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Transkriptionsfaktor als Strippenzieher: Warum vor allem Frauen an Lupus erkranken

Zu den Autoimmunerkrankungen mit deutlichem Frauenüberschuss zählt der Systemische Lupus erythematosus (SLE), kurz Lupus: Auf einen männlichen Erkrankten kommen etwa neun weibliche Betroffene; dafür erwischt es Männer oft stärker. Schon das spricht gegen einen einfachen ursächlichen Zusammenhang mit unseren Sexualhormonen nach dem Motto: Estrogen schlecht, Testosteron gut. Es muss zumindest weitere Faktoren geben, die das Geschlecht als Risikofaktor mit dem tatsächlichen Ausbruch und Verlauf der Krankheit verbinden.

Solche Zusammenhänge aufzuklären, ist methodisch ganz schön anspruchsvoll. Eine solche Arbeit stelle ich hier vor, denn der Aufwand hat sich gelohnt: Die Autoren haben ein Netzwerk von Genen aufgespürt, das vor allem in Frauen aktiv ist und das bei Lupus-Patientinnen und -Patienten zu Entzündungen und anderen Immunreaktionen beiträgt. Aktiviert wird es von einem wenig bekannten Transkriptionsfaktor, der in gesunden Frauen viel stärker exprimiert wird als in gesunden Männern: VGLL3. (Sein Langname ist nichtssagend und wenig einprägsam, drum erspare ich ihn uns.) Dasselbe Genregulierungsnetzwerk ist offenbar auch an weiteren Autoimmunerkrankungen mit Frauenüberhang beteiligt, darunter systemische Sklerose und Sjögren-Syndrom.

Frauenhaut ≠ Männerhaut

Da hat die Kosmetikindustrie ausnahmsweise recht, wenngleich das mit ihren Produkten herzlich wenig zu tun hat: Es gibt zahlreiche Unterschiede zwischen Frauen- und Männerhaut. Die Autoren haben Transkriptiomanalysen durchgeführt, also die Messenger-RNA (mRNA) aus weiblichen und männlichen Hautzellen sequenziert und so herausgefunden, dass 661 Gene in diesem Organ – und zwar im gesunden Zustand – in einem Geschlecht stärker abgelesen („transkribiert“) werden als im anderen. In Männerhaut ist die Ablesung von 268 Genen hochreguliert, in Frauenhaut werden 393 Genen stärker transkribiert. Diese Gene verteilen sich auf all unsere 23 Chromosomen, sind also bei weitem nicht nur auf den Sex-Chromosomen X und Y angesiedelt, wo ein Unterschied ja nicht weiter verwunderlich wäre: Gene auf dem Y-Chromosom fehlen in Frauen ganz, und Gene auf dem X-Chromosom kommen in Frauen in doppelter Ausführung vor, in Männern dagegen in Einzahl.

Die Zahl 661 ist schon beeindruckend genug, aber die Geschlechtsunterschiede in der Haut gehen noch viel weiter: Die Autoren untersuchten als Nächstes, inwieweit die Ablesestärke dieser 661 Gene mit der Ablesestärke aller anderen Gene in Hautzellen korreliert. Zum Beispiel: Gibt es in den Hautzellen einer Person besonders viel mRNA mit der Erbinformation von Gen A, so enthalten diese Zellen meist auch besonders viel (oder, bei einer negativen Korrelation, besonders wenig) RNA von Gen B. Sie fanden sage und schreibe 124.521 Gen-Paare, deren Expression nur in der weiblichen Haut korreliert, und 158.303 Gen-Paare, deren Ableseniveaus nur in der männlichen Haut Hand in Hand gehen. Das deutet auf riesige geschlechtsspezifische Genregulierungsnetzwerke hin, die über das gesamte Genom verteilt sind.

In Frauenhaut stark abgelesene Gene sind mit Autoimmunität assoziiert

Die biologische Funktion vieler dieser Gene ist bekannt. Auffällig viele der in Frauenhaut verstärkt transkribierten Gene sind an Immun- und Entzündungsreaktionen – insbesondere an der sogenannten Komplement-Aktivierung – beteiligt. Auf die bei Männern verstärkt abgelesenen Gene trifft das nicht zu. Die Autoren identifizierten eine recht große Schnittmenge zwischen den in Frauenhaut verstärkt abgelesenen Genen und den Risikogenen für Lupus und für systemische Sklerose, zwei Autoimmunerkrankungen mit hohem Frauenanteil. Unter den Genen, die in Männerhaut vermehrt transkribiert werden, fanden sie keine derartigen Assoziationen.

Deutlich erhöht war bei den Frauen zum Beispiel die Herstellung der Proteine BAFF und Integrin α-M, die bei vielen Lupus-Patientinnen im Übermaß vorliegen. Das frauentypische Lupus-Risikogen-Ablesemuster beschränkte sich nicht auf Hautzellen, sondern tauchte auch in Immunzellen wie Monozyten, B- und T-Zellen auf. In der Haut und den Monozyten von Frauen mit Lupus wurden diese Gene außerdem noch stärker abgelesen als in den Zellen gesunder Frauen.

Molekulare Mechanismen: Die Hormone sind es nicht 

Häufig werden Sexualhormone für eine geschlechtsspezifisch verstärkte Expression bestimmter Proteine verantwortlich gemacht. Schließlich können die Hormone an Rezeptoren auf oder in unseren Zellen binden und damit Signalketten auslösen, die zum Andocken von Transkriptionsfaktoren an die Promotor-Regionen bestimmter Gene führen. (Wer sich in Erinnerung rufen will, wie Transkriptionsfaktoren überhaupt arbeiten, kann sich hier die Schritte 9 und 10 am unteren Bildrand ansehen.) Um das zu prüfen, haben die Autoren Estradiol – eine wichtige Form von Estrogen – und Testosteron in physiologischer, also „normaler“, und in 100-fach erhöhter Konzentration auf Kulturen menschlicher Hautzellen einwirken lassen und die mRNA-Produktion in diesen Zellen analysiert: Die Sexualhormone veränderten Ablesestärke der Immunsystem-Gene nicht.

Es gibt aber auch zahlreiche Transkriptionsfaktoren, die nicht von Sexualhormonen in Gang gesetzt werden. Sechs von ihnen – darunter VGLL3 – werden in Hautzellen von Frauen sehr viel stärker hergestellt als in denen von Männern. Die Autoren konnten die Herstellung von fünf dieser Transkriptionsfaktoren gezielt ausschalten, indem sie die mRNA, mit der die Bauanleitung aus dem Zellkern zu den Proteinfabriken im Zytoplasma transportiert wird, durch komplementäre RNA-Stränge blockierten (sogenannte RNA-Interferenz oder RNAi). Schalteten sie die Produktion von VGLL3 aus, so ging speziell die Ablesestärke der kritischen Immunsystem-Gene stark zurück. Bei den übrigen vier Transkriptionsfaktoren war das nicht der Fall.

VGLL3 fördert die Ablesung vieler Autoimmunitäts-Risikogene

In gesunden weiblichen Hautzellen hält sich VGLL3 vor allem im Zellkern auf, in gesunden männlichen Hautzellen ist es über Zellkern und Zytoplasma verteilt. In den Hautzellen von Lupus-Patienten befindet sich der Transkriptionsfaktor dagegen unabhängig vom Geschlecht stets im Kern. Neben BAFF und Integrin α-M kurbelt VGLL3 offenbar in der Haut die Herstellung von sieben weiteren Immunsystem-Proteinen an. Insgesamt verstärkt es in Hautzellen die Ablesung von gut 200 Genen. Unter den Genen, die in weiblicher Haut verstärkt abgelesen werden, sind auffällig viele dieser von VGLL3 regulierten Gene – unter den in männlicher Haut verstärkt abgelesenen Genen dagegen nicht.

Von 97 (also 47 Prozent) der VGLL3-regulierten Gene sind Varianten bekannt, die das Risiko für Autoimmunerkrankungen erhöhen. Darunter ist zum Beispiel das Gen für das Enzym Matrix-Metallopeptidase 9, das in Patienten mit Lupus, Multipler Sklerose, Sjögren-Syndrom, Polymyositis und rheumatoider Arthritis stärker produziert wird als in Gesunden.

Auch Gene für weitere Transkriptionsfaktoren sind unter den VGLL3-Zielgenen. So können sich riesige geschlechtsspezifische Regulierungskaskaden aufbauen: Ein primärer Transkriptionsfaktor wird in einem Geschlecht stärker produziert und erhöht durch Andocken an seine Zielgene unter anderem die Produktion sekundärer Transkriptionsfaktoren, die wiederum an zahlreiche Zielgene andocken, und so weiter. Bestimmte Varianten des VGLL3-regulierten Transkriptionsfaktor-Gens ETS1 sind mit Lupus, rheumatoider Arthritis und Morbus Bechterew assoziiert.

In Patienten-Biopsien bestätigt

Bis hierhin hatten die Autoren das Wirken von VGLL3 lediglich in Hautzellen gesunder Probanden und in Zellkulturen untersucht. Die vermutete Schlüsselrolle von VGLL3 bei Autoimmunerkrankungen mit Frauenüberhang wollten sie nun durch weitere Transkriptomanalysen überprüfen, und zwar in Hautproben von Patienten mit drei primär die Haut betreffenden Autoimmunerkrankungen, die bei Frauen deutlich häufiger sind als bei Männern: subakuter kutaner Lupus erythematosus oder SCLE, Morphea oder zirkumskripte Sklerodermie und schließlich limitierte Sklerodermie.

Unter den Genen, die bei SCLE verstärkt abgelesen werden, werden demnach 51 von VGLL3 hochreguliert – darunter etliche, deren Protein-Produkte auf Typ-1-Interferone reagieren, was für SCLE typisch ist. Schalteten die Forscher den Transkriptionsfaktor VGLL3 mit der oben erwähnten Technik der RNA-Interferenz aus, ging die Ablesung von Genen, die bei SCLE normalerweise hochreguliert sind, deutlich stärker zurück als die anderer Gene, die mit der Erkrankung nichts zu tun haben.

Bezeichnenderweise fielen die Unterschiede in der Ablesestärke von VGLL3 und den VGLL3-regulierten Genen zwischen den SCLE-Patientinnen und -Patienten viel kleiner aus als zwischen gesunden Frauen und Männern. Genau das war zu erwarten: Bricht eine Autoimmunerkrankung mit starkem Frauenüberhang doch einmal bei einem Mann aus, so gleicht sich sein Gentranskriptionsprofil dem der Frauen an.

Auch in anderen Organen trägt VGLL3 zu Autoimmunerkrankungen mit Frauenüberhang bei

In der Haut von Patientinnen und Patienten mit den beiden anderen untersuchten Autoimmunerkrankungen werden VGLL3-regulierte Gene ebenfalls deutlich stärker abgelesen als in der Haut von Gesunden. Um herauszufinden, ob dieser Zusammenhang womöglich hautspezifisch ist, untersuchten die Forscher auch Proben aus den Speicheldrüsen von Patienten mit Sjögren-Syndrom und von Gesunden: Im erkrankten Drüsengewebe wurden das Gen für VGLL3 und dessen Zielgene deutlich stärker abgelesen als im gesunden Drüsengewebe.

Das galt zum Beispiel für die Gene, die das Zytokin IL-7 und den IL-7-Rezeptor codieren. Man weiß, dass IL-7 beim Sjögren-Syndrom stark am Krankheitsgeschehen beteiligt ist: Das Zytokin verstärkt die Reaktion von T-Helferzellen von Typ 1 (Th1) und damit die Aktivierung von Monozyten und B-Zellen, und es führt zur Produktion von Gamma-Interferon sowie Chemokinen, die weitere Lymphozyten in das entzündete Gewebe locken.

Bei Lupus verändern sich nicht nur die Hautzellen, sondern auch die Monozyten: Immunzellen der angeborenen Abwehr, die zum Beispiel zur Aktivierung von T-Zellen und zur Reifung von B-zellen beitragen. Die Autoren stellten nun fest, dass auch in den Monozyten von Lupus-Patienten eine erhöhte VGLL3-Produktion zu einer übermäßigen Typ-1-Interferon-Reaktion und damit zu den Entzündungen beiträgt.

Die übermäßige Produktion und Aktivität dieses Transkriptionsfaktors ist also keineswegs auf Lupus und auch nicht auf die Haut beschränkt.

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden …

Das Fazit: Mit ihrem aufwändigen Vorgehen haben die Autoren in mehreren Schritten nachgewiesen, dass der Transkriptionsfaktor VGLL3 tatsächlich ein Schlüsselelement in der Pathogenese etlicher Autoimmunerkrankungen mit Frauenüberschuss ist – und zwar nicht nur bei den Patientinnen: Auch bei den betroffenen Männern wird die Produktion von VGLL3 und damit die Ablesung seiner Zielgene hochgefahren, sobald die Krankheit ausbricht.

Unter den Zielgenen von VGLL3 sind etliche Gene des Immunsystems, von denen schon länger bekannt ist, dass gewisse Varianten in ihnen Entzündungen fördern und das Risiko für verschiedene Autoimmunerkrankungen erhöhen – darunter Lupus, systemische Sklerose, Multiple Sklerose, Sjögren-Syndrom, Polymyositis und rheumatoide Arthritis. Das macht die Blockade von VGLL3 zu einer attraktiven indikationsübergreifenden Therapieoption.

Abzuwarten ist allerdings, welche – womöglich geschlechtsspezifischen – Nebenwirkungen bei einer Blockade dieses Strippenziehers eines weit verzweigten Genregulierungs-Netzwerks auftreten können: Schließlich dürfte die VGLL3-Expression bei gesunden Frauen nicht aus Jux und Dollerei höher ausfallen als bei den Männern.

Literatur

Y. Liang et al. (2016): A gene network regulated by the transcription factor VGLL3 as a promoter of sex-biased autoimmune diseases

Geschlechtsspezifische Unterschiede im Mikrobiom von Menschen mit chronischem Erschöpfungssyndrom

Vor knapp zwei Jahren war ich noch skeptisch und auch ein wenig spöttisch, was das sogenannte Mikrogenderom angeht. Damals waren geschlechtsspezifische Unterschiede im Mikrobiom, die mit Autoimmunerkrankungen korrelieren, ausschließlich bei einem Tiermodell für Diabetes (NOD-Maus) nachgewiesen. Die in der Fachpresse suggerierte Übertragbarkeit auf den Menschen erschien mir fraglich, da man bis dahin nur bei traditionell lebenden Hadza in Tansania gewisse Unterschiede in der Zusammensetzung der Bakterienpopulationen im Darm gefunden hatte, die vermutlich auf die unterschiedliche Kost von Männern und Frauen zurückgehen: „Mag sein, dass wir nur noch genauer hinsehen müssen, um auch in anderen menschlichen Populationen geschlechtsspezifische Darmflora-Nuancen zu entdecken, die, wenn es sie gibt, dann vermutlich auch (auf höchst subtile und verschachtelte Weise) mit unserem Immunsystem wechselwirken und insofern womöglich ihr Scherflein zu den höheren Autoimmunerkrankungsrisiken von Frauen beitragen. Aber das ist noch ein langer Weg, den wir auch ohne Kunstworte aus der Hölle beschreiten können.“

Inzwischen sind wir einen Schritt weiter: Ein australisches Autorenteam um Amy Wallis hat 2016 und 2017 auf kleine bis mittelstarke geschlechtsspezifische Interaktionen zwischen Darmbakterien aus der Abteilung der Firmicutes und den Symptomen von Menschen mit chronischem Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom (CES) hingewiesen.

CES trifft Frauen häufiger und schwerer

CES ist eine chronische Erkrankung unter Beteiligung des Nerven- und Immunsystems, die sich unter anderem durch pathologische Abgeschlagenheit und starke Erschöpfung bereits nach leichter körperlicher Betätigung auszeichnet. Die Ursachen sind nicht bekannt, und wie bei einigen Autoimmunerkrankungen belasten die schwierige, oftmals um Jahre verzögerte Diagnose und ärztliche Ignoranz die Betroffenen zusätzlich. Einiges spricht für eine starke Beteiligung des Immunsystems an der Erkrankung, aber offenbar eher des angeborenen als des erworbenen Arms unserer Abwehr. Damit ist CES wohl keine Autoimmunerkrankung, sondern eher eine chronische Entzündung.

