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Sex bias im Immunsystem: Am Anfang war …?

Im letzten Beitrag habe ich ein Genregulierungsnetzwerk vorgestellt, das unter der Kontrolle des Transkriptionsfaktors VGLL3 steht. Es etabliert viele der Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Immunsystem, die zum hohen Frauenanteil unter den Patienten mit Autoimmunerkrankungen beitragen, aber auch zu höheren Krebs- und Infektionsrisiken von Männern.

Ein solches Netzwerk kann sich nach seiner Initialzündung rasch ausweiten, etwa wenn unter den Genen, deren Ablesung der erste Transkriptionsfaktor fördert, mindestens ein weiterer Transkriptionsfaktor ist, der wiederum die Expression zahlreicher Gene beeinflusst, und so weiter.

Geschlechtsspezifische Transkriptionskaskade: Transkriptionsfaktor 1 fördert die Ablesung vieler Immunsystem- (I) und Entzündungsprozess-Gene (E) auf etlichen Chromosomen - und auch die Expression von Transkriptionsfaktor 2, der zahlreiche weitere Gene reguliert, usw.

Geschlechtsspezifisches Regulierungsnetzwerk: Transkriptionsfaktor 1 fördert in weiblichen Zellen die Ablesung vieler Immunsystem- (I) und Entzündungsprozess-Gene (E) auf verschiedenen Chromosomen – und auch die Expression von Transkriptionsfaktor 2, der zahlreiche weitere Gene reguliert, usw. usf.

Eines allerdings blieb offen: Wie kommt der allererste Unterschied zustande, der wiederum für eine stärkere Expression von VGLL3 in weiblichen Zellen sorgt? Denn das Gen für diesen Transkriptionsfaktor sitzt nicht etwa auf dem X-Chromosom, sondern auf Chromosom 3, von dem sowohl weibliche als auch männliche Ungeborene zwei Exemplare haben.

Symmetriebrüche

Dieser Frage nach der Initialzündung gehe ich hier nach. Sie wird in der Fachliteratur auch unter der Bezeichnung „Symmetriebruch“ abgehandelt. Bis zu einem bestimmten Stadium verläuft die Entwicklung weiblicher und männlicher Embryonen gleich: Nachdem anfangs noch alle Zellen gleich aussehen und auch austauschbar sind, legen sich bestimmte Zellen auf ein „Schicksal“ fest und bilden bei ihren weiteren Teilungen Zellklone, aus denen die Anlagen eines Organs werden, etwa des Gehirns oder der Leber. Das ist der erste Symmetriebruch.

Schon bald danach entwickeln sich die Organanlagen je nach Geschlecht unterschiedlich weiter. Bei den Geschlechtsorganen ist das offenkundig, bei den meisten anderen Organen fällt der Unterschied viel subtiler aus. Das ist der zweite Symmetriebruch, der uns hier interessiert. Er betrifft auch die Bestandteile des Immunsystems, also etwa den Thymus oder die Vorläuferzellen der weißen Blutkörperchen – die sogenannten hämatopoetischen Stammzellen – in der embryonalen Leber und später im Knochenmark.

Oben: Der erste Symmetriebruch in der Embryonalentwicklung sorgt dafür, dass aus einer anfangs gleichförmigen Zellkugel letztlich unterschiedliche Organe werden. Unten: Der zweite Symmetriebruch lässt die Entwicklung der einzelnen Organe bei Frauen und Männern leicht unterschiedlich verlaufen - hier die Entwicklung des Knochenmarks und damit der Zellen unserer erworbenen Abwehr.

Oben: Der erste Symmetriebruch in der Embryonalentwicklung sorgt dafür, dass aus einer anfangs gleichförmigen Zellkugel letztlich unterschiedliche Organe werden. Unten: Ein zweiter Symmetriebruch lässt die Entwicklung der einzelnen Organe bei Frauen und Männern leicht unterschiedlich verlaufen – hier die Entwicklung des Knochenmarks und damit der Zellen unserer erworbenen Abwehr.

Diese subtil auseinanderlaufenden embryonalen Entwicklungswege führen später zu Geschlechtsunterschieden (sex bias) in der Grundausstattung des weiblichen und des männlichen Immunsystems, in den Immunreaktionen von Frauen und Männern auf verschiedene Antigene und schließlich in der Inzidenz und Prävalenz zahlreicher Autoimmunerkrankungen, die ich hier im Blog schon mehrfach behandelt habe – besonders ausführlich in dem Artikel Noch einmal: Geschlecht, Hormone, Immunsystem.

Weibliches und männliches Immunsystem

Geschlechtliche Immunsystem-Differenzen gibt es nicht nur bei Mensch und Maus, sondern auch etwa bei Seeigeln, Taufliegen oder Meisen. Damit ist bereits klar, dass sie sich nicht auf die erworbene Abwehr mit ihren Lymphozyten beschränken, die es ja nur bei Wirbeltieren gibt, sondern auch die angeborene Abwehr umfassen.

Beim Menschen treten solche Unterschiede in allen Lebensphasen zutage. Um zunächst die evolutionär ältere angeborene Abwehr zu betrachten: Im Mutterleib zeigen männliche Feten stärkere Entzündungsreaktionen als das weibliche Ungeborene. Auch in vorpubertären Jungen laufen Entzündungen noch heftiger ab als in Mädchen. Nach der Pubertät verkehrt sich dies, weil Testosteron in den meisten Situationen entzündungshemmend wirkt. Sowohl vorpubertäre Jungen als auch erwachsene Männer haben mehr natürliche Killerzellen (NK-Zellen) als Mädchen und Frauen; Senioren haben dagegen weniger NK-Zellen als Seniorinnen, deren angeborene Immunzellen außerdem mehr Interleukin-10 produzieren. Und dass auch die Menge und der Aktivierungsgrad der Mikrogliazellen im Nervensystem je nach Geschlecht und Lebensphase unterschiedlich ausfallen, habe ich kürzlich gegen Ende meines langen Artikels über den Schmerz ausgeführt.

In der evolutionär jüngeren erworbenen Abwehr, bei der Lymphozyten dank ihrer antigenspezifischen Aktivierung präziser gegen Krankheitserreger vorgehen können, sind die Unterschiede noch vielfältiger. So produzieren neugeborene Jungen mehr Antikörper des Typs IgE als neugeborene Mädchen. Im Blut vorpubertärer Jungen findet man auch mehr Antikörper des Typs IgA und IgM sowie mehr regulatorische T-Zellen (Tregs) als im Blut von Mädchen; andere Konzentrationen wie die der CD4+- und der CD8+-T-Zellen, der B-Zellen sowie der Antikörper des Typs IgG sind dagegen noch gleich. Nach der Pubertät gibt es in Frauen mehr CD4+- Zellen und weniger CD8+-Zellen als in Männern; T-Zellen lassen sich in ihnen leichter aktivieren und vermehren sich dann stärker; auch B-Zellen und ihre Produkte, die Antikörper, kommen in Frauen in größerer Zahl vor. Deshalb sprechen Frauen auch auf Impfungen etwas stärker an als Männer. Männer verfügen dafür weiterhin über mehr immunreaktionshemmende Tregs. All diese Unterschiede bleiben bis ins hohe Alter bestehen.

Krankheiten mit deutlichen sex bias

Unter den etwa 80 Autoimmunerkrankungen haben mehr als 20 einen starken und etwa 25 weitere einen moderaten Frauenüberhang. Deutlich mehr Frauen als Männer (bzw. Weibchen als Männchen) erkranken zum Beispiel an Morbus Basedow, Hashimoto-Thyreoiditis, Multipler Sklerose, rheumatoider Arthritis und systemischem Lupus erythematosus sowie an den Infektionserkrankungen, die durch HIV (AIDS), Influenza-Viren (Grippe), Zika-Viren, Legionellen oder Plasmodien (Malaria) ausgelöst werden.

Etwa 20 Autoimmunerkrankungen sind bei Männern häufiger als bei Frauen, etwa Morbus Bechterew. Die meisten dieser 20 Krankheiten sind aber so selten, dass in der Summe viel mehr Frauen von Autoimmunerkrankungen betroffen sind. Zu den Infektionen mit deutlichem Männerüberhang zählen Ebola, MERS, Hepatitis B, Tuberkulose, Leptospirose, Bilharziose oder Aspergilliose. Auch viele Krebserkrankungen sind bei Männern häufiger, etwa Leukämien oder Nieren-, Leber-, Lungen-, Speiseröhren-, Magen-, Darm- und Blasenkrebs. Krebserkrankungen der Geschlechtsorgane sind in dieser Geschlechterstatistik logischerweise ausgeklammert.

Eine Frage des Ressourceneinsatzes

Wahrscheinlich sind das deutlich höhere Risiko von Frauen, eine Autoimmunerkrankung zu bekommen, und das deutlich höhere Risiko von Männern, an bestimmten Krebs- oder Infektionserkrankungen zu sterben, der Preis für eine alles in allem evolutionär bewährte geschlechtsspezifische Optimierung von Ressourceneinsätzen. Über weite Strecken der Wirbeltier-, Säugetier- und schließlich Primaten-Evolution war Energie ein äußerst kostbares Gut.

Die Mütter sehr junger Kinder benötigen zum Beispiel ein besonders widerstandsfähiges Immunsystem – sonst raffen Infektionen nicht nur sie selbst, sondern in der Folge auch ihren Nachwuchs dahin. Im männlichen Organismus sind die mit der Nahrung aufgenommenen Kalorien unter Umständen besser in weitere Spermien und Paarungsakte investiert, zum Beispiel durch die Produktion von möglichst viel Testosteron – auch wenn das Immunreaktionen hemmt. Solche unterschiedlichen Life histories und trade-offs habe ich vor längerem schon einmal ausführlich erklärt.

Embryonen und Feten haben kein Gender

Zu einem gewissen Teil mögen Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen auch auf Umweltfaktoren, etwa eine unterschiedliche Ernährung, Kosmetik oder berufliche Schadstoff-Exposition zurückgehen. Aber je früher eine Erkrankung ausbricht oder sich zumindest anbahnt, bei Autoimmunstörungen oftmals viele Jahre vor der Diagnose, desto unwahrscheinlicher ist ein Gender-Unterschied als Ursache. Insbesondere männliche und weibliche Embryonen, Feten und Neugeborene leben in sehr ähnlichen Umwelten. (Zur Erinnerung: Beim Menschen spricht man bis zur 9. Schwangerschaftswoche von Embryonen und dann – wenn alle inneren Organe angelegt sind – von Feten.) Daher kann man bei den frühesten Abweichungen zwischen männlichem und weiblichem Immunsystem getrost von einer Ursache im biologischen Geschlecht ausgehen.

Am Anfang steht die befruchtete Eizelle. Sie enthält fast nur Zytoplasma aus der mütterlichen Eizelle, denn der Spermienkopf ist zu klein, um viel beizusteuern. Auch der Chromosomensatz, den die Eizelle beisteuert, ist immer gleich: Er enthält 22 Autosomen (also Nicht-Geschlechtschromosomen) und ein X-Chromosom. Das Spermium bringt ebenfalls 22 Autosomen mit, deren Informationsgehalt vom Geschlecht des künftigen Kindes unabhängig ist. Die ersten Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Embryonen können also eigentlich nur vom Geschlechtschromosom herrühren, das das Spermium mitbringt: entweder ein zweites X oder ein Y.

Drei Möglichkeiten

Erstens: Das kleine Y-Chromosom enthält neben einigen Genen, die in ähnlicher Form auch auf dem X-Chromosom vorkommen, 25 „Männergene“, zu denen es im weiblichen Genom keine Entsprechungen gibt – darunter Sry, das Gen, das die Entwicklung männlicher Geschlechtsorgane anstößt. In den entstehenden Hoden läuft dann in der 10. Schwangerschaftswoche die Produktion des männlichen Sexualhormons Testosteron an, das die Entwicklung der Lymphorgane, des Gehirns und weiterer Organe beeinflusst. Auch weitere „Männergene“ auf dem Y-Chromosom könnten an einer etwas anderen Entwicklung männlicher Embryonen und ihres Immunsystems beteiligt sein.

Zweitens: Einige Gene auf dem Y-Chromosom haben sich im Lauf der Evolution (zum Teil mehrfach) verdoppelt und kommen heute in variabler Anzahl vor. Die Kopienzahl dieser sogenannten Y-chromosomalen Multicopy-Gene beeinflusst zum einen die Funktionsfähigkeit von Spermien, die ein Y-Chromosom enthalten, bzw. die Lebensfähigkeit der mit ihnen gezeugten männlichen Embryonen und Feten, und zum anderen das Risiko der Töchter, bestimmte Autoimmunerkrankungen zu bekommen – obwohl diese Töchter ja gar kein Y-Chromosom vom Vater erben. So haben Frauen, die MS, SLE oder rheumatoide Arthritis haben, deutlich seltener männliche Geschwister als gesunde Frauen, aber auch als Frauen mit Autoimmunerkrankungen, die bei beiden Geschlechtern gleich häufig auftreten. Diesem höchst seltsamen und noch nicht erschöpfend erforschten Phänomen, das als paternaler Parent-of-origin-Effekt bezeichnet wird, widme ich den nächsten Beitrag. Vielleicht verändert die Y-chromosomale Genkopienzahl in den Spermien-Vorläuferzellen des Vaters die epigenetische Markierungen und damit die Ablesbarheit der Gene des X-Chromosoms, das er zum Genom seiner Töchter beiträgt. Das könnte das Immunsystem der Töchter prägen und ihm im Extremfall von Anfang an eine gefährliche Schlagseite geben.

Eine dritte Möglichkeit: Zwar werden am 16. Tag der Schwangerschaft in allen Zellkernen eines weiblichen Embryos weite Teile eines der beiden X-Chromosomen stillgelegt, damit die darauf liegenden Gene im weiblichen Embryo oder Fetus nicht doppelt so stark abgelesen werden wie im männlichen. Aber beim Menschen entgehen etwa 15 Prozent der Gene auf dem zweiten X-Chromosom dieser Inaktivierung, sodass auch die höhere Dosis der Produkte dieser Gene zur weiblichen Entwicklung des Immunsystems beitragen könnte. Die Hypothese, dass eine unvollständige oder instabile X-Chromosom-Inaktivierung Autoimmunerkrankungen bei Frauen begünstigen könnte, habe ich hier schon einmal vorgestellt.

Oben: Von den beiden X-Chromosomen in einem weiblichen Embryo bleibt eines aktiv (Xa), das andere wird inaktiviert (Xi). Unten: 15 Prozent der Gene auf dem Xi bleiben aber ablesbar.

Oben: Von den beiden X-Chromosomen in den Zellen eines weiblichen Embryos bleibt eines aktiv (Xa), das andere wird inaktiviert (Xi). Unten: 15 Prozent der Gene auf dem Xi bleiben aber ablesbar.

Die Vermittler: Transkriptionsfaktoren, DNA-Methylierung, Micro-RNA und Sexualhormone

Ob die allerersten das Immunsystem betreffenden Unterschiede nun vom X- oder vom Y-Chromosom ausgehen: Irgendwie müssen sie ein Schneeballsystem in Gang setzen, denn auf fast allen Chromosomen des Menschen sind Gene zu finden, die bei den Geschlechtern unterschiedlich stark abgelesen werden und etwas mit dem Immunsystem zu tun haben. Wie eingangs festgestellt, kann der Transkriptionsfaktor VGLL3 diese Kaskade nicht anstoßen, denn sein Gen sitzt auf Chromosom 3, nicht auf einem Geschlechtschromosom. Aber vielleicht gibt es auch X- oder Y-chromosomale Genprodukte, die als Transkriptionsfaktoren fungieren und ein geschlechtsspezifisches Genregulierungsnetzwerk in Gang setzen.

Zur Etablierung der ersten geschlechtlichen Unterschiede im Immunsystem können neben solchen Transkriptionsfaktoren drei weitere Mechanismen beitragen:

  • Epigenetische Markierungen wie Methylgruppen an der DNA beeinflussen die Ablesbarkeit von Genen. Die Gesamtheit aller Methylierungen eines Genoms, das sogenannte Methylom, weist schon bei der Geburt eines Menschen geschlechtsspezifische Unterschiede auf.
  • Geschlechtshormone aktivieren Transkriptionsfaktoren und steuern so ebenfalls die Ablesestärke von Genen. Da Testosteron nicht etwa erst in der Pubertät produziert wird, sondern bereits vor der Geburt eines Jungen und in seiner ersten Lebensphase, kann dieses Hormon durchaus an der Ausbildung des frühen sex bias im Immunsystem mitwirken.
  • Kurze RNA-Stränge, sogenannte Micro-RNAs oder miRNAs, binden an die Transkriptionsprodukte von Genen – die Messenger-RNA – und blockieren so die Proteinherstellung – auch die Herstellung von Immunsystem-Komponenten. Die Produktion der miRNAs wiederum wird von den Geschlechtschromosomen und -hormonen gesteuert.

Diese drei Mechanismen schließen einander also nicht aus, sondern greifen ineinander. In den folgenden Beiträgen stelle ich sie genauer vor.

Literatur

L. K. Case et al. (2015): Copy Number Variation in Y Chromosome Multicopy Genes Is Linked to a Paternal Parent-Of-Origin Effect on CNS Autoimmune Disease in Female Offspring

R. C. Chiaroni-Clarke et al. (2016): Sex bias in paediatric autoimmune diseases – Not just about sex hormones? (Bezahlschranke)

R. Dai, S. A. Ahmed (2014): Sexual dimorphism of miRNA expression: a new perspective in understanding the sex bias of autoimmune diseases

S. L. Klein, K. L. Flanagan (2016): Sex differences in immune responses

H. Lee et al. (2014): Reprogramming the Methylome: Reprogramming the Methylome: Erasing Memory and Creating Diversity

M. Suderman et al. (2017): Sex-associated autosomal DNA methylation differences are wide-spread and stable throughout childhood

J. Wang et al. (2016): Unusual maintenance of X chromosome inactivation predisposes female lymphocytes for increased expression from the inactive X

Die X-Chromosom-Inaktivierung

Zum Ausgleich für die letzten Beiträge gibt es diesmal viele Skizzen. Wie bereits erwähnt, sind die Körper weiblicher Säugetiere Mosaiken aus Zellkolonien, in denen das von der Mutter geerbte X-Chromosom stillgelegt ist, und solchen, in denen das vom Vater geerbte X-Chromosom inaktiviert wurde. Die Entscheidung fällt während der frühen Embryogenese, und zwar zufällig, und sie wird von allen Tochterzellen dieser Embryonalzellen übernommen. Nur zur Verdopplung vor einer Zellteilung werden die kompakten inaktivierten X-Chromosomen (Xi oder Barr-Körperchen genannt) kurz dekomprimiert, damit Polymerasen und andere an der Replikation beteiligte Moleküle an die DNA-Stränge herankommen. Die Zelle merkt sich aber durch epigenetische Markierungen, dass diese X-Chromosomen anschließend wieder stillgelegt werden müssen.

Schildpattkatze_X-Inaktivierung_650
Unserem Körper sieht man nicht an, dass er ein solcher Flickenteppich ist. Bei Hauskatzen mit dem sogenannten Schildpatt-Muster ist das anders. Ihre Fellfarbe (rötlich oder schwarz) ist nämlich auf dem X-Chromosom codiert. Daher gibt es fast nur weibliche Schildpatt-Katzen, denn nur diese haben zwei X-Chromosomen, von denen in einigen Teilen der Haut das mütterliche und in anderen Hautpartien das väterliche Exemplar aktiv bleibt. (Die weißen – genauer: unpigmentierten – Schecken vieler Schildpatt-Katzen sind an einer anderen Stelle im Genom codiert.)

Dass die Inaktivierung eines der X-Chromosomen und damit das Schildpatt-Muster epigenetisch und nicht genetisch festgelegt ist, sieht man an der ersten geklonten Katze der Welt, die 2001 geboren wurde. Sie trägt den schönen Namen CC (für copy cat), ist genetisch mit einer Schildpatt-Katze identisch und hat dennoch ein anders gemustertes Fell.

Wie läuft die Inaktivierung ab, und wie sehr unterscheidet sich das Xi von den übrigen Chromosomen im Zellkern? Um das zu verstehen, muss man ein Missverständnis überwinden, das aus Schulzeiten stammt. Im Biologieunterricht lernt man beim Thema Zellkernteilung oder Mitose das folgende Schema auswendig, das die Phasen einer solchen Teilung zeigt. Es beginnt mit der Prophase (bei 1 Uhr) und läuft über die Metaphase (3 Uhr) und die Anaphase (7 Uhr) zur Telophase (8 Uhr). In diesen Phasen ist die Kernhülle aufgelöst, damit die Spindeln die Tochterchromatiden auseinander ziehen können. Anschließend schnürt sich die Zelle durch, und beide Tochterzellen bauen wieder Kernhüllen auf. In der Zeit zwischen zwei Zell- und Zellkernteilungen, der Interphase (12 Uhr, Sternchen), liegen die Chromosomen nicht in der uns so vertrauten, kompakten Transportform vor, sondern als dünne Schnüre, die den ganzen Kern ausfüllen.

Zyklus_Mitose_und_Interphase_650

Diese Interphase ist viel, viel länger, als es das Diagramm suggeriert: Von den etwa 19,5 Stunden eines menschlichen Zellteilungszyklus entfallen etwa 18,5 Stunden auf die Interphase, in der der Zellkern wie eine Fadennudelsuppe aussieht. Nur während einer einzigen Stunde sind unsere Chromosomen so eng zusammengepackt, dass sie wie ein I oder (vor der Trennung der beiden im Zentromer zusammengehaltenen Chromatiden) wie ein X aussehen:

Länge_Interphase_Mitose_500

Der DNA-Faden wird in der Mitose um den Faktor 50.000 komprimiert, und zwar in mehreren Schritten bzw. Ebenen: von der DNA-Doppelhelix über die Perlenschnur, in der die DNA um puckförmige Proteinscheiben, sogenannte Nukleosomen, gewickelt ist, über Schlaufen erster und zweiter Ordnung bis hin zum kompletten Chromosom, das 700-mal dicker ist als eine Doppelhelix:

DNA_Komprimierung_Faktor_50000_650

In dieser stark komprimierten Form ist das Erbgut für die Transkriptionsmaschinierie völlig unzugänglich; die Gene können also nicht abgelesen werden. In der langen Interphase sieht das anders aus: Die nun wieder lockere DNA eines jeden Chromosoms nimmt einen großen Bereich im Zellkern ein und steht an dessen Rändern mit den Nachbarchromosomen in Kontakt. Ich habe hier, damit es nicht zu unübersichtlich wird, nur ein einziges Chromosom (unten) als Faden dargestellt und von den übrigen nur die Grenzen zwischen den Regionen angedeutet:Kern_mit_Chromosomen-Regionen_650

Chromosomenbereiche mit vielen Genen liegen im Allgemeinen eher in der Mitte des Zellkerns, an Genen arme Abschnitte eher in der Peripherie. Außerdem führen die Chromosomen im Kern einen komplizierten Tanz auf – wobei sie allerdings nicht so kompakt aussehen wie in dieser garantiert echten, jüngst auf einem Dachboden entdeckten Matisse-Vorstudie:

P1090479_Chromosomentanz_500

Die Chromosomen können die Position wechseln. So gelangen Gene, die gerade abgelesen werden müssen, aus der Peripherie in die Mitte, wo auch die nötigen Enzyme und Rohstoffe in höherer Konzentration vorliegen als am Rand.

Auch die meisten unsere Geschlechtschromosomen sind die meiste Zeit keineswegs X- oder Y-förmig. Ihre Namen verdanken sie elektronenmikroskopischen Aufnahmen von Chromosomen während der Mitose. Dann sieht das bereits verdoppelte X-Chromosom mit seinem Zentromer (der Einschnürung) und seinen langen und kurzen Armen den übrigen Chromosomen recht ähnlich. Beim viel kleineren Y-Chromosom sind die Arme so kurz, dass sie kaum zu unterscheiden sind:

Kondensiertes_X_und_Y_500

An den Enden der kurzen und der langen Arme beider Geschlechtschromosomen liegen sogenannte pseudoautosomale Regionen oder PARs. Hier sind X und Y einander so ähnlich, dass es zwischen ihnen während der Entwicklung der Keimzellen zum Austausch von Material, dem sogenannten Crossing-over kommen kann – genau wie zwischen den beiden Exemplaren eines normalen Chromosoms oder Autosoms; daher die Bezeichnung „pseudoautosomal“.

Da jede Zelle, ob männlich oder weiblich, über zwei Geschlechtschromosomen und damit über zwei PAR1 und zwei PAR2 verfügt, ist für diese Teile des X-Chromosoms keine Inaktivierung vonnöten: Ob die hier liegenden Gene nun von zwei X-Chromosomen oder von einem X- und einem Y-Chromosom abgelesen werden, ist gleichgültig. Anders sieht es mit der nicht-pseudoautosomalen X-Chromosom-Region (NPX) aus: Auf ihr liegen andere Gene als auf ihrem Pendant auf dem Y-Chromosom, MSY (für male-specific region of Y chromosome).

X_Y_Chromosom_PAR_500

Würden diese Teile auf beiden X-Chromosomen einer weiblichen Zelle normal abgelesen, lägen ihre Genprodukte in der Zelle in doppelt so hoher Konzentration vor wie in einer männlichen Zelle. Das mag bei bestimmten Genen, die an geschlechtsspezifischen Eigenschaften mitwirken, notwendig sein. Bei vielen anderen wichtigen Genen auf dem X-Chromosom, die nichts mit dem Geschlecht zu tun haben, wäre es dagegen fatal. Daher wird ein Großteil der Gene (etwa 85 Prozent) auf einem der beiden X-Chromosomen ausgeschaltet.

Die Inaktivierung geht vom sogenannten X-Inaktivierungs-Zentrum (XIC) auf dem langen Arm des Chromosoms (Xq) aus. Dieser lange Arm wird auch als XCR (für X conserved region) bezeichnet, weil er evolutionär alte, stark konservierte Gene und Steuerungssequenzen enthält. Im Inaktivierungs-Zentrum liegt das Gen Xist, das kein Protein codiert, sondern eine RNA, die sich an alle möglichen Teile des X-Chromosoms anlagert, die sich in ihrer Nähe befinden – wobei „Nähe“ hier nicht eindimensional (benachbarte Sequenzen auf der DNA), sondern dreidimensional zu verstehen ist (im Einflussbereich liegende Schlaufen des X-Chromosom-Fadenknäuels).

Das können durchaus auch DNA-Schlaufen vom anderen Arm des X-Chromosoms sein, der jenseits des Zentromers liegt: Xp, auch XAR (für X added region) genannt, weil hier evolutionär jüngere Gene und Steuerungssequenzen liegen, die das Chromosom erst lange nach der Auseinanderentwicklung von X- und Y-Chromosom erworben hat. Auf diesem Arm liegen auch Gene, die mit einer ganzen Reihe von Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht werden, etwa FoxP3 oder eine Reihe von Genen in der Region Xp22. Womöglich tragen Fehler bei der X-Chromosom-Inaktivierung zur höheren Prävalenz vieler Autoimmunerkrankungen bei Frauen bei, denn dann liegen die Produkte der fälschlich nicht inaktivierten Gene in weiblichen Zellen in stark überhöhter Konzentration vor.

Humanes_X-Chromosom_Aufbau_Xist_usw_500_n

Vorlage: W. H. Brooks, Y. Renaudineau (2015), doi: 10.3389/fgene.2015.00022

Wie das X-Chromosom trotz der Barriere, die das Zentromer darstellt, so zügig inaktiviert werden kann, war der Forschung lange ein Rätsel. Studien an Mäusen helfen bei der Aufklärung (wieder einmal) nicht weiter, da deren X-Chromosom zwar ähnlich lang ist wie das der Menschen, aber kein echtes Zentromer hat, sondern eine Zentromer-ähnliche Struktur an einem Ende. Hier gibt es also keine Barriere, die von der im XIC abgelesenden RNA überwunden werden müsste:

X-Chromosom_Mensch_Maus_500

Vorlage: W. H. Brooks, Y. Renaudineau (2015), doi: 10.3389/fgene.2015.00022

Wie sich die Xist-RNA und die von ihr rekrutierten übrigen Inaktivierungsfaktoren über das X-Chromosom ausbreiten, davon hat man erst seit kurzem eine genaue Vorstellung. Demnach bilden die RNA-Moleküle (dünne geschwungene Linien mit Schlaufe) in der Umgebung des Xist-Gens (dicker schwarzer Pfeil) eine regelrechte Wolke und lagern sich an so ziemlich alle X-chromosomalen DNA-Stränge (dicke Linien) an, die in diese Wolke hineinragen. Die Histone, die die Xist-RNA nach ihrer Bindung an die DNA rekrutiert (schraffierte Scheiben und anhängende schwarze Punkte), wickeln die DNA dann eng und ordentlich zusammen:

X-Inaktivierung_Xist-RNA_Histone_650

Vorlage: Engreitz et al. 2013, doi: 10.1126/science.1237973

Durch das Aufwickeln der DNA zieht der Komplex immer weitere X-chromosomale Sequenzen in die Xist-Wolke hinein. So kann sich die Inaktivierung schnell und von mehreren, nahezu beliebigen Startstellen aus über das gesamte X-Chromosom ausbreiten.

Die nunmehr stark komprimierte DNA ist nicht mehr ablesbar – genau wie in den übrigen Chromosomen während der Mitose. Allerdings ist der Komprimierungsmechanismus ein anderer als bei den Autosomen, der Komprimierungsgrad ist noch höher, und vor allem wird die Komprimierung auch während der Interphase aufrecht erhalten.

Das Xi bleibt allerdings nicht „von selbst“ inaktiv, sondern muss ständig überwacht und ggf. erneut epigenetisch markiert und verdichtet werden. Daher liegt es meist auch nicht am Rand des Kerns, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft zum Nucleolus, einer besonders aktiven Kernregion:

P1270847_links_Xi_außerhalb_Nucleolus_500

Vorlage: W. H. Brooks, Y. Renaudineau (2015), doi: 10.3389/fgene.2015.00022

Einer derzeit beliebten Hypothese zufolge können Infektionen (zum Beispiel mit Viren) Autoimmunerkrankungen auslösen, indem sie den Nucleolus anschwellen lassen: Viren kapern bekanntlich die Reproduktionsmaschinerie unserer Zellen und lassen unseren Stoffwechel in großem Stil neue Kopien ihrer selbst anfertigen. Der erhöhte Bedarf an Ribosomen und anderen Teilen der Reproduktionsmaschine führt zu einer Vergrößerung des Nucleolus. So gerät das benachbarte inaktivierte X-Chromosom in weiblichen Zellen ins Innere des Nucleolus mit seinem lebhaften Stoffwechsel: 

P1270847_rechts_Nucleolus_geschwollen_n_500

Vorlage: W. H. Brooks, Y. Renaudineau (2015), doi: 10.3389/fgene.2015.00022

Substanzen im Nucleolus, insbesondere Polyamine und RNA-Polymerase III, könnten die Inaktivierung aufheben und zum Beispiel eine massenhafte Ablesung der vielen Alu-Sequenzen im PAR1 auf dem Xp-Arm auslösen. Die so in großer Menge erzeugte Alu-RNA könnte klassische Zellkern-Proteine wie Ro und La binden und modifizieren, wodurch sich diese Proteine in Autoantigene verwandeln würden. Tatsächlich werden im Serum von Lupus-, Sjögren- oder Rheuma-Patienten häufig Anti-Ro- und Anti-La-Antikörper nachgewiesen.

Aber bislang ist das wirklich nur eine weitere Hypothese: Dass die höhere Prävalenz vieler Autoimmunerkrankungen bei Frauen auf eine unvollständige X-Inaktivierung und diese wiederum auf eine infektionsbedingte Vergrößerung des Nucleolus zurückzuführen ist, klingt plausibel, ist aber nicht belegt.

 

Literatur und Abbildungsvorlagen muss ich noch nachtragen. Jetzt: Urlaub!

Noch einmal: Geschlecht, Hormone, Immunsystem

Dieser Beitrag wird lang, trocken und abstrakt, und er enthält nur ein einziges eigenes Bild, und es bleibt kompliziert. Genau genommen ist er trotz langen Ringens mit dem Stoff nahezu unlesbar. Sorry. Ich musste das einfach mal notieren, um selbst nicht immer wieder durcheinander zu kommen. Im Buch landet dann eine weniger technische und überfrachtete Quintessenz.

Wann ist ein Mann ein Mann?

Und was macht eine Frau zur Frau, biologisch betrachtet? Das ist zum Glück bei Menschen, Mäusen und allen anderen Säugetieren grundsätzlich ähnlich geregelt: Neben einer Reihe „normaler“ Chromosomen, den sogenannten Autosomen, gibt es Geschlechtschromosomen – auch Gonosomen oder Heterochromosomen genannt. Während wir in jeder Körperzelle (abgesehen von unseren Keimzellen, also Eizellen oder Spermien) einen doppelten, zur Hälfte von der Mutter und zur Hälfte vom Vater stammenden Satz vom Aufbau her identischer Autosomen tragen, gilt das bei den Geschlechtschromosomen nur für die Frauen bzw. Weibchen, die von beiden Eltern je ein sogenanntes X-Chromosom erben. Männer bzw. Männchen erben dagegen von der Mutter ein X-Chromosom und vom Vater ein Y-Chromosom.

Das Y-Chromosom sieht unter dem Elektronenmikroskop im Grunde gar nicht wie ein Y aus; es ist einfach sehr klein und knubbelig und enthält viel weniger codierende, d. h. als Proteinbauanleitungen dienende Gene, nämlich 72 auf gut 57 Millionen Basenpaaren, als das X-Chromosom mit seinen 819 codierenden Genen auf 156 Millionen Basen­paaren. Evolutionär stammt das Y- wohl vom X-Chromosom ab, aber das ist schon sehr lange her: 240 bis 320 Millionen Jahre. An beiden Enden enthält es sogenannte pseudoautosomale Sequenzen, die direkte Entsprechungen auf den Enden des X-Chromosoms haben. Dadurch kommt es während der Meiose (der Reduktionsteilung, die bei der Bildung von Keimzellen den doppelten zu einem einfachen Chromosomensatz reduziert) an diesen Stellen zur Rekombination zwischen X- und Y-Chromosom, wie es sonst nur bei den Autosomen üblich ist. Die nicht pseudoautosomalen Sequenzen von X- und Y-Chromosom können dagegen schon sehr lange nicht mehr rekombinieren und tragen mittlerweile völlig unterschiedliche Gene.

Ein einzelnes Gen sorgt für Hoden

Die nicht pseudoautosomale Sequenz des kurzen Arms des Y-Chromosoms enthält das geschlechtsbestimmende Sry-Gen (für „sex-determining region of Y“), das ein Protein namens TDF codiert (für „testis determining factor“, zu Deutsch: Hoden-determinierender Faktor). Im jungen Embryo entstehen zunächst geschlechtsneutrale Keimdrüsen-Anlagen. Sobald im männlichen Embryo das Sry-Gen abgelesen wird, was beim Menschen ab der 7. Entwicklungswoche der Fall ist, regt das Protein TDF bestimmte Zellen in diesen Anlagen zur Testosteron-Produktion an, und aus den Keimdrüsen-Anlagen werden Hoden. In Abwesenheit eines Y-Chromosoms und damit des Sry-Gens entstehen dagegen Eierstöcke.

Ein Testosteron-Gen gibt es nicht

Es drängt sich die Frage auf, wo denn die Gene für Testosteron und die anderen Sexualhormone liegen – etwa auch auf den Geschlechtschromosomen? Die naive Annahme, die Bauanleitung für das männliche Sexualhormon sei wohl auf dem männlichen Geschlechtschromosom zu finden, kann nicht stimmen: Auch Frauen produzieren und benötigen Testosteron, und sie haben kein Y-Chromosom. Liegt das Gen also auf einem der Autosomen, die beiden Geschlechtern gemeinsam sind? Nein, es liegt nirgends: Es gibt kein Testosteron-Gen. Testosteron ist nämlich kein Protein, und Gene codieren nur Proteine.

Unsere Sexualhormone sind Steroidhormone, die in mehreren Schritten unter Beteiligung etlicher Enzyme aus (größtenteils vom Körper selbst hergestelltem) Cholesterin hergestellt werden, und zwar in den Keimdrüsen sowie der Nebennierenrinde. Gesteuert wird die Herstellung von der Hypophyse und dem Hypothalamus im Gehirn. Das Sexualhormonsystem ist so komplex und omnipräsent, dass es sinnlos wäre, ein bestimmtes Gen oder auch nur ein bestimmtes Chromosom für zuständig zu erklären. Einen guten Eindruck vermittelt diese Creative-Commons-Grafik:

Steroidogenesis
Häggström M, Richfield D (2014). „Diagram of the pathways of human steroidogenesis“. Wikiversity Journal of Medicine 1 (1). DOI:10.15347/wjm/2014.005. ISSN 20018762. (Self-made using bkchem and inkscape) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

Hormon- und Chromosomen-Wirkungen überlagern sich

An der Ausbildung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern (beispielsweise in der Muskulatur, im Immunsystem oder im Gehirn, somit auch im Verhalten) sind weitere Gene auf dem X- und dem Y-Chromosom beteiligt, deren Wirkung nicht so gut erforscht ist wie die des Sry-Gens. Dass sie so schwer zu erforschen sind, liegt unter anderem an den Sexualhormonen, vor allem am Testosteron. Es wird bereits ab dem ersten Schwangerschaftsdrittel im Embryo produziert und prägt die gesamte weitere Entwicklung des Organismus dauerhaft. Deswegen lässt sich der reine, unverfälschte Einfluss der Geschlechtschromosomen auch nicht erforschen, indem man die neugeborenen Mäuse kastriert, sodass sie kein Testosteron mehr produzieren: Das Hormon hat dann bereits irreversible Wirkungen gezeitigt.

Selbst wenn die Hormone die geschlechtsspezifischen Effekte der Ablesung von Genen auf den Geschlechtschromosomen nicht überdecken würden, wäre es noch schwer zu ermitteln, ob und wie nun das X- oder das Y-Chromosom für einen Effekt verantwortlich ist. Wenn beispielsweise eine Erkrankung bei Männern häufiger auftritt oder dramatischer verläuft als bei Frauen, liegt das an der Ablesung eines Gens auf dem Y-Chromosom? Oder an der elternspezifischen genomischen Prägung, dem sogenannten parental imprinting, also der Tatsache, dass in allen Zellen eines Mannes das einzige, stets von der Mutter geerbte X-Chromosom aktiv ist (maternal imprinting), während im Körper einer Frau in etwa jeder zweiten Zelle das vom Vater geerbte X-Chromosom abgelesen wird (paternal imprinting)? Oder daran, dass Frauen eben zwei X-Chromosomen haben und damit u. U. über die doppelte Dosis bestimmter (in diesem Beispiel: vor Erkrankung schützender) Gene verfügen, die von der X-Inaktivierung (s. u. ) ausgenommenen sind?

Turner-Frauen, Klinefelter-Männer und der X-Dosis-Effekt

Beim Menschen lassen sich die Effekte der Geschlechtschromosomen und der Sexualhormone nicht entkoppeln, aus ethischen und aus praktischen Gründen. Gewisse Anhaltspunkte lassen sich aber aus der Untersuchung von Menschen ableiten, die nicht über den üblichen Geschlechtschromosomensatz verfügen. In der Fachliteratur werden sie häufig als experiments of nature bezeichnet.

Beim sogenannten Turner- oder Ullrich-Turner-Syndrom fehlt einer Frau eines der beiden X-Chromosomen; ihr Chromosomensatz wird als 45,X0 statt 46,XX notiert. Obwohl die Betroffenen meist ab dem Alter, in dem die Pubertät einsetzen sollte, mit Estrogen behandelt werden, hormonell also „normalen“ Frauen näherstehen als „normalen“ Männern, erkranken sie ähnlich selten wie Männer an bestimmten Autoimmunerkrankungen wie Lupus. Hier kann man einen sogenannten X-Dosis-Effekt vermuten: Irgendein Faktor, der auf dem X-Chromosom codiert ist und bei „normalen“ Frauen auf beiden Exemplaren abgelesen wird, erhöht das Erkrankungsrisiko. Hormonelle Einflüsse sind aber nicht völlig auszuschließen.

Ähnlich sieht es bei Männern aus, die neben ihrem Y-Chromosom zwei X-Chromosomen haben (Chromosomensatz 47,XXY statt 46,XY). Männer mit diesem sogenannten Klinefelter-Syndrom haben ein ebenso hohes Risiko, an Lupus zu erkranken, wie Frauen. Auch das spricht – bei aller Vorsicht wegen der gleichzeitigen Wirkung der Sexualhormone – für einen X-Dosis-Effekt.

Unvollständige X-Inaktivierung

Allerdings ist dieser X-Dosis-Effekt selbst erklärungsbedürftig. Eigentlich besagt das Dogma der X-Inaktivierung: Um die Dosis der vielen nicht für die Geschlechtsentwicklung zuständigen X-chromosomalen Gene zwischen Mann und Frau anzugleichen, wird zu einem frühen Zeitpunkt der Embryonalentwicklung in allen Zellen weiblicher Embryonen eines der beiden X-Chromosomen – und zwar zufällig das von der Mutter oder das vom Vater geerbte Exemplar – inaktiviert, indem es zu einem sehr dichten, nicht mehr ablesbaren Klümpchen verschnürt wird, dem sogenannten Barr-Körperchen. Diese Inaktivierung ist epigenetisch codiert und wird an alle durch die weiteren Zellteilungen entstehenden Tochterzellen weitergegeben. Der Körper einer Frau ist folglich ein Mosaik aus Zellkolonien, in denen das mütterliche, und solchen, in denen das väterliche X-Chromosom ablesbar bleibt.

Aber so einfach ist es nicht. Erstens scheint bei größeren X-Chromosomen-Defekten (etwa fehlenden oder verdoppelten Abschnitten) bevorzugt, d. h. nicht-zufällig, das defekte Exemplar stillgelegt zu werden. Und zweitens gibt es auf dem X-Chromosom eine ganze Reihe von Genen, die sehr wohl von beiden Exemplaren abgelesen werden. Aus dem kompakten Barr-Körperchen ragen Schlaufen nur locker aufgewickelter, sogenannter dekondensierter DNA heraus, an die die Transkriptionsmaschinerie andocken kann. Diese Stellen sind gute Kandidaten für Gene, deren Ablesung Geschlechtsunterschiede bewirkt.

Dann also Mäuse und Ratten

Wie im letzten Artikel erwähnt, lassen sich an Nagetieren (bei allen Unterschieden im Detail) Grundsatzfragen erforschen, die am Menschen niemals zu klären wären – aus ethischen und praktischen Gründen. Zufällig ist das Mäusegenom ähnlich groß wie das Humangenom: Beide umfassen etwa 23.000 bis 24.000 Gene, verteilt auf etwa drei Milliarden Basenpaare. Während Menschen 22 Autosomen-Paare sowie zwei Geschlechtschromosomen haben, verteilt sich das Hausmaus-Genom auf 19 Autosomen-Paare und ein Geschlechtschromosomen-Paar. Laborratten haben neben ihren Geschlechtschromosomen 20 Autosomen-Paare. Die Abstammungslinien der Ratten und der Mäuse haben sich vor 12 bis 24 Millionen Jahren getrennt.

Die einfachsten Experimente kommen ohne genetische Manipulation aus und wurden zum Teil schon vor einem halben Jahrhundert angestellt. Sie machen sich den aus unserer Sicht ungewöhnlichen Aufbau der Mäuse-Gebärmutter zunutze.

Testosteron: Der Positionseffekt

Die Gebärmutter der Maus besteht aus zwei Trakten, sogenannten Hörnern, die sich von den Eileitern bis zur Vagina erstrecken. Die Embryonen (bis zu einem Dutzend) liegen mit jeweils eigener Plazenta in separaten Amnionsäcken aufgereiht, sodass sie bis auf die Endpositionen je zwei Nachbarn haben. Das Testosteron, das die männlichen Embryonen von einem frühen Zeitpunkt an produzieren, diffundiert durch die Gebärmutter auch zu den nächsten Nachbarn hinüber.

Aus dieser Anordnung ergeben sich verschiedene vorgeburtliche Hormonmilieus: Sowohl männliche als auch weibliche Mäusebabies können 0 bis 2 männliche Nachbarn haben und sind entsprechend keinem (0M), wenig (1M) oder viel (2M) geschwisterlichem Testosteron ausgesetzt. Im Blut weiblicher 2M-Embryonen lässt sich deutlich mehr Testosteron und weniger Estrogen nachweisen als in weiblichen 0M-Embryonen.

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Weibliche 2M-Embryonen werden zu leicht vermännlichten Weibchen: Ihr Anogenitalabstand (der Abstand zwischen Anus und Genitalöffnung) ist größer als bei den anderen Weibchen, sie sind weniger ängstlich, verteidigen größere Reviere, werden später geschlechtsreif, wirken auf die Männchen weniger attraktiv, haben – unter anderem wegen eines längeren Zyklus – weniger Würfe, sind aber durchaus fruchtbar und verteidigen ihre Jungen energischer gegen Angriffe als die weiblicheren Weibchen. Außerdem scheinen 0M-Weibchen mehr Weibchen und 2M-Weibchen mehr Männchen in die Welt zu setzen.

Es ist anzunehmen, dass auch die genaue Zusammensetzung, die Aktivierungsschwellen und die Reaktionsstärken des Immunsystems bei 2M-Weibchen anders ausfallen als bei 0M-Weibchen, aber das scheint an Mäusen oder Ratten noch nicht näher untersucht worden zu sein. Allerdings belegten andere Versuche, bei denen man neugeborenen Ratten Testosteron in unterschiedlicher Dosis verabreicht hat, eine Vermännlichung des Immunsystems: Die Zahl der CD4+-T-Zellen im Blut sank, und die Zahl der CD8+-T-Zellen sowie der regulatorischen T-Zellen stieg an. (Auch unter uns Menschen ist der CD4/CD8-Quotient, das Zahlenverhältnis der CD4+-T-Zellen zu den CD8+-T-Zellen, bei Männern ein wenig kleiner als bei Frauen.)

Stress wirkt ähnlich 

Setzt man trächtige Mäuse hellem Licht oder Hitze oder sozialem Stress durch hohe Besatzdichten der Käfige aus, so hat das auf ihre Jungen ähnliche Auswirkungen wie das Testosteron benachbarter männlicher Embryonen: Ihre Töchter haben einen größeren Anogenitalabstand und – wie die gestressten Mütter selbst – mehr Testosteron im Blut als sonst.

Einer beliebten evolutionsbiologischen Hypothese zufolge ist das kein Zufall, sondern eine Anpassung an schwankende Umweltbedingungen: In bereits dicht besiedelten, mithin stressigen und ressourcenarmen Gebieten geborene Weibchen sind auf diese Weise aggressiver, neigen zur Abwanderung, haben weniger Würfe und bekommen mehr männliche als weibliche Junge, was die Überlebenschancen des Nachwuchses steigern dürfte. In weniger dicht besiedelten Lebensräumen, also unter weniger stressigen Bedingungen ausgetragene Weibchen entsprechen eher dem 0M-Typ, sind für die Männchen attraktiver, bekommen früher und mehr Junge, unter denen überproportional viele weitere „weibliche Weibchen“ sind, die ungern abwandern. So wächst die Population schnell an.

Insgesamt scheint das System der 0M-, 1M- und 2M-Babies die Flexibilität der Tiere bei der Anpassung an unterschiedliche Umwelten und Selektionsdrücke zu gewährleisten. Da mit der örtlichen Populationsdichte auch der Pathogendruck steigt, also mehr und andere Infektionen drohen als in dünn besiedeltem Gebiet, ist anzunehmen, dass diese Variabilität auch das Immunsystem umfasst.

Genetisch veränderte Mäuse: vier Kern-Genotypen

Aber welchen hormonunabhängigen Einfluss nehmen unsere Geschlechtschromosomen auf die Ausprägung der sekundärer und tertiärer Geschlechtsmerkmale, und wie führt das zu Geschlechtsunterschieden bei Erkrankungsrisiken? Um die Wirkung der Hormone von der Wirkung X- und Y-chromosomaler Gene außerhalb der Keimdrüsen zu trennen, muss man in das Genom der Mäuse eingreifen.

Dazu kann man zum Beispiel auf eine spontane Mutation zurückgreifen, die das Sry-Gen (und wohl nur dieses) aus dem männlichen Geschlechtschromosom der Maus entfernt. Dieser Geschlechtschromosomensatz wird als XY bezeichnet. In einem zweiten Schritt fügt man bei einem Teil der Tiere ein Sry-Gen auf einem der Autosomen, also der Nicht-Geschlechtschromosomen ein. Das Y-Chromosom ist nun nicht mehr für die Entwicklung der Keimdrüsenanlagen zu Hoden zuständig. Man erhält vier Genotypen:

  • männlicher Geschlechtschromosomensatz und männliche Keimdrüsen (XYM),
  • männlicher Geschlechtschromosomensatz und weibliche Keimdrüsen (XYF = XY),
  • weiblicher Geschlechtschromosomensatz und männliche Keimdrüsen (XXM),
  • weiblicher Geschlechtschromosomensatz und weibliche Keimdrüsen (XXF).

Daher werden diese Mäuse als FCG mice (für four core genotypes) bezeichnet. In den meisten Versuchen kastriert man die Tiere, sobald sie geschlechtsreif sind; d. h. man entfernt die Keimdrüsen, um akute Auswirkungen der Sexualhormone auszuschließen, insbesondere die Beeinflussung der Ablesung aller möglicher Gene. Damit verringern sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, aber sie verschwinden nicht, da die Keimdrüsen und ihre Hormone die Organe und Gewebe der Tiere bis zum Zeitpunkt der Kastration irreversibel geprägt haben.

Der Vergleich der beiden F-Typen mit den beiden M-Typen, also der Mäuse ohne und mit Sry-Gen, offenbart die Auswirkungen der in den Keimdrüsen produzierten Sexualhormone – u. U. vermischt mit weiteren, nicht über die Hormone vermittelten Auswirkungen des Sry-Gens. Der Vergleich der beiden XX-Typen mit den beiden XY-Typen liefert dagegen Informationen über geschlechtschromosomale Effekte.

Dabei zeigt sich zum Beispiel, dass bei bestimmten Mäusestämmen mit einer angeborenen Neigung zu den Autoimmunerkrankungen XX-Tiere mit höherer Wahrscheinlichkeit tatsächlich erkranken als XY-Tiere, und zwar unabhängig davon, ob sie mit männlichen oder mit weiblichen Keimdrüsen zur Welt gekommen sind.

Geschlechtschromosomen-Effekt beim Mausmodell für Multiple Sklerose

Ein Forscherteam um Rhonda R. Voskuhl versucht seit über einem Jahrzehnt, anhand von FCG-Mäusen zu ergründen, ob es an den Sexualhormonen oder an den sonstigen Wirkungen der Geschlechtschromosomen liegt, dass einerseits so viel mehr Frauen als Männer Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose (MS) oder Lupus bekommen, die Krankheiten andererseits bei männlichen Patienten oft dramatischer verlaufen als bei Frauen. Bereits 2005 stellten sie fest, dass bei einem Mausmodell für MS, nämlich der experimentellen Autoimmun-Enzephalitis (EAE), das männliche Sexualhormon Testosteron die Autoimmunreaktion auf das verabreichte Autoantigen hemmt: Es verlangsamt die Vermehrung autoreaktiver Immunzellen und senkt in den Lymphknoten die Konzentration der Botenstoffe TNFα, IFNΥ und IL-10. Bei kastrierten Männchen und Weibchen fiel der Unterschied geringer aus, aber er blieb erhalten. Das konnte entweder ein langfristiger Testosteroneffekt sein, etwa eine entzündungshemmende Prägung des Immunsystems oder des von der Erkrankung betroffenen Gewebes, oder ein hormonunabhängiger Geschlechtschromosomen-Effekt.

Um das zu klären, kreuzte das Team die oben eingeführten vier Genotypen in ein Mausmodell für MS ein. Bei Mäusen mit Keimdrüsen konnten sie keinen Einfluss der Geschlechtschromosomen auf die Stärke der Autoimmunreaktion feststellen, da die akute Hormonwirkung alles überdeckte. Bei Mäusen mit weiblichen Keimdrüsen, die eine Woche vor der Verabreichung des Autoantigens kastriert wurden, tat sich ein Unterschied auf: „Normale“ Weibchen (XXF) reagierten schwächer auf das Autoantigen als Weibchen mit Y-Chromosom (XYF = XY). In den Tieren mit einem Y-Chromosom vermehrten sich die Immunzellen nach der Stimulation durch das Autoantigen stärker, und sie hatten mehr TNFα, IFNΥ und IL-10 im Blut. Bei kastrierten XXM- und XYM-Mäusen war es genauso, allerdings nur, wenn zwischen Kastration und Autoantigen-Gabe genug Zeit verstrich, um das restliche Testosteron im Körper abzubauen, das andernfalls den Effekt überdeckte.

Damit war klar: Die schwächere Autoimmunreaktion der Männchen im ersten Teil des Experiments war auf die langfristigen Nachwirkungen des Testosterons zurückzuführen und nicht auf eine Schutzwirkung der Geschlechtschromosomen, denn diese wirken genau umgekehrt: Ein Y-Chromosom verstärkt die Autoimmunreaktionen – oder zwei X-Chromosomen schwächen sie ab. Die gegenläufige Wirkung von Testosteron und Geschlechtschromosomen in Männchen tauften die Autoren „Yin-Yang effect“. Nun ja.

Unklar blieb zunächst, welches der drei oben genannten Szenarien hinter der stärkeren, zur beschleunigten Neurodegeneration führenden Immunreaktion bei chromosomal männlichen Mäusen mit experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis steckt: bestimmte Gene auf dem Y-Chromosom, die höhere X-Chromosomen-Dosis in den XX-Mäusen oder die genomische Prägung (parental imprinting).

Ein X-Dosis-Effekt in den Immunzellen

Weitere, ähnlich angelegte Versuche desselben Teams am selben Mäusestamm erbrachten verwirrende Ergebnisse: Die Autoimmun-Enzephalitis verlief bei kastrierten XX-Tieren (mit oder ohne Sry) nicht etwa leichter, sondern klinisch schwerer als bei kastrierten XY-Tieren. Das lag offenbar nicht an einer größeren Empfindlichkeit ihres zentralen Nervensystems für Immunreaktionen, sondern an den Autoantigen-stimulierten Immunzellen, die, wenn sie aus chromosomal weiblichen Tieren stammten, mehr Schaden anrichteten als bei einer Herkunft aus chromosomalen Männchen.

Dasselbe galt für ein anderes Mausmodell, bei dem die Tiere eine Lupus-ähnliche Autoimmunkrankheit bekommen, wenn man ihnen die Chemikalie Pristan injiziert: Tiere mit einem XX-Chromosomensatz hatten schlechtere Überlebenschancen als solche mit XY-Chromosomensatz. Bei diesen Versuchen wirkten Ying (Testosteron) und Yang (XY-Chromosomensatz) in den Männchen also nicht gegenläufig, sondern in dieselbe Richtung.

Woran lag’s? In kastrierten XY-Tieren waren die Konzentrationen der an Th2-Immunreaktionen beteiligten Zytokine IL-5, IL-10 und IL-13 sowie in geringerem Ausmaß auch die Konzentrationen der Th1-Zytokine TNFα und IFNΥ höher als in kastrierten XX-Tieren. Zugleich exprimieren viele Immunzellen (vor allem Makrophagen und dendritischen Zellen) in XY-Mäuse das auf dem X-Chromosom angesiedelte Gen IL-13Rα2 schwächer als XX-Mäuse. Das Gen codiert einen Interleukin-Rezeptor, der als sogenannter decoy receptor Th2-Zytokine „ködern“ oder einfangen und damit unwirksam machen kann.

Den Zellen der XX-Mäuse stehen wegen der stärkeren IL-13Rα2-Ablesung also weniger Th2-Zytokine zur Verfügung, die Autoimmunreaktionen eindämmen können und damit vor experimenteller Autoimmun-Enzephalitis schützen. Auch bei anderen Mausmodellen für entzündlichen Erkrankungen mit Immunsystem-Überreaktion wurde eine selektive Erhöhung der IL-13Rα2-Expression nachgewiesen. Am einfachsten lässt sich die höhere Dosis des (zumindest in diesem Kontext) schädlichen Köder-Rezeptors mit einer unvollständigen X-Chromosom-Inaktivierung in XX-Mäusen erklären. Demnach handelt es sich um einen X-Dosis-Effekt.

Chimären

Es ist bekannt, dass im Gehirn besonders viele der Gene auf den Geschlechtschromosomen, insbesondere auf dem X-Chromosom, exprimiert werden. Daher wollte das Forscherteam in weiteren Versuchen klären, ob und wie die Geschlechtschromosomen neben der Stärke der Autoimmunreaktionen auch die Empfindlichkeit des zentralen Nervensystems für Beschädigungen durch diese Immunreaktionen beeinflussen.

Diese Frage klärten sie mit einem weiteren Mausmodell: Knochenmark-Chimären. Durch Bestrahlung zerstörten sie das Knochenmark und damit das Immunsystem von XX- und XY-Mäusen, die beide mangels Sry-Gen weibliche Keimdrüsen und entsprechend ein hormonell weiblich geprägtes zentrales Nervensystem hatten. Dann ersetzten sie es durch Knochenmark (und somit Immunsystem-Stammzellen) aus XX- oder XY-Mäusen. So entstanden vier Kombinationen:

  • XX-Immunsystem mit XX-Gehirn,
  • XX-Immunsystem mit XY-Gehirn,
  • XY-Immunsystem mit XX-Gehirn und
  • XY-Immunsystem mit XY-Gehirn.

Ein Parental-Imprinting-Effekt im zentralen Nervensystem 

Durch die Verabreichung von Antigenen wurde das Immunsystem dieser Chimären zu Autoimmunreaktionen im zentralen Nervensystem angeregt. Die Autoimmun-Enzephalitis verlief im XY-Gehirn dramatischer als im XX-Gehirn: Die Tiere konnten sich bald schlechter bewegen, ihre Nervenzellen hatten weniger intakte Myelinscheiden und Axone, und im Kortex waren mehr Synapsen verloren gegangen.

In den Kortex-Neuronen von XY-Gehirnen wurde auch der Rezeptor Tlr7 stärker exprimiert, der eine solche Neurodegeneration fördert. Die Geschlechtschromosomen-Ausstattung des Immunsystems dieser Mäuse beeinflusste den Effekt nicht. Das Gen Tlr7 liegt auf dem X-Chromosom; am Y-Chromosom kann es also nicht liegen. Ein X-Dosis-Effekt kann es auch nicht sein, denn dann müsste das Gen in XX-Mäusen stärker exprimiert werden.

Aber ein X-Chromosomen-Gen, das je nach seiner Herkunft (Mutter oder Vater) und seiner entsprechenden epigenetischen Markierung, also dem parental imprinting, unterschiedlich stark inaktiviert wird, kann den Effekt erklären. Alle X-Chromosomen in den XY-Mäusen stammen von der Mutter, da das Y-Chromosom nur vom Vater kommen kann. Aber nur etwa Hälfte aller Zellen in XX-Mäusen exprimiert das mütterliche Tlr7-Gen; in der anderen Hälfte stammt das Gen vom Vater. Wenn die epigenetische Markierung auf dem väterlichen X-Chromosom die Stilllegung dieses Gens fördert, verfügen XX-Mäuse insgesamt über weniger Tlr7 als XY-Mäuse, deren Nervensystem folglich stärker degeneriert.

Ich mach mir die Maus, widewide wie sie mir gefällt? 

Es gibt noch radikalere Versuche, den störenden Einfluss der Sexualhormone auf die Analyse der geschlechtschromosomalen Effekte auszuschließen: In den Embryonen der sogenannten SF1 knockout mouse verhindert eine Mutation im Gen SF1 (für steroidogenic factor 1) die Bildung von Keimdrüsen- und Nebennieren-Anlagen. Auch Teile des Hypothalamus und Hypophyse entwicklen sich nicht normal. Vor allem wegen der fehlenden Nebennierenrinde, dem Produktionsort der Corticosteroide, sterben die Tiere kurz nach der Geburt – es sei denn, man injiziert ihnen sofort Glucocorticoide und implantiert ihnen dann Nebennierenrinden-Gewebe aus intakten Mäusen.

Auch bei diesen Kreaturen unterscheiden sich die „Geschlechter“ (sofern man keimdrüsen- und sexualhormonlose Tiere mit XX- und mit XY-Chromosomen so nennen möchte) noch ein wenig, unter anderem im Körpergewicht und in der Expression eines Enzyms in einigen limbischen Gehirnstrukturen. Ob auch ihr Immunreaktionen Unterschiede aufweist, weiß ich nicht. Aber die Ergebnisse wären ohnehin sehr schwer zu interpretieren, denn diese Geschöpfe haben so viele Defekte, dass sich aus ihnen m. E. nicht viel über normale Säugetiere lernen lässt.

Und als wäre das alles nicht schon kompliziert und entmutigend genug, gibt es ein weiteres Mausmodell für Multiple Skerose, den C57BL/6-Stamm, bei dem die experimentelle Autoimmun-Enzephalitis bei Männchen und Weibchen und auch bei kastrierten Tieren mit allen vier Kern-Genotypen gleich häufig auftritt.

Zusammenfassung: Es ist kompliziert

Man kann also allerlei Mäuse züchten, Puzzle-artig zusammensetzen, zurichten, retten und opfern, um die normalerweise eng verwobenen, zum Teil gegenläufigen Effekte von Sexualhormonen, Geschlechtschromosomen-Genen und epigenetischen Markierungen dieser Gene voneinander zu trennen. Solche Experimente können beliebig kompliziert und artifiziell werden, liefern aber wichtige Hinweise auf mögliche Gründe für Geschlechtsunterschiede bei Autoimmunerkrankungsrisiken.

Leider lautet die Hauptbotschaft dieser Versuche: Es gibt keine einfache Antwort. Sexualhormone wirken sowohl lang- als auch kurzfristig, und zwar unter anderem auf das Immunsystem und auf das Gehirn. Die Geschlechtschromosomen beeinflussen ebenfalls verschiedene Systeme, darunter wiederum Immunsystem und Gehirn, und wirken den Sexualhormonen zum Teil entgegen. Darüber hinaus wirken sie auch von Organ zu Organ unterschiedlich – und über verschiedene Mechanismen, etwa X-Dosis und parentales Imprinting. Bei einigen Mausmodellen für Autoimmunerkrankungen scheinen diese Mechanismen jedoch keine Rolle zu spielen – oder sich gegenseitig aufzuheben. Und das heißt: Man muss eben doch jede Autoimmunerkrankung einzeln untersuchen, an Mäusen, aber auch an Menschen.

Literatur:

Ältere Blogbeiträge mit Literaturzusammenfassungen:

Auswertung Wissenschafts-Newsletter, Teil 2

Weitere Meldungen der letzten Monate, zunächst wieder zum Mikrobiom:

Manipuliert uns unsere Darmflora? Artikel über eine im August veröffentlichte Studie, der zufolge Darmbakterien die Stimmung ihrer Wirte so beeinflussen, dass diese Nahrung zu sich nehmen, die den Bakterien zugute kommt. Keimfrei aufgezogene Mäuse haben z. B. veränderte Geschmacksrezeptoren, und Darmbakterien wie Escherichia coli produzieren Dopamin. Die Anwesenheit bestimmter Bakterien beeinflusst über solche Signalstoffe die Nerven des Verdauungstrakts, dessen Signale über den Vagusnerv ans Gehirn weitergeleitet werden. Der Vagusnerv beeinflusst unser Essverhalten und Körpergewicht.

Dick durch Jetlag und Schichtarbeit? Eine im Oktober in Cell veröffentlichte Studie deutet darauf hin, dass Jetlag und Schichtarbeit uns dick macht, indem sie nicht nur unsere innere Uhr, sondern auch die inneren Uhren unserer Darmflora verstellen. Mäuse, die unregelmäßigen Hell-Dunkel- sowie Fütterungsrhythmen ausgesetzt sind und kalorienreiche Kost erhalten, haben eine anders zusammengesetzte Darmflora und werden dicker als solche, die einen normalen Rhythmus beibehalten können. Auch bei zwei Menschen mit Jetlag nach einer Fernreise veränderte sich die Zusammensetzung der Darmflora: Begünstigt wurden Bakterien, die mit Übergewicht und Diabetes in Zusammenhang gebracht werden.

The Rise of Celiac Disease Still Stumps Scientists: Bericht über zwei im Oktober im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studien zu Zöliakie, deren Ergebnisse zwei beliebten Hypothesen widersprechen. Erstens scheint die Wahrscheinlichkeit, an Zöliakie zu erkranken, nicht zu sinken, wenn man bei Kleinkindern die Einführung von glutenhaltiger Nahrung hinauszögert. Bestenfalls bricht die Zöliakie etwas später aus. Zweitens lässt sich die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei Kindern mit einer entsprechenden genetischen Prädisposition auch durch „Desensibilisierung“, also durch kleine Glutenbeimischungen zur Muttermilch, nicht senken.    Weiterlesen

Frank Ryan: Virolution – Die Macht der Viren in der Evolution, Kap. 7

Fortsetzung meiner Exzerpte von Kap. 5 und Kap. 6, ebenfalls noch nicht allgemeinverständlich aufbereitet

7. Machen endogene Retroviren uns krank?

Mutationen können in Wirbeltiergenen neue Stopcodons erzeugen, also jene Drei-Basen-Signale, die der Transkriptionsmaschinierie im Zellkern das Ende eines Gens anzeigen. Ein Stopcodon mitten in einem Gen sorgt dafür, dass die Messener-RNA zu kurz gerät und normalerweise nicht als Bauanleitung für ein funktionsfähiges Protein dienen kann.

Dasselbe kann auch in den Gensequenzen endogener Retroviren geschehen, aber diese können durch Rekombination mit dem Erbgut weiterer endogener oder exogener Viren repariert und somit „wiederbelebt“ werden. (Rekombination ist auch für die Häufigkeit und Heftigkeit von Grippe-Epidemien verantwortlich: Das „Schweinegrippe“-Virus beispielsweise ist ein Patchwork aus Menschen-, Schweine- und Vogelviren aus Nordamerika, Europa und Asien.) Zudem kann eine durch ein Stopcodon verkürzte virale Sequenz im holobiontischen Genom einfach eine neue Funktion übernehmen.   Weiterlesen