Archiv der Kategorie: Aus der Sekundärliteratur

NR1H3-Mutation steigert MS-Risiko auf 70 Prozent

Einer von zahllosen Artikel über Genvarianten, die das Risiko für die eine oder andere Autoimmunerkrankung steigern: „Genetische Ursache der Multiplen Sklerose entdeckt“. Die Überschrift ist nicht falsch, aber irreführend, denn entdeckt wurde nicht die genetische Ursache, sondern nur eine von zahlreichen Genvarianten, die das Erkrankungsrisiko steigern. 70 Prozent der Träger einer von Carles Vilariño-Güell und seinem Team entdeckten Genvariante erkranken an MS, aber der Umkehrschluss gilt nicht: Nur etwa einer von 1000 Menschen mit Multipler Sklerose weist diese Mutation auf. Vermutlich ist aber bei vielen weiteren Betroffenen dasselbe Gen an anderen Stellen mutiert.

Die nun durch umfangreiche Datenbank- und Stammbaumanalysen aufgespürte Mutation im Gen NR1H3 führt dazu, dass das Regulationsprotein LXRA nicht mehr hergestellt wird, das die Aufgabe hat, entzündungshemmende und Immunsystem-regulierende Gene einzuschalten. Eingriffe in diesen Genregulationsmechanismus gelten als aussichtsreiche Kandidaten für eine MS-Therapie. Welcher Umwelteinfluss letztlich dazu führt, dass die Erkrankung bei 7 von 10 Mutationsträgern zum Ausbruch kommt und die Myelinscheiden und Nervenzellen im Gehirn durch Immunreaktionen beschädigt werden, ist nicht bekannt.

TV-Tipp: „Mein Körper – mein Feind. Autoimmunerkrankungen auf der Spur“

Dann wollen wir mal beginnen mit der Aufholjagd. Den Anfang macht ein TV-Tipp: In der 3sat-Mediathek ist zur Zeit eine knapp 45 Minuten lange Reportage über Autoimmunerkrankungen zu sehen, die Novizen einen ganz guten Überblick gibt. Hier eine Zusammenfassung.

Zu der gegen Ende vorgestellten Hypothese von Antony Rosen und seinem Team, dass viele Autoimmunerkrankungen im Grunde erfolgreiche, aber aus dem Ruder gelaufene Krebsbekämpfungsmaßnahmen unseres Körpers sind, schlummert seit Februar ein Textentwurf im Backend dieses Blogs. An dem schreibe ich morgen weiter.

Das Immunsystem indigener Gruppen und das ethische Dilemma des Erstkontakts

Vor einem Jahr erschien eine Arbeit über das Mikrobiom unkontaktierter Yanomami, die ich damals nur kurz besprechen konnte. Jetzt habe ich sie noch einmal gelesen, obwohl sie immunologisch unergiebig ist: Die Entnahme von Blutproben, die Aufschluss über den Zustand des Immunsystems dieser Menschen hätte geben können, war bei einem Erstkontakt selbstverständlich unmöglich. Man muss schon froh sein, dass sie Abstriche aus ihrer Mundschleimhaut und das Einsammeln von Stuhlproben gestattet haben – vermutlich nicht, ohne sich über dieses merkwürdige Verhalten zu amüsieren.

Die Hauptergebnisse: Die Bakteriengemeinschaften auf der Haut und im Stuhl dieser mutmaßlich seit über 11.000 Jahren isolierten Menschen sind erheblich artenreicher als unsere – und auch als die Mikrobiome anderer naturnah lebender Völker. Die sogenannte Alpha-Diversität ihrer Mikrobiome ist also sehr hoch, vermutlich, weil sie nie mit antimikrobiellen Substanzen zu tun hatten und weil sie in ständigem Kontakt mit ihrer Umwelt leben. In ihrer Darm- und Hautflora leben zum Beispiel Bakterien, die man bislang für reine Bodenbakterien gehalten hat. Zugleich sind die Unterschiede in der Mikrobiom-Zusammensetzung zwischen den 34 Yanomami, von denen die Proben stammen, viel geringer als zwischen denen zweier Menschen aus einer Gruppe aus unserem Kulturkreis. Die sogenannte Beta-Diversität ist mithin sehr klein – wohl wegen des engen Zusammenlebens, der hygienischen Verhältnisse und der gleichartigen Lebensweise und Ernährung aller Gruppenmitglieder.

Unter den Genen dieser Bakterien, und zwar überweigend den Genen von zuvor unbekannten Stämmen des Darmbakteriums Escherichia coli, finden sich 28, die Antibiotika-Resistenzen vermitteln – sogar gegen einige neue, synthetische Antibiotika. Allerdings werden diese Gene in den Bakterien nicht abgelesen, sie sind „stummgeschaltet“ (silenced), sodass die Bakterien anfangs dennoch auf die Antibiotika ansprechen würden. Aber man muss damit rechnen, dass sie sehr bald wirklich Resistenzen entwickeln würden, und zwar gleich gegen mehrere Antibiotika. In Weltgegenden und Kulturen, in denen die sogenannte Therapietreue (die regelmäßige Einnahme des Medikaments über den kompletten notwendigen Zeitraum) vermutlich gering ist, geht das umso schneller.

Erstkontakt: Es gibt keinen Weg zurück

Dem Forscherteam war bewusst, dass die Probensammlung beim Erstkontakt eine einmalige Gelegenheit ist, ein Mikrobiom-Archiv anzulegen, das vermutlich große strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten mit dem Mikrobiom unserer altsteinzeitlichen Vorfahren hat – auch wenn sich die einzelnen Bakterien-Arten und -Stämme natürlich auf dem Weg ihrer Wirte nach und durch Südamerika weiterentwickelt haben. 11.000 Jahre entsprechen ungefähr 100 Millionen Bakteriengenerationen. Zugleich begann mit dieser Begegnung zwischen der bislang isolierten Dorfgemeinschaft und den Medizinern und Wissenschaftlern unwiderruflich der Niedergang dieser Diversität – spätestens mit der ersten Antibiotika-Gabe.