Wie viele Autoimmunerkrankungen trifft auch CES mehr Frauen als Männer, etwa im Verhältnis 2:1. Bei 9 von 13 durch Fragebögen erhobenen Faktoren berichteten die hier befragten Patientinnen stärkere CES-Symptome als Patienten, was vermutlich nicht auf ein sogenanntes overreporting, also – salopp gesagt – eine größere Wehleidigkeit von Frauen zurückzuführen ist, sondern tatsächlich auf schwerere Beeinträchtigungen. So gehen die höheren Symtomberichtswerte von Frauen oftmals mit höheren Zytokinwerten im Blut einher.

Bakteriensuppe durchsequenzieren – oder Bakteriengattungen kultivieren?

Interessanterweise mussten die Forscher nun ganz genau hinschauen, um geschlechtsspezifische Unterschiede in der Darmflora der untersuchten und befragten 274 Patientinnen und Patienten zu entdecken. Grundsätzlich kann man die Zusammensetzung der Darmflora auf zwei Weisen analysieren:

Entweder durch Metagenomik, also indem man – wiederum salopp gesagt – eine Stuhlprobe komplett durch einen DNA-Sequencer jagt und die gefundenen Basensequenzen mit Datenbanken abgleicht, in denen die Erbinformationen von Bakterien hinterlegt sind. So findet man sehr viele Bakterienarten oder sogar -stämme, aber man weiß nicht, ob es sich bei diesen Organismen um etablierte „Mitbewohner“ handelt oder um Verunreinigungen oder „Durchreisende“, etwa aus einer Mahlzeit oder einer akuten Infektion.

Oder durch den Versuch, möglichst viele der Organismen in Kulturmedien anzusiedeln, die den Lebensbedingungen im Darm nahekommen, und sie auszuzählen. Bei dieser Kultivierung kann man nur die Gattung der Bakterien bestimmen, aber dafür kann man gut abschätzen, wie groß ihr Anteil an der Darmflora ist. Die Forscher haben sich für Letzteres entschieden.

Gut für das eine Geschlecht, schlecht für das andere?

Auf der Ebene der Bakterien-Gattungen waren die Mikrobiome der Frauen und Männer im Durchschnitt nahezu gleich zusammengesetzt. Aber es gab zahlreiche Korrelationen zwischen den CES-Symptomstärken und dem Anteil der Gattungen im Mikrobiom der Patientinnen und Patienten – und viele dieser positiven wie negativen Korrelationen waren geschlechtsspezifisch. Beispielsweise kamen im Darm von Frauen, die besonders starke Erschöpfung nach körperlichen Tätigkeiten angaben, mehr Clostridien vor als im Darm von Patienten, die nach einer Kraftanstrengung weniger erschöpft waren – aber bei Männern, die stark unter diesem CES-Symptom litten, war der Clostridien-Anteil nicht erhöht. Zweites Beispiel: Im Darm männlicher Patienten, die besonders stark unter Schmerzen litten, fanden sich deutlich weniger Eubakterien als bei Betroffenen, die schwächere Schmerzen hatten – aber auch weniger als bei Frauen, die besonders starke Schmerzen hatten. Der Darm von Frauen mit starken Schmerzen enthielt dafür signifikant weniger Streptokokken als der Darm von Betroffenen mit schwächeren Schmerzen – aber auch von Männern mit starken Schmerzen.

Besonders stark klafften die Korrelationen zwischen Bakterienhäufigkeit und Symptomstärke bei der letztgenannten Gattung auseinander: Bei 9 der 13 erhobenen Symptomfaktoren unterschieden sich die Korrelationen zwischen männlichen und weiblichen CES-Patienten signifikant, und stets war die Korrelation bei den Frauen negativ und bei den Männern positiv. Wollte man diese Zusammenhänge kausal interpretieren, hieße das: Streptokokken schützen Frauen vor heftigen Symptomen, verstärken aber die Belastung der Männer durch die Krankheit.

Das andere Extrem waren die Bifidobakterien, die nicht zur Abteilung Firmicutes gehören, sondern zu den Actinobakterien: Nur bei einem einzigen Symptom unterschied sich die Korrelation zwischen Bifidobakterien-Häufigkeit im Darm und Symptomschwere signifikant zwischen den Geschlechtern; insgesamt schienen diese Bakterien – wiederum kausal gedeutet – beide Geschlechter eher vor schweren Symptomen zu schützen.

Wie wirkt der Darminhalt auf das Nervensystem ein?

Über die Mechanismen, die solche kausalen Zusammenhänge möglicherweise vermitteln, konnten die Autoren nur Hypothesen aufstellen, denn ein mutmaßlich entscheidender Vermittlungsweg – der Hormonstatus – war bei den Patientinnen und Patienten nicht erhoben worden. Bekannt ist, dass viele Darmbakterien Hydroxysteroid-Dehydrogenasen produzieren, also Enzyme, die Vorformen von Sexualhormonen verstoffwechseln und so zum Beispiel den Estrogen-Pegel im Körper beeinflussen können. Unsere Sexualhormone wiederum docken an die Hormonrezeptoren vieler Zellen an und beeinflussen so unter anderem das Immun- und das Nervensystem – und damit zum Beispiel unsere Schmerzwahrnehmung.

Es gibt aber auch einen Rückkanal, und damit ist die Richtung des Kausalzusammenhangs offen: Ein durch eine Erkrankung aus dem Lot geratenes Hormonsystem kann die Darmflora durcheinander bringen, teils durch direkte Einwirkung auf die Bakterien, teils vermittelt durch die Darmschleimhautzellen. Und schließlich könnte beides – ein Ungleichgewicht in der Darmflora und starke CES-Symptome – Folge von etwas Drittem sein, zum Beispiel von Vorlieben für bestimmte Nahrungs- oder Genussmittel. Ernährungsgewohnheiten wiederum können vom Geschlecht beeinflusst sein, teils kulturell, teils hormonell vermittelt. Vor allem bei männlichen CES-Patienten scheint der D-Laktat- oder -Milchsäure-Spiegel im Blut sowohl mit der Schwere kognitiver und neurologischer Symptome als auch mit der übermäßigen Vermehrung bestimmter Bakterien im Darm zusammenzuhängen.

Ignorieren gilt nicht

Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur der aktuelle Hormonspiegel geschlechtsspezifische Interaktionen – etwa zwischen Darmflora und Gehirn – vermitteln kann, sondern unter Umständen auch der ehemalige Hormonstatus des Embryos oder des Neugeborenen. Denn wie ich im übernächsten Beitrag darlegen werde, prägt insbesondere Testosteron die Entwicklung des männlichen Nerven- und Immunsystems bereits kurz vor und nach der Geburt, in der sogenannten Minipubertät. Obwohl Jungen während ihrer Kindheit kaum noch Testosteron produzieren, hält diese frühe Wirkung an, weil sie sich epigenetisch dauerhaft niederschlägt: durch die Methylierung der DNA und damit die Ablesbarkeit zahlreicher Gene auf all unseren Chromosomen.

Dieses Durcheinander aufzuklären, wird nicht leicht. Dazu müsste man (1.) in allen klinischen Studien zwischen Männern und Frauen und möglichst auch in allen präklinischen Tierversuchen zwischen Männchen und Weibchen unterscheiden, (2.) stets auch den Hormonstatus ermitteln – und (3.) die Zusammensetzung des Mikrobioms noch genauer aufklären, am besten durch Kombination beider oben erläuterter Ansätze (Metagenomik und Kulturen).

Einfach nur die durchschnittliche Häufigkeit der Bakterien-Gattungen in Proben aus Männern und Frauen zu vergleichen und dabei keine Auffälligkeiten festzustellen, reicht jedenfalls nicht aus, um die Existenz und medizinische Bedeutung eines Mikrogenderoms beim Menschen auszuschließen.

Literatur

A. Wallis et al. (2016): Support for the Microgenderome: Associations in a Human Clinical Population

A. Wallis et al. (2017): Support for the microgenderome invites enquiry into sex differences

 

Noch einmal: Geschlecht, Hormone, Immunsystem

Dieser Beitrag wird lang, trocken und abstrakt, und er enthält nur ein einziges eigenes Bild, und es bleibt kompliziert. Genau genommen ist er trotz langen Ringens mit dem Stoff nahezu unlesbar. Sorry. Ich musste das einfach mal notieren, um selbst nicht immer wieder durcheinander zu kommen. Im Buch landet dann eine weniger technische und überfrachtete Quintessenz.

Wann ist ein Mann ein Mann?

Und was macht eine Frau zur Frau, biologisch betrachtet? Das ist zum Glück bei Menschen, Mäusen und allen anderen Säugetieren grundsätzlich ähnlich geregelt: Neben einer Reihe „normaler“ Chromosomen, den sogenannten Autosomen, gibt es Geschlechtschromosomen – auch Gonosomen oder Heterochromosomen genannt. Während wir in jeder Körperzelle (abgesehen von unseren Keimzellen, also Eizellen oder Spermien) einen doppelten, zur Hälfte von der Mutter und zur Hälfte vom Vater stammenden Satz vom Aufbau her identischer Autosomen tragen, gilt das bei den Geschlechtschromosomen nur für die Frauen bzw. Weibchen, die von beiden Eltern je ein sogenanntes X-Chromosom erben. Männer bzw. Männchen erben dagegen von der Mutter ein X-Chromosom und vom Vater ein Y-Chromosom.

Das Y-Chromosom sieht unter dem Elektronenmikroskop im Grunde gar nicht wie ein Y aus; es ist einfach sehr klein und knubbelig und enthält viel weniger codierende, d. h. als Proteinbauanleitungen dienende Gene, nämlich 72 auf gut 57 Millionen Basenpaaren, als das X-Chromosom mit seinen 819 codierenden Genen auf 156 Millionen Basen­paaren. Evolutionär stammt das Y- wohl vom X-Chromosom ab, aber das ist schon sehr lange her: 240 bis 320 Millionen Jahre. An beiden Enden enthält es sogenannte pseudoautosomale Sequenzen, die direkte Entsprechungen auf den Enden des X-Chromosoms haben. Dadurch kommt es während der Meiose (der Reduktionsteilung, die bei der Bildung von Keimzellen den doppelten zu einem einfachen Chromosomensatz reduziert) an diesen Stellen zur Rekombination zwischen X- und Y-Chromosom, wie es sonst nur bei den Autosomen üblich ist. Die nicht pseudoautosomalen Sequenzen von X- und Y-Chromosom können dagegen schon sehr lange nicht mehr rekombinieren und tragen mittlerweile völlig unterschiedliche Gene.

Ein einzelnes Gen sorgt für Hoden

Die nicht pseudoautosomale Sequenz des kurzen Arms des Y-Chromosoms enthält das geschlechtsbestimmende Sry-Gen (für „sex-determining region of Y“), das ein Protein namens TDF codiert (für „testis determining factor“, zu Deutsch: Hoden-determinierender Faktor). Im jungen Embryo entstehen zunächst geschlechtsneutrale Keimdrüsen-Anlagen. Sobald im männlichen Embryo das Sry-Gen abgelesen wird, was beim Menschen ab der 7. Entwicklungswoche der Fall ist, regt das Protein TDF bestimmte Zellen in diesen Anlagen zur Testosteron-Produktion an, und aus den Keimdrüsen-Anlagen werden Hoden. In Abwesenheit eines Y-Chromosoms und damit des Sry-Gens entstehen dagegen Eierstöcke.

Ein Testosteron-Gen gibt es nicht

Es drängt sich die Frage auf, wo denn die Gene für Testosteron und die anderen Sexualhormone liegen – etwa auch auf den Geschlechtschromosomen? Die naive Annahme, die Bauanleitung für das männliche Sexualhormon sei wohl auf dem männlichen Geschlechtschromosom zu finden, kann nicht stimmen: Auch Frauen produzieren und benötigen Testosteron, und sie haben kein Y-Chromosom. Liegt das Gen also auf einem der Autosomen, die beiden Geschlechtern gemeinsam sind? Nein, es liegt nirgends: Es gibt kein Testosteron-Gen. Testosteron ist nämlich kein Protein, und Gene codieren nur Proteine.

Unsere Sexualhormone sind Steroidhormone, die in mehreren Schritten unter Beteiligung etlicher Enzyme aus (größtenteils vom Körper selbst hergestelltem) Cholesterin hergestellt werden, und zwar in den Keimdrüsen sowie der Nebennierenrinde. Gesteuert wird die Herstellung von der Hypophyse und dem Hypothalamus im Gehirn. Das Sexualhormonsystem ist so komplex und omnipräsent, dass es sinnlos wäre, ein bestimmtes Gen oder auch nur ein bestimmtes Chromosom für zuständig zu erklären. Einen guten Eindruck vermittelt diese Creative-Commons-Grafik:

Steroidogenesis
Häggström M, Richfield D (2014). „Diagram of the pathways of human steroidogenesis“. Wikiversity Journal of Medicine 1 (1). DOI:10.15347/wjm/2014.005. ISSN 20018762. (Self-made using bkchem and inkscape) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

Hormon- und Chromosomen-Wirkungen überlagern sich

An der Ausbildung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern (beispielsweise in der Muskulatur, im Immunsystem oder im Gehirn, somit auch im Verhalten) sind weitere Gene auf dem X- und dem Y-Chromosom beteiligt, deren Wirkung nicht so gut erforscht ist wie die des Sry-Gens. Dass sie so schwer zu erforschen sind, liegt unter anderem an den Sexualhormonen, vor allem am Testosteron. Es wird bereits ab dem ersten Schwangerschaftsdrittel im Embryo produziert und prägt die gesamte weitere Entwicklung des Organismus dauerhaft. Deswegen lässt sich der reine, unverfälschte Einfluss der Geschlechtschromosomen auch nicht erforschen, indem man die neugeborenen Mäuse kastriert, sodass sie kein Testosteron mehr produzieren: Das Hormon hat dann bereits irreversible Wirkungen gezeitigt.

Selbst wenn die Hormone die geschlechtsspezifischen Effekte der Ablesung von Genen auf den Geschlechtschromosomen nicht überdecken würden, wäre es noch schwer zu ermitteln, ob und wie nun das X- oder das Y-Chromosom für einen Effekt verantwortlich ist. Wenn beispielsweise eine Erkrankung bei Männern häufiger auftritt oder dramatischer verläuft als bei Frauen, liegt das an der Ablesung eines Gens auf dem Y-Chromosom? Oder an der elternspezifischen genomischen Prägung, dem sogenannten parental imprinting, also der Tatsache, dass in allen Zellen eines Mannes das einzige, stets von der Mutter geerbte X-Chromosom aktiv ist (maternal imprinting), während im Körper einer Frau in etwa jeder zweiten Zelle das vom Vater geerbte X-Chromosom abgelesen wird (paternal imprinting)? Oder daran, dass Frauen eben zwei X-Chromosomen haben und damit u. U. über die doppelte Dosis bestimmter (in diesem Beispiel: vor Erkrankung schützender) Gene verfügen, die von der X-Inaktivierung (s. u. ) ausgenommenen sind?

Turner-Frauen, Klinefelter-Männer und der X-Dosis-Effekt

Beim Menschen lassen sich die Effekte der Geschlechtschromosomen und der Sexualhormone nicht entkoppeln, aus ethischen und aus praktischen Gründen. Gewisse Anhaltspunkte lassen sich aber aus der Untersuchung von Menschen ableiten, die nicht über den üblichen Geschlechtschromosomensatz verfügen. In der Fachliteratur werden sie häufig als experiments of nature bezeichnet.

Beim sogenannten Turner- oder Ullrich-Turner-Syndrom fehlt einer Frau eines der beiden X-Chromosomen; ihr Chromosomensatz wird als 45,X0 statt 46,XX notiert. Obwohl die Betroffenen meist ab dem Alter, in dem die Pubertät einsetzen sollte, mit Estrogen behandelt werden, hormonell also „normalen“ Frauen näherstehen als „normalen“ Männern, erkranken sie ähnlich selten wie Männer an bestimmten Autoimmunerkrankungen wie Lupus. Hier kann man einen sogenannten X-Dosis-Effekt vermuten: Irgendein Faktor, der auf dem X-Chromosom codiert ist und bei „normalen“ Frauen auf beiden Exemplaren abgelesen wird, erhöht das Erkrankungsrisiko. Hormonelle Einflüsse sind aber nicht völlig auszuschließen.

Ähnlich sieht es bei Männern aus, die neben ihrem Y-Chromosom zwei X-Chromosomen haben (Chromosomensatz 47,XXY statt 46,XY). Männer mit diesem sogenannten Klinefelter-Syndrom haben ein ebenso hohes Risiko, an Lupus zu erkranken, wie Frauen. Auch das spricht – bei aller Vorsicht wegen der gleichzeitigen Wirkung der Sexualhormone – für einen X-Dosis-Effekt.

Unvollständige X-Inaktivierung

Allerdings ist dieser X-Dosis-Effekt selbst erklärungsbedürftig. Eigentlich besagt das Dogma der X-Inaktivierung: Um die Dosis der vielen nicht für die Geschlechtsentwicklung zuständigen X-chromosomalen Gene zwischen Mann und Frau anzugleichen, wird zu einem frühen Zeitpunkt der Embryonalentwicklung in allen Zellen weiblicher Embryonen eines der beiden X-Chromosomen – und zwar zufällig das von der Mutter oder das vom Vater geerbte Exemplar – inaktiviert, indem es zu einem sehr dichten, nicht mehr ablesbaren Klümpchen verschnürt wird, dem sogenannten Barr-Körperchen. Diese Inaktivierung ist epigenetisch codiert und wird an alle durch die weiteren Zellteilungen entstehenden Tochterzellen weitergegeben. Der Körper einer Frau ist folglich ein Mosaik aus Zellkolonien, in denen das mütterliche, und solchen, in denen das väterliche X-Chromosom ablesbar bleibt.

Aber so einfach ist es nicht. Erstens scheint bei größeren X-Chromosomen-Defekten (etwa fehlenden oder verdoppelten Abschnitten) bevorzugt, d. h. nicht-zufällig, das defekte Exemplar stillgelegt zu werden. Und zweitens gibt es auf dem X-Chromosom eine ganze Reihe von Genen, die sehr wohl von beiden Exemplaren abgelesen werden. Aus dem kompakten Barr-Körperchen ragen Schlaufen nur locker aufgewickelter, sogenannter dekondensierter DNA heraus, an die die Transkriptionsmaschinerie andocken kann. Diese Stellen sind gute Kandidaten für Gene, deren Ablesung Geschlechtsunterschiede bewirkt.

Dann also Mäuse und Ratten

Wie im letzten Artikel erwähnt, lassen sich an Nagetieren (bei allen Unterschieden im Detail) Grundsatzfragen erforschen, die am Menschen niemals zu klären wären – aus ethischen und praktischen Gründen. Zufällig ist das Mäusegenom ähnlich groß wie das Humangenom: Beide umfassen etwa 23.000 bis 24.000 Gene, verteilt auf etwa drei Milliarden Basenpaare. Während Menschen 22 Autosomen-Paare sowie zwei Geschlechtschromosomen haben, verteilt sich das Hausmaus-Genom auf 19 Autosomen-Paare und ein Geschlechtschromosomen-Paar. Laborratten haben neben ihren Geschlechtschromosomen 20 Autosomen-Paare. Die Abstammungslinien der Ratten und der Mäuse haben sich vor 12 bis 24 Millionen Jahren getrennt.

Die einfachsten Experimente kommen ohne genetische Manipulation aus und wurden zum Teil schon vor einem halben Jahrhundert angestellt. Sie machen sich den aus unserer Sicht ungewöhnlichen Aufbau der Mäuse-Gebärmutter zunutze.

Testosteron: Der Positionseffekt

Die Gebärmutter der Maus besteht aus zwei Trakten, sogenannten Hörnern, die sich von den Eileitern bis zur Vagina erstrecken. Die Embryonen (bis zu einem Dutzend) liegen mit jeweils eigener Plazenta in separaten Amnionsäcken aufgereiht, sodass sie bis auf die Endpositionen je zwei Nachbarn haben. Das Testosteron, das die männlichen Embryonen von einem frühen Zeitpunkt an produzieren, diffundiert durch die Gebärmutter auch zu den nächsten Nachbarn hinüber.

Aus dieser Anordnung ergeben sich verschiedene vorgeburtliche Hormonmilieus: Sowohl männliche als auch weibliche Mäusebabies können 0 bis 2 männliche Nachbarn haben und sind entsprechend keinem (0M), wenig (1M) oder viel (2M) geschwisterlichem Testosteron ausgesetzt. Im Blut weiblicher 2M-Embryonen lässt sich deutlich mehr Testosteron und weniger Estrogen nachweisen als in weiblichen 0M-Embryonen.

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Weibliche 2M-Embryonen werden zu leicht vermännlichten Weibchen: Ihr Anogenitalabstand (der Abstand zwischen Anus und Genitalöffnung) ist größer als bei den anderen Weibchen, sie sind weniger ängstlich, verteidigen größere Reviere, werden später geschlechtsreif, wirken auf die Männchen weniger attraktiv, haben – unter anderem wegen eines längeren Zyklus – weniger Würfe, sind aber durchaus fruchtbar und verteidigen ihre Jungen energischer gegen Angriffe als die weiblicheren Weibchen. Außerdem scheinen 0M-Weibchen mehr Weibchen und 2M-Weibchen mehr Männchen in die Welt zu setzen.

Es ist anzunehmen, dass auch die genaue Zusammensetzung, die Aktivierungsschwellen und die Reaktionsstärken des Immunsystems bei 2M-Weibchen anders ausfallen als bei 0M-Weibchen, aber das scheint an Mäusen oder Ratten noch nicht näher untersucht worden zu sein. Allerdings belegten andere Versuche, bei denen man neugeborenen Ratten Testosteron in unterschiedlicher Dosis verabreicht hat, eine Vermännlichung des Immunsystems: Die Zahl der CD4+-T-Zellen im Blut sank, und die Zahl der CD8+-T-Zellen sowie der regulatorischen T-Zellen stieg an. (Auch unter uns Menschen ist der CD4/CD8-Quotient, das Zahlenverhältnis der CD4+-T-Zellen zu den CD8+-T-Zellen, bei Männern ein wenig kleiner als bei Frauen.)

Stress wirkt ähnlich 

Setzt man trächtige Mäuse hellem Licht oder Hitze oder sozialem Stress durch hohe Besatzdichten der Käfige aus, so hat das auf ihre Jungen ähnliche Auswirkungen wie das Testosteron benachbarter männlicher Embryonen: Ihre Töchter haben einen größeren Anogenitalabstand und – wie die gestressten Mütter selbst – mehr Testosteron im Blut als sonst.

Einer beliebten evolutionsbiologischen Hypothese zufolge ist das kein Zufall, sondern eine Anpassung an schwankende Umweltbedingungen: In bereits dicht besiedelten, mithin stressigen und ressourcenarmen Gebieten geborene Weibchen sind auf diese Weise aggressiver, neigen zur Abwanderung, haben weniger Würfe und bekommen mehr männliche als weibliche Junge, was die Überlebenschancen des Nachwuchses steigern dürfte. In weniger dicht besiedelten Lebensräumen, also unter weniger stressigen Bedingungen ausgetragene Weibchen entsprechen eher dem 0M-Typ, sind für die Männchen attraktiver, bekommen früher und mehr Junge, unter denen überproportional viele weitere „weibliche Weibchen“ sind, die ungern abwandern. So wächst die Population schnell an.

Insgesamt scheint das System der 0M-, 1M- und 2M-Babies die Flexibilität der Tiere bei der Anpassung an unterschiedliche Umwelten und Selektionsdrücke zu gewährleisten. Da mit der örtlichen Populationsdichte auch der Pathogendruck steigt, also mehr und andere Infektionen drohen als in dünn besiedeltem Gebiet, ist anzunehmen, dass diese Variabilität auch das Immunsystem umfasst.

Genetisch veränderte Mäuse: vier Kern-Genotypen

Aber welchen hormonunabhängigen Einfluss nehmen unsere Geschlechtschromosomen auf die Ausprägung der sekundärer und tertiärer Geschlechtsmerkmale, und wie führt das zu Geschlechtsunterschieden bei Erkrankungsrisiken? Um die Wirkung der Hormone von der Wirkung X- und Y-chromosomaler Gene außerhalb der Keimdrüsen zu trennen, muss man in das Genom der Mäuse eingreifen.

Dazu kann man zum Beispiel auf eine spontane Mutation zurückgreifen, die das Sry-Gen (und wohl nur dieses) aus dem männlichen Geschlechtschromosom der Maus entfernt. Dieser Geschlechtschromosomensatz wird als XY bezeichnet. In einem zweiten Schritt fügt man bei einem Teil der Tiere ein Sry-Gen auf einem der Autosomen, also der Nicht-Geschlechtschromosomen ein. Das Y-Chromosom ist nun nicht mehr für die Entwicklung der Keimdrüsenanlagen zu Hoden zuständig. Man erhält vier Genotypen:

  • männlicher Geschlechtschromosomensatz und männliche Keimdrüsen (XYM),
  • männlicher Geschlechtschromosomensatz und weibliche Keimdrüsen (XYF = XY),
  • weiblicher Geschlechtschromosomensatz und männliche Keimdrüsen (XXM),
  • weiblicher Geschlechtschromosomensatz und weibliche Keimdrüsen (XXF).

Daher werden diese Mäuse als FCG mice (für four core genotypes) bezeichnet. In den meisten Versuchen kastriert man die Tiere, sobald sie geschlechtsreif sind; d. h. man entfernt die Keimdrüsen, um akute Auswirkungen der Sexualhormone auszuschließen, insbesondere die Beeinflussung der Ablesung aller möglicher Gene. Damit verringern sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, aber sie verschwinden nicht, da die Keimdrüsen und ihre Hormone die Organe und Gewebe der Tiere bis zum Zeitpunkt der Kastration irreversibel geprägt haben.

Der Vergleich der beiden F-Typen mit den beiden M-Typen, also der Mäuse ohne und mit Sry-Gen, offenbart die Auswirkungen der in den Keimdrüsen produzierten Sexualhormone – u. U. vermischt mit weiteren, nicht über die Hormone vermittelten Auswirkungen des Sry-Gens. Der Vergleich der beiden XX-Typen mit den beiden XY-Typen liefert dagegen Informationen über geschlechtschromosomale Effekte.

Dabei zeigt sich zum Beispiel, dass bei bestimmten Mäusestämmen mit einer angeborenen Neigung zu den Autoimmunerkrankungen XX-Tiere mit höherer Wahrscheinlichkeit tatsächlich erkranken als XY-Tiere, und zwar unabhängig davon, ob sie mit männlichen oder mit weiblichen Keimdrüsen zur Welt gekommen sind.

Geschlechtschromosomen-Effekt beim Mausmodell für Multiple Sklerose

Ein Forscherteam um Rhonda R. Voskuhl versucht seit über einem Jahrzehnt, anhand von FCG-Mäusen zu ergründen, ob es an den Sexualhormonen oder an den sonstigen Wirkungen der Geschlechtschromosomen liegt, dass einerseits so viel mehr Frauen als Männer Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose (MS) oder Lupus bekommen, die Krankheiten andererseits bei männlichen Patienten oft dramatischer verlaufen als bei Frauen. Bereits 2005 stellten sie fest, dass bei einem Mausmodell für MS, nämlich der experimentellen Autoimmun-Enzephalitis (EAE), das männliche Sexualhormon Testosteron die Autoimmunreaktion auf das verabreichte Autoantigen hemmt: Es verlangsamt die Vermehrung autoreaktiver Immunzellen und senkt in den Lymphknoten die Konzentration der Botenstoffe TNFα, IFNΥ und IL-10. Bei kastrierten Männchen und Weibchen fiel der Unterschied geringer aus, aber er blieb erhalten. Das konnte entweder ein langfristiger Testosteroneffekt sein, etwa eine entzündungshemmende Prägung des Immunsystems oder des von der Erkrankung betroffenen Gewebes, oder ein hormonunabhängiger Geschlechtschromosomen-Effekt.

Um das zu klären, kreuzte das Team die oben eingeführten vier Genotypen in ein Mausmodell für MS ein. Bei Mäusen mit Keimdrüsen konnten sie keinen Einfluss der Geschlechtschromosomen auf die Stärke der Autoimmunreaktion feststellen, da die akute Hormonwirkung alles überdeckte. Bei Mäusen mit weiblichen Keimdrüsen, die eine Woche vor der Verabreichung des Autoantigens kastriert wurden, tat sich ein Unterschied auf: „Normale“ Weibchen (XXF) reagierten schwächer auf das Autoantigen als Weibchen mit Y-Chromosom (XYF = XY). In den Tieren mit einem Y-Chromosom vermehrten sich die Immunzellen nach der Stimulation durch das Autoantigen stärker, und sie hatten mehr TNFα, IFNΥ und IL-10 im Blut. Bei kastrierten XXM- und XYM-Mäusen war es genauso, allerdings nur, wenn zwischen Kastration und Autoantigen-Gabe genug Zeit verstrich, um das restliche Testosteron im Körper abzubauen, das andernfalls den Effekt überdeckte.

Damit war klar: Die schwächere Autoimmunreaktion der Männchen im ersten Teil des Experiments war auf die langfristigen Nachwirkungen des Testosterons zurückzuführen und nicht auf eine Schutzwirkung der Geschlechtschromosomen, denn diese wirken genau umgekehrt: Ein Y-Chromosom verstärkt die Autoimmunreaktionen – oder zwei X-Chromosomen schwächen sie ab. Die gegenläufige Wirkung von Testosteron und Geschlechtschromosomen in Männchen tauften die Autoren „Yin-Yang effect“. Nun ja.

Unklar blieb zunächst, welches der drei oben genannten Szenarien hinter der stärkeren, zur beschleunigten Neurodegeneration führenden Immunreaktion bei chromosomal männlichen Mäusen mit experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis steckt: bestimmte Gene auf dem Y-Chromosom, die höhere X-Chromosomen-Dosis in den XX-Mäusen oder die genomische Prägung (parental imprinting).

Ein X-Dosis-Effekt in den Immunzellen

Weitere, ähnlich angelegte Versuche desselben Teams am selben Mäusestamm erbrachten verwirrende Ergebnisse: Die Autoimmun-Enzephalitis verlief bei kastrierten XX-Tieren (mit oder ohne Sry) nicht etwa leichter, sondern klinisch schwerer als bei kastrierten XY-Tieren. Das lag offenbar nicht an einer größeren Empfindlichkeit ihres zentralen Nervensystems für Immunreaktionen, sondern an den Autoantigen-stimulierten Immunzellen, die, wenn sie aus chromosomal weiblichen Tieren stammten, mehr Schaden anrichteten als bei einer Herkunft aus chromosomalen Männchen.

Dasselbe galt für ein anderes Mausmodell, bei dem die Tiere eine Lupus-ähnliche Autoimmunkrankheit bekommen, wenn man ihnen die Chemikalie Pristan injiziert: Tiere mit einem XX-Chromosomensatz hatten schlechtere Überlebenschancen als solche mit XY-Chromosomensatz. Bei diesen Versuchen wirkten Ying (Testosteron) und Yang (XY-Chromosomensatz) in den Männchen also nicht gegenläufig, sondern in dieselbe Richtung.

Woran lag’s? In kastrierten XY-Tieren waren die Konzentrationen der an Th2-Immunreaktionen beteiligten Zytokine IL-5, IL-10 und IL-13 sowie in geringerem Ausmaß auch die Konzentrationen der Th1-Zytokine TNFα und IFNΥ höher als in kastrierten XX-Tieren. Zugleich exprimieren viele Immunzellen (vor allem Makrophagen und dendritischen Zellen) in XY-Mäuse das auf dem X-Chromosom angesiedelte Gen IL-13Rα2 schwächer als XX-Mäuse. Das Gen codiert einen Interleukin-Rezeptor, der als sogenannter decoy receptor Th2-Zytokine „ködern“ oder einfangen und damit unwirksam machen kann.

Den Zellen der XX-Mäuse stehen wegen der stärkeren IL-13Rα2-Ablesung also weniger Th2-Zytokine zur Verfügung, die Autoimmunreaktionen eindämmen können und damit vor experimenteller Autoimmun-Enzephalitis schützen. Auch bei anderen Mausmodellen für entzündlichen Erkrankungen mit Immunsystem-Überreaktion wurde eine selektive Erhöhung der IL-13Rα2-Expression nachgewiesen. Am einfachsten lässt sich die höhere Dosis des (zumindest in diesem Kontext) schädlichen Köder-Rezeptors mit einer unvollständigen X-Chromosom-Inaktivierung in XX-Mäusen erklären. Demnach handelt es sich um einen X-Dosis-Effekt.

Chimären

Es ist bekannt, dass im Gehirn besonders viele der Gene auf den Geschlechtschromosomen, insbesondere auf dem X-Chromosom, exprimiert werden. Daher wollte das Forscherteam in weiteren Versuchen klären, ob und wie die Geschlechtschromosomen neben der Stärke der Autoimmunreaktionen auch die Empfindlichkeit des zentralen Nervensystems für Beschädigungen durch diese Immunreaktionen beeinflussen.

Diese Frage klärten sie mit einem weiteren Mausmodell: Knochenmark-Chimären. Durch Bestrahlung zerstörten sie das Knochenmark und damit das Immunsystem von XX- und XY-Mäusen, die beide mangels Sry-Gen weibliche Keimdrüsen und entsprechend ein hormonell weiblich geprägtes zentrales Nervensystem hatten. Dann ersetzten sie es durch Knochenmark (und somit Immunsystem-Stammzellen) aus XX- oder XY-Mäusen. So entstanden vier Kombinationen:

  • XX-Immunsystem mit XX-Gehirn,
  • XX-Immunsystem mit XY-Gehirn,
  • XY-Immunsystem mit XX-Gehirn und
  • XY-Immunsystem mit XY-Gehirn.

Ein Parental-Imprinting-Effekt im zentralen Nervensystem 

Durch die Verabreichung von Antigenen wurde das Immunsystem dieser Chimären zu Autoimmunreaktionen im zentralen Nervensystem angeregt. Die Autoimmun-Enzephalitis verlief im XY-Gehirn dramatischer als im XX-Gehirn: Die Tiere konnten sich bald schlechter bewegen, ihre Nervenzellen hatten weniger intakte Myelinscheiden und Axone, und im Kortex waren mehr Synapsen verloren gegangen.

In den Kortex-Neuronen von XY-Gehirnen wurde auch der Rezeptor Tlr7 stärker exprimiert, der eine solche Neurodegeneration fördert. Die Geschlechtschromosomen-Ausstattung des Immunsystems dieser Mäuse beeinflusste den Effekt nicht. Das Gen Tlr7 liegt auf dem X-Chromosom; am Y-Chromosom kann es also nicht liegen. Ein X-Dosis-Effekt kann es auch nicht sein, denn dann müsste das Gen in XX-Mäusen stärker exprimiert werden.

Aber ein X-Chromosomen-Gen, das je nach seiner Herkunft (Mutter oder Vater) und seiner entsprechenden epigenetischen Markierung, also dem parental imprinting, unterschiedlich stark inaktiviert wird, kann den Effekt erklären. Alle X-Chromosomen in den XY-Mäusen stammen von der Mutter, da das Y-Chromosom nur vom Vater kommen kann. Aber nur etwa Hälfte aller Zellen in XX-Mäusen exprimiert das mütterliche Tlr7-Gen; in der anderen Hälfte stammt das Gen vom Vater. Wenn die epigenetische Markierung auf dem väterlichen X-Chromosom die Stilllegung dieses Gens fördert, verfügen XX-Mäuse insgesamt über weniger Tlr7 als XY-Mäuse, deren Nervensystem folglich stärker degeneriert.

Ich mach mir die Maus, widewide wie sie mir gefällt? 

Es gibt noch radikalere Versuche, den störenden Einfluss der Sexualhormone auf die Analyse der geschlechtschromosomalen Effekte auszuschließen: In den Embryonen der sogenannten SF1 knockout mouse verhindert eine Mutation im Gen SF1 (für steroidogenic factor 1) die Bildung von Keimdrüsen- und Nebennieren-Anlagen. Auch Teile des Hypothalamus und Hypophyse entwicklen sich nicht normal. Vor allem wegen der fehlenden Nebennierenrinde, dem Produktionsort der Corticosteroide, sterben die Tiere kurz nach der Geburt – es sei denn, man injiziert ihnen sofort Glucocorticoide und implantiert ihnen dann Nebennierenrinden-Gewebe aus intakten Mäusen.

Auch bei diesen Kreaturen unterscheiden sich die „Geschlechter“ (sofern man keimdrüsen- und sexualhormonlose Tiere mit XX- und mit XY-Chromosomen so nennen möchte) noch ein wenig, unter anderem im Körpergewicht und in der Expression eines Enzyms in einigen limbischen Gehirnstrukturen. Ob auch ihr Immunreaktionen Unterschiede aufweist, weiß ich nicht. Aber die Ergebnisse wären ohnehin sehr schwer zu interpretieren, denn diese Geschöpfe haben so viele Defekte, dass sich aus ihnen m. E. nicht viel über normale Säugetiere lernen lässt.

Und als wäre das alles nicht schon kompliziert und entmutigend genug, gibt es ein weiteres Mausmodell für Multiple Skerose, den C57BL/6-Stamm, bei dem die experimentelle Autoimmun-Enzephalitis bei Männchen und Weibchen und auch bei kastrierten Tieren mit allen vier Kern-Genotypen gleich häufig auftritt.

Zusammenfassung: Es ist kompliziert

Man kann also allerlei Mäuse züchten, Puzzle-artig zusammensetzen, zurichten, retten und opfern, um die normalerweise eng verwobenen, zum Teil gegenläufigen Effekte von Sexualhormonen, Geschlechtschromosomen-Genen und epigenetischen Markierungen dieser Gene voneinander zu trennen. Solche Experimente können beliebig kompliziert und artifiziell werden, liefern aber wichtige Hinweise auf mögliche Gründe für Geschlechtsunterschiede bei Autoimmunerkrankungsrisiken.

Leider lautet die Hauptbotschaft dieser Versuche: Es gibt keine einfache Antwort. Sexualhormone wirken sowohl lang- als auch kurzfristig, und zwar unter anderem auf das Immunsystem und auf das Gehirn. Die Geschlechtschromosomen beeinflussen ebenfalls verschiedene Systeme, darunter wiederum Immunsystem und Gehirn, und wirken den Sexualhormonen zum Teil entgegen. Darüber hinaus wirken sie auch von Organ zu Organ unterschiedlich – und über verschiedene Mechanismen, etwa X-Dosis und parentales Imprinting. Bei einigen Mausmodellen für Autoimmunerkrankungen scheinen diese Mechanismen jedoch keine Rolle zu spielen – oder sich gegenseitig aufzuheben. Und das heißt: Man muss eben doch jede Autoimmunerkrankung einzeln untersuchen, an Mäusen, aber auch an Menschen.

Literatur:

Ältere Blogbeiträge mit Literaturzusammenfassungen:

Gender-Mäuschen und Badomics

Was ein „Genom“ ist, lernen wir in der Schule: die Gesamtheit der Träger der Erbinformationen eines Lebewesens. Wer sich ein wenig für Biologie oder Medizin interessiert, ist auch mit dem „Proteom“ vertraut, also der Gesamtheit aller Proteine, die in einem Lebewesen vorkommen – hergestellt mithilfe der Bauanleitungen im Genom. Beim „Mikrobiom“ fangen die Schwierigkeiten an: Genau genommen ist das die Gesamtheit aller Genome aller Mikroorganismen, die auf und in einem Wirt leben. Doch von den meisten dieser Bakterien, Viren usw. kennen wir ohnehin nichts als ihre Gensequenzen, da wir sie – noch – nicht kultivieren können. Daher nennen wir oftmals auch die Gesamtheit dieser Mikroorganismen selbst, nicht nur ihrer Genome, „Mikrobiom“. Wer pingelig ist, darf dafür gerne „Mikrobiota“ sagen; ich mache mir die Mühe nicht.

Zu jedem -om gehört eine -omik: die Lehre, die sich mit dem -om beschäftigt, mit je eigener Methodik. Irgendwann in den letzten Jahren lief die Sache aus dem Ruder: Es gibt jetzt ein Transkriptom (Gesamtheit der transkribierten mRNA) und eine Transkriptomik, ein Metabolom (Gesamtheit der Stoffwechselprodukte) und eine Metabolomik, ja sogar ein Interaktom (Gesamtheit der molekularen Wechselwirkungen in einem Lebewesen) und eine Interaktomik; das heißt: Es müssen nicht einmal mehr Objekte sein, die da zusammengefasst werden.

Bereits 2012 hatte der Biologe Jonathan Eisen die Nase voll und schrieb ein Paper mit dem schönen Titel „Badomics words and the power and peril of the ome-meme“. 2013 legte er bei Twitter nach:

Er bezog sich auf die Science-Ausgabe vom selben Tag, in der die Harvard-GastroenterologInnen Magdalena B. Flak, Joana F. Neves und Richard S. Blumberg unter dem Titel „Welcome to the Microgenderome“ eine im selben Heft erschienene Forschungsarbeit von Janet G. M. Markle et al. vorstellten und kommentierten: „Sex Differences in the Gut Microbiome Drive Hormone-Dependent Regulation of Autoimmunity“. Eine zweite Arbeit des Markle-Teams trug 2014 den Titel „Microbiome Manipulation Modifies Sex-specific Risks for Autoimmunity“. Eine andere Forschergruppe (Leonid Yurkovetskiy et al.), die am selben Problem arbeitet, veröffentlichte ihre Ergebnisse 2014 unter der Überschrift „Gender Bias in Autoimmunity Is Influenced by Microbiota“. Damit steht es in der Frage „Sex oder Gender?“ zwei zu zwei.

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Karelien: zwei Notizen zu Schilddrüsen- und Betazell-Autoantikörpern

Vor allem für mich selbst als Erinnerungsstütze trage ich zwei Erkenntnisse aus der Karelien-Literatur nach:

(1) Kondrashova et al., Signs of β-Cell Autoimmunity in Nondiabetic Schoolchildren (2007): Zwar ist Typ-1-Diabetes in Finnland viel häufiger als im russischen Karelien. Aber Betazellautoimmunität, angezeigt durch verschiedene Autoantikörper, ist im russischen Teil genauso häufig wie in Finnland (mit Ausnahme des Antikörpers gegen  Tyrosinphosphatase IA-2, der in Finnland häufiger ist). Das heißt: Die Autoimmunprozesse setzen bei den Kindern mit etwa derselben Quote ein, aber in Finnland führen sie zu einer Erkrankung, während sie im russischen Karelien viele Jahre lang keinen Schaden anrichten. Das spricht für die Theorie, dass Autoimmunerkrankungen nicht durch das bloße Aufkommen von Autoimmunvorgängen bedingt sind, sondern durch ein Versagen der Regulierungsmechanismen, die solche Vorgänge zwar nicht abschalten, aber in Schach halten können.

(2) Kondrashova-Dissertation, 2009: Bei den untersuchten Schuldkindern (mittleres Alter: 11 Jahre) waren Schilddrüsen-Autoantikörper bei den Mädchen fast acht Mal so häufig wie bei den Jungen: etwa dasselbe Verhältnis wie bei den Prävalenzen erwachsener Frauen und Männer. Das heißt: Um den starken Frauenüberschuss bei Hashimoto-Thyreoiditis zu erklären, muss man vielleicht gar nicht auf Sexualhormone und Mikrochimerismus durch Schwangerschaften zurückgreifen; der reine X-Dosis-Effekt könnte ausreichen. Die Hormonveränderungen während der Pubertät könnten allerdings einen Beitrag leisten, denn die meisten der Kinder, bei denen Schilddrüsen-Aantikörper nachgewiesen wurden, waren älter als 11.

X-Chromosomen-Defekte bei Autoimmunerkrankungen

Bei der X-Chromosom-Inaktivierung treten manchmal Fehler auf.

Pietro Invernizzi et al.: Female predominance and X chromosome defects in autoimmune diseases. Journal of Autoimmunity 33/1, 2009, S. 12-16, doi:10.1016/j.jaut.2009.03.005

Notizen, noch nicht allgemein verständlich aufbereitet

Abstract

Der Empfänglichkeit für alle möglichen Autoimmunerkrankungen könnten Veränderungen der Geschlechtschromosomen zugrunde liegen.

1. Epidemiologie der Autoimmunerkrankungen

Schätzungsweise 5% der US-Bevölkerung haben mindestens eine Autoimmunerkrankung. Meist trifft es Frauen.

Frauenanteil > 90%: Hashimoto-Thyroiditis/Hypothyreose, Sjögren-Syndrom; > 80%: Systemischer Lupus erythematodes, primär biliäre Zirrhose, Morbus Basedow/Hyperthyreose, Sklerodermie/systemische Sklerose, Nebennierenrindeninsuffizienz/Morbus Addison; > 70%: rheumatoide Arthritis; > 60%: Myasthenia gravis, Multiple Sklerose, perniziöse Anämie.   Weiterlesen

Geschlechtschromosomen und der Frauenüberschuss bei Autoimmunerkrankungen

Deborah L. Smith-Bouvier et al., A role for sex chromosome complement in the female bias in autoimmunge disease. J. Exp. Med. Vol. 205 No. 5, 2008, doi: 10.1084/jem.20070850

Zusammenfassung von Abstract, Einleitung und Diskussion, noch nicht allgemein verständlich aufbereitet. (Die Studie kommt auch in meinen Notizen zu einem Review von Rhonda Voskuhl zur Sprache, die eine der Koautorinnen dieses Artikels ist.)

Abstract

In der Studie wurde geprüft, ob die Erkrankungswahrscheinlichkeit und -schwere bei zwei Tiermodellen für MS und SLE, nämlich experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE) und Pristan-induziertem Lupus, auch unabhängig von den Sexualhormonen durch die Gegenwart der Geschlechtschromosomen X und Y beeinflusst werden. Zu diesem Zweck wurden transgene SJL-Mäuse erschaffen, in denen man die Geschlechtschromosomensätze XX und XY bei identischem Gonadentyp (Eierstöcke oder Hoden) vergleichen konnte. XX-Mäuse erwiesen sich als anfälliger für beide Erkrankungen als XY-Mäuse. Offenbar vermittelt die XX-Ausstattung eine größere Empfänglichkeit für Autoimmunerkrankungen.    Weiterlesen

Geschlechtsunterschiede bei Autoimmunerkrankungen

Strukturformel von Testosteron

Rhonda Voskuhl: Sex differences in autoimmune diseases (Review). Biol Sex Differ. 2011; 2: 1, doi:  10.1186/2042-6410-2-1

Notizen, noch nicht allgemein verständlich aufbereitet

Viele Autoimmunerkrankungen sind bei Frauen häufiger als bei Männern, darunter Systemischer Lupus erythematodes (SLE), Multiple Sklerose (MS), primär biliäre Zirrhose (PBC), rheumatoide Arthritis (RA) und Hashimoto-Thyreoiditis. Eine Frau zu sein ist ein stärkerer Risikofaktor für diese Erkrankungen als jede einzelne bislang bekannte genetische oder ökologische Einflussgröße.   Weiterlesen