomische Analysen haben gezeigt: Von den 60 Gattungen der Kern-Darmflora von Mäusen gehören 25 auch zum Kernbestand im menschlichen Darm. Allerdings haben nur 4 Prozent der Mäuse-Bakteriengene mehr oder weniger identische Entsprechungen im Pool der Menschen-Bakteriengene. Ein Beispiel: Lactobacillus reuteri kommt sowohl in Mäusen als auch in Menschen vor, aber die Stämme in den Mäusen (jetzt im Sinne von strains – verdammte terminologische Ambivalenz!) haben andere Urease-Gene, die diese Enzyme befähigen, in einem sauren Milieu zu leben. Auf der funktionellen Ebene sind die Unterschiede kleiner: 80 Prozent der in den Metagenomik-Datenbanken verzeichneten Gen- bzw. Protein-Funktionen sind sowohl bei der Maus als auch beim Menschen vertreten.

Auch wenn eine Bakterien-Gattung bei Mensch und Maus vertreten ist, kann sie in einer der Arten dominieren und in der anderen eine Randerscheinung bleiben. Im Mäuse-Dünndarm sind FaecalibacteriumPrevotella und Ruminococcus viel seltener als im menschlichen Dünndarm. Dafür sind TuricibacterAlistipes und Lactobacillus bei Mäusen viel dominanter als bei uns. Die Gattungen Clostridium, Bacteroides und Blautia sind in beiden Arten etwa gleich stark vertreten.

Wie hier im Blog schon mehrfach besprochen, prägen die sogenannten segmentierten filamentösen Bakterien (SFB) im Darm von Mäusen die Reifung des Immunsystems – vor allem, indem sie in der Schleimhaut junger Mäuse die Bildung von entzündungsfördernden Th17-Helferzellen auslösen. Das prägt nicht nur die „Stimmung“ des örtlichen Immunsystems, sondern sogar die Entwicklung des Gehirns. Bis vor wenigen Jahren dachte man, im menschlichen Darm gebe es gar keine SFB. Inzwischen wurden diese Bakterien, die zu den Firmicutes zählen und auch als Candidatus arthromitus bezeichnet werden, im Mikrobiom einiger (aber längst nicht aller) Kleinkinder unter drei Jahren entdeckt. Ob sie dort eine ähnlich prägende Rolle spielen wie in jungen Mäusen und so womöglich die Neigung bestimmter Erwachsener zu chronischen Entzündungen fördern, ist noch unklar.

Erschwert werden Vergleiche zwischen Mensch und Maus durch die enormen Mikrobiom-Unterschiede zwischen den untersuchten Mäusen. Nicht nur der Zuchtstamm, sondern auch ihr Futter, die Einrichtung, in der sie gehalten werden, und der Käfig, in dem sie mit anderen Mäusen zusammenleben, prägen die Zusammensetzung. (Man denke an die Koprophagie!)

Enterotypen

Auch beim Menschen unterscheidet sich die Mikrobiom-Zusammensetzung zwischen den Individuen. Seit einigen Jahren kennt man drei Enterotypen: Gruppen, deren Darmflora von jeweils anderen Bakterien dominiert wird. Wie klar und stabil diese Gruppen voneinander abgegrenzt sind, ist allerdings umstritten, und wie sie zustande kommen, ist unbekannt.

Bei Labormäusen wurden bislang zwei Enterotypen identifiziert: Wenn Lachnospiraceae und Ruminococcaceae dominieren, entspricht dies dem menschlichen Enterotyp 3; wenn Bacteroidaceae und Enterobacteriaceae vorherrschen, ähnelt dies dem menschlichen Enterotyp 1. Auch bei Wildmäusen lassen sich zwei Enterotypen unterscheiden, die von Bacteroides oder Robinsoniella dominiert werden.

Bei den Labormäusen korreliert die Einteilung mit dem Artenreichtum des Mikrobioms und mit der Neigung zu Entzündungen. Der Bacteroidaceae/Enterobacteriaceae-Enterotyp ist artenärmer und weist mehr Calciprotectin auf, das als Entzündungsmarker fungiert. Das entspricht den Verhältnissen bei Menschen mit starkem Übergewicht, deren Darmflora ebenfalls verarmt und durch ähnliche Bakteriengruppen (Bacteroidetes und Proteobacteria) dominiert ist und die ebenfalls stärker zu Entzündungen neigen.

Krankhafte Veränderungen

Während sich das Mikrobiom in Maus-Modellen für Fettleibigkeit auf ähnliche Weise verschiebt wie beim Menschen, sind die Parallelen bei anderen Erkrankungen längst nicht so stark. So kann zum Beispiel nach wie vor kein Modell für Colitis ulcerosa alle wichtigen Eigenschaften des Erkrankungsprozesses und der Darmflora-Veränderung rekapitulieren.

Das führt auch zum Scheitern von Therapie-Ansätzen. So hatte man nach Studien an IL-10-Knockout-Mäusen große Hoffnungen, dass das Zytokin IL-10 chronisch-entzündliche Darmerkrankungen eindämmen könne. In klinischen Studien an Menschen ließ sich der Effekt aber nicht reproduzieren – vermutlich, weil Menschen einen großen Pool recht unterschiedlicher IL-10-Rezeptoren haben.

Mäuse mit humanisierter Darmflora: keine Patentlösung

Angesichts der Unterschiede zwischen den Darmfloren von Maus und Mensch und der Unvollkommenheit, mit der viele Tiermodelle menschliche Erkrankungen imitieren, liegt es nahe, das Mikrobiom der Mäuse menschenähnlicher zu machen. Dazu kann man keimfreie, also ohne eigenes Mikrobiom geborene und gehaltene junge Mäuse mit menschlicher Darmflora animpfen. Man spricht dann von humanisierten gnotobiotischen Mäusen – „gnotobiotisch“, weil man dann weiß, welche Bakterien in ihnen leben (griechisch gnosis = Wissen).

Dabei können sich alle der in der menschlichen Darmflora vorkommenden Stämme (Phyla), 11 von 12 der Klassen und etwa 88 Prozent der Gattungen aus dem humanen Mikrobiom im Mäusedarm ansiedeln: gar keine schlechte Annäherung. Aber dieses aus dem Menschen stammende Mikrobiom und die Maus haben keine gemeinsame Evolution durchlaufen, sie haben sich nicht über Jahrmillionen aneinander anpassen können. Und wie sich zeigt, reifen humanisierte gnotobiotische Mäuse nicht normal; sie reagieren zum Beispiel nicht normal auf Infektionen. Vielleicht liegt es daran, dass Bakterien und Mäusezellen nicht genau dieselbe Sprache sprechen, ihre Botenstoffe und Signalketten also wegen der 90 Millionen Jahre getrennter Evolution von Maus und Mensch nicht mehr zueinander passen. Oder bei der Ansiedlung gehen einige seltene, aber für die Entwicklung essentielle Bakterien verloren.

An Mäusen führt kein Weg vorbei

All das heißt nicht, dass man keine Mikrobiom-Forschung oder keine immunologischen Studien an Mäusen betreiben sollte. Mäuse sind klein, haben eine kurze Generationsdauer und sind günstig in der Anschaffung und im Unterhalt. Man kann sie auch genetisch verändern, um z. B. bestimmte Gene „auf Knopfdruck“ auszuschalten (sog. Knockout-Mäuse). Für viele Versuche müssen sie getötet werden, etwa um ihnen Gewebeproben zu entnehmen – und zwar in großer Zahl, um statistisch belastbare Ergebnisse zu erhalten. Dieselben Untersuchungen etwa an Schweinen oder Affen durchzuführen, wäre ethisch und praktisch problematisch. Grundlegende Mechanismen oder Signalwege lassen sich an Mäusen durchaus ermitteln – aber sie müssen gründlich am Menschen überprüft werden.

Forscherinnen und Wissenschaftskommunikatoren sollten der Versuchung eigener vorschneller Extrapolationen und erst recht mutwillig evozierter Missverständnisse widerstehen: Wer an Mäusen geforscht hat, sollte das bereits in der Überschrift und im Abstract deutlich machen. Und die Menschen in den PR-Abteilungen der Forschungseinrichtungen sollten wirklich die Finger von süßen Babyfotos und Formulierungen wie „Kindheit“ lassen, wenn es um junge Mäuse geht. Auch der inflationäre Gebrauch von Superlativen, mit denen die jeweilige Studie aus dem medialen Grundrauschen herausgehoben werden soll, geht letzten Endes nach hinten los: Wenn ich innerhalb einer Woche lese, dank der bahnbrechenden Studie A sei nun endlich bewiesen, dass die Darmflora in einem kleinen Zeitfenster nach der Geburt fürs ganze Leben geprägt werde, und die bahnbrechende Studie B habe endlich gezeigt, dass anhaltender Durchfall bei Erwachsenen die Darmflora nachhaltig verändern könne, dann werde ich nächste Woche die bahnbrechenden Studien C, D und E mit einem Achselzucken an mir vorüberziehen lassen.

Die Darmflora der Inuit

Vor zwei Jahren war ich in Grönland und habe gesehen, wie stark die Kultur dort bei aller Modernisierung noch durch die Jagd geprägt ist. Seither habe ich mich gefragt, wie sich die traditionelle, an tierischen Fetten und Proteinen außerordentlich reiche Kost der Inuit auf die Zusammensetzung und Diversität ihrer Darmflora auswirkt.

Vergleiche zwischen dem Mikrobiom von Menschen mit „westlicher“ Ernährung und solchen aus traditionellen Agrargesellschaften in Afrika (etwa in Burkina Faso) oder Nordamerika (etwa bei den Hutterern) habe ich hier im Blog bereits vor Jahren vorgestellt. Nach meiner Rückkehr war ich erpicht darauf, zu erfahren, wie die Darmflora der Inuit aussieht: Ist sie artenreicher als unsere verarmte „westliche“ Darmflora? Dominieren in ihr wegen der Fleischlastigkeit der Kost womöglich andere Schlüsselorganismen?

Zu meiner großen Verwunderung fand ich dazu absolut nichts in der Fachliteratur: keine einzige Arbeit. Genetische Anpassungen der Inuit an ihren Lebensraum und deren Auswirkungen auf ihre Gesundheit waren durchaus untersucht worden, ihre Darmflora aber nicht – obwohl das nun wirklich sehr nahe lag. Seither habe ich die Literatursuche ab und zu wiederholt – und inzwischen bin ich fündig geworden:

Forscherinnen und Forscher um B. Jesse Shapiro haben 2017 in zwei Arbeiten die Resultate ihrer 16S-rRNA-Analysen von Stuhl- und Toilettenpapier-Proben veröffentlicht, die sie zum einen in Inuit-Siedlungen in Resolute Bay (Nunavut, Kanada) und zum anderen in Montréal (Québec, Kanada) bei Nachfahren von Europäern gesammelt haben. Diese Nukleinsäuren stammen aus den Ribosomen von Bakterien, und es gibt große Datenbanken, in denen man einer bestimmten Basensequenz eine Bakterienart oder -Gattung zuordnen kann.

Zur Überraschung des Teams unterschied sich die typische Darmflora der weitgehend traditionell lebenden Inuit kaum vom Artenspektrum im Darm der „westlich“ lebenden Leute aus Montréal. Die Unterschiede zwischen den Individuen in beiden Gruppen waren viel größer als die zwischen den Gruppen. Auch war das Mikrobiom der Inuit nicht auffällig vielfältiger als das der „Westler“. Allerdings waren Bakterienarten der Gattung Prevotella, die vor allem Ballaststoffe aus pflanzlicher Nahrung aufschließen können, bei den Inuit signifikant schwächer vertreten als bei den Städtern europäischer Herkunft.

In einer weiteren Analyse hat das Team die Veränderung der Darmflora-Zusammensetzung im Jahresverlauf untersucht – in der Annahme, dass die Kost der Inuit sich mit den Jahreszeiten stärker verändert als in der Großstadt. Sie fanden zwar Unterschiede, aber auch diese waren außerordentlich subtil: Bei den Inuit erklärt die Saisonalität einen etwas höheren Prozentsatz der Variabilität der Mikrobiom-Zusammensetzung als bei den europäischstämmigen Städtern. Diese Schwankungen schlagen sich aber nicht in einer klaren Zu- oder Abnahme bestimmter Bakterienarten, -gattungen oder -familien im Jahreszyklus nieder, sondern nur in stärkeren Abweichungen zwischen den Individuen in der Inuit-Gruppe. Vermutlich ist deren Ernährung (noch) nicht so standardisiert wie bei den Nachfahren der Europäer in der großen Stadt.

Womöglich – so die Autorinnen und Autoren – ist die alles homogenisierende „Verwestlichung“ der Lebensweise und Ernährung bereits zu stark vorangeschritten, um noch markante Unterschiede zu entdecken. Jedenfalls ist das Inuit-Mikrobiom weder das „andere Extrem“ im Vergleich zur artenreichen Darmflora sehr fleischarm lebender ländlicher Gemeinschaften, nämlich besonders artenarm, noch ein weiteres Exempel für die größere Darmflora-Vielfalt nicht westlich lebender Menschen: Es ähnelt in fast allem unserem eigenen Mikrobiom.

 

Girard, Catherine et al. “Gut Microbiome of the Canadian Arctic Inuit.” Ed. Rosa Krajmalnik-Brown. mSphere 2.1 (2017): e00297–16. PMC. Web. 18 Aug. 2018.

Dubois, Geneviève et al. “The Inuit Gut Microbiome Is Dynamic over Time and Shaped by Traditional Foods.” Microbiome 5 (2017): 151. PMC. 

Fotos vom Arctic Circle Trail zwischen Kangerlussuaq und Sisimiut sowie von Fleischmarkt in Nuuk, Westgrönland, 2016

Wie Mendels Erbsen: Hashimoto-Thyreoiditis mit monogenem Erbgang

Im Journal of Autoimmunity berichteten Mindy S. Lo et al. kürzlich von einer ganz besonderen Familie, in der Hashimoto-Thyreoiditis monogenisch vererbt wird – so, wie wir es in der Schule gelernt haben, als es um Mendels Erbsenfarben und -formen ging. In vier Generationen ist die Autoimmunerkrankung bei acht Personen ausgebrochen, und zwar überwiegend schon in der Kindheit oder frühen Jugend (Schraffur). Drei der Betroffenen sind männlich – auch das ist ungewöhnlich, denn sonst hat Hashimoto-Thyreoiditis einen ganz ausgeprägten Frauenüberschuss. 

Offenbar verursacht eine sehr seltene Mutation im Thyreoglobulin-Gen die Erkrankung, und zwar auch dann, wenn nur eine der beiden von den Eltern geerbten Genvarianten mutiert ist (dominanter Erbgang). Der Mechanismus ist noch unbekannt. Das vom mutierten Gen abgelesene Protein ist kürzer als normales Thyreoglobulin, das ja eine Vorstufe des aktiven Schilddrüsenhormons Thyroxin ist: Durch die Punktmutation wird das letzte Exon nicht abgelesen. Die Autorinnen und Autoren vermuten, dass dieses verkürzte Protein womöglich etwas anders gefaltet ist und dadurch Gefahr läuft, vom Immunsystem als fremd eingestuft zu werden, woraufhin Autoantikörper und autoreaktive Immunzellen die Schilddrüse angreifen.

Das geschieht aber nicht bei jedem Träger des mutierten Gens: Im Familienstammbaum gibt es eine weibliche und eine männliche Person, die trotz ihrer erblichen Belastung bis jetzt keine Hashimoto-Thyreoiditis ausgebildet haben (Punkte).

In den allermeisten anderen Fällen tragen – anders als hier – zahlreiche Genvarianten jeweils ein wenig zum Erkrankungsrisiko bei. Zu den Risikogenen für Hashimoto-Thyreoiditis zählen sowohl solche, die auch zu anderen Autoimmunerkrankungen beitragen und deren Produkte an der Regulation des Immunsystems beteiligt sind, als auch schilddrüsenspezifische Gene wie TSHR, das den TSH-Rezeptor codiert, oder eben TG, das Thyroglobulin codiert. Die bisher bekannten TG-Varianten erhöhen das Erkrankungsrisiko allerdings wesentlich schwächer als die nun identifizierte Mutation.

 

Mindy S. Lo et al. (2018): Monogenic Hashimoto thyroiditis associated with a variant in the thyroglobulin (TG) gene. Journal of Autoimmunity, Vol. 86, S. 116-119,
https://doi.org/10.1016/j.jaut.2017.09.003.

Seminar am 13. Juni: Schilddrüsenfunktionsstörungen und Psychosomatik

Am 13. Juni findet im Haus der Brandenburgischen Ärzteschaft in Potsdam ein dreistündiges Seminar mit dem Titel „Schilddrüsenfunktionsstörungen – Brücken von der Psychosomatik zur Allgemeinmedizin“ statt. Referent ist der Facharzt Dr. Thomas Lintzen, der sich seit vielen Jahren insbesondere mit der Wechselbeziehung von Morbus Basedow und psychischen Belastungen beschäftigt. Die Kosten betragen 55 Euro, und noch sind offenbar Plätze frei. Hier geht es zur Anmeldung.

Dr. Lintzen machte mich auch auf Studien von Atsushi Fukao aufmerksam, etwa die 2011 erschienene Arbeit „The thyroid function of Graves‘ disease patients is aggravated by depressive personality during antithyroid drug treatment„. Demnach können eine begleitende Psychotherapie oder die Gabe von Antidepressiva die Remission bestimmter, nämlich depressiver und daher mehr negative Belastungen erlebender Patienten mit Morbus Basedow die Chancen auf eine Remission durch die medikamentöse Behandlung verbessern. Das ist jetzt eine stark verknappte und sehr oberflächliche Zusammenfassung meinerseits. Ich hoffe, ich finde demnächst Zeit, mich näher damit zu beschäftigen.