Die Autoren schreiben in ihrer Danksagung: „Wir sind auch den Leuten in dem neu kontaktierten Dorf dankbar für ihr Vertrauen und für unser gemeinsamen Wunsch, dass der unvermeidliche Kontakt mit unserer Kultur ihrem Volk gesundheitliche Vorteile und Schutz bringen möge.“ Ist das nicht ein arg frommer Wunsch angesichts der bisherigen Erfahrungen mit der gesundheitlichen und sozialen Entwicklung neu kontaktierter, kleiner indigener Gruppen?  Weiterlesen

Aufräumaktion, Teil 2

Weitere [fast] unkommentierte Links aus den angesammelten Wissenschafts-Newslettern der letzten Wochen:

Mikrobiom:

Yandell (2016): Chimps Share Microbes When Socializing

Kinder: Antibiotika fördern Asthma und Übergewicht. Makrolid-Antibiotika verändern die schützende Darmflora bei Kindern nachhaltig (2016) – zu Korpela et al. (2016): Intestinal microbiome is related to lifetime antibiotic use in Finnish pre-school children (Open Access)

Offord (2016): Restoring C-Section Babies’ Microbiota. A small pilot study suggests exposure to maternal vaginal fluids could restore infant microbiota following Cesarean-section delivery.
[Ich hielt es naiverweise für selbstverständlich, dass das seit Jahren so gehandhabt wird. Eigentlich sträflicher Leichtsinn, erst jetzt damit anzufangen.]

Offord (2016): Antiperspirants Affect Armpit Ecosystems. Wearing antiperspirant can substantially alter a person’s armpit microbiome, scientists show.

Offord (2016): Hibernation Helpers. Gut microbes may help regulate the metabolic changes a bear experiences before and during hibernation, scientists show.

Azvolinsky (2016): Breast Milk Sugars Support Infant Gut Health. Oligosaccharides found in breast milk stimulate the activity of gut bacteria, promoting growth in two animal models of infant malnutrition.

Ghannoum (2016): The Mycobiome. The largely overlooked resident fungal community plays a critical role in human health and disease.

Pflanzliches Immunsystem:

Keener (2016): Plant Immunity. How plants fight off pathogens.

Aberli (2016): Fighting Back. Plants can’t run away from attackers, so they’ve evolved unique immune defenses to protect themselves.

Akst (2016): Premature Assault? Plants may trick bacteria into attacking before the microbial population reaches a critical size, allowing the plants to successfully defend the weak invasion.

Akst (2016): Widespread Plant Immune Tactics. A survey of plant genomes reveals how different species trick pathogens into triggering their immune defenses.

Zusi (2016): Fungal Security Force. In yew trees, Taxol-producing fungi function as an immune system to ward off pathogens.

Sonstige Themen:

Peng et al. (2016): Seminal fluid of honeybees contains multiple mechanisms to combat infections of the sexually transmitted pathogen Nosema apis (Paywall)

Elternschaft verändert Immunsystem mehr als eine Infektion. Elternschaft und Alter erweisen sich als größte Einflussfaktoren für die individuelle Immunabwehr (2016)

Offord (2016): Humans Meet Neanderthals: The Prequel. The earliest interbreeding between humans and Neanderthals took place at least 100,000 years ago—millennia earlier than previously thought.

Williams (2016): Neanderthals’ Genetic Legacy. Ancient DNA in the genomes of modern humans influences a range of physiological traits.

Neutrophile legen Brotkrumenspuren für T-Zellen aus

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Schon lange ist bekannt, dass aktivierte Zellen des Immunsystems mithilfe von Lockstoffen an die Stelle gelotst werden, an der sie benötigt werden – etwa an den Ort einer Infektion, im Fall einer Influenza also zu den virenbefallenen Epithelzellen der Atemwege. Allerdings sind diese Stoffe, Chemokine genannt, löslich; sobald sie in die Gewebsflüssigkeit oder in die Blutbahn ausgeschüttet wurden, werden sie verdünnt oder fortgespült. Daher hat man sich lange gefragt, wie beispielsweise zytotoxische T-Zellen bei einer Grippe so schnell an genau die richtige Stelle gelangen.

Ein Forscherteam um Kihong Lim hat jetzt herausgefunden, dass die Neutrophilen – jene Zellen der angeborenen Anwehr, die als „erste Verteidigungslinie“ gegen eine Influenza besonders früh am Infektionsort eintreffen – bei ihrem geschäftigen Kommen und Gehen eine Art Membran-Schleppe ausbilden, von der sie ständig kleine Membransäckchen abschnüren, die mit dem Chemokin CXCL12 gefüllt sind. Sie legen gewissermaßen Brotkrumenspuren, die umso dichter sind, je näher der Infektionsort ist – einfach aufgrund der Zahl der dort verkehrenden Neutrophilen, ähnlich wie die Duftstraßen der Ameisen in der Nähe des Nests oder einer Nahrungsquelle.

Das Chemokin diffundiert dann langsam aus den Membrankügelchen heraus und steigt den sich nähernden T-Zellen gewissermaßen als Duft in die Nase: Es bindet an deren CXCL12-Rezeptor.

In Mäuse ohne Neutrophile werden die zytotoxischen T-Zellen bei einer Influenza-Infektion zwar aktiviert, aber sie finden die mit den Viren infizierten Zellen in der Luftröhre nur ganz schlecht und bekämpfen die Infektion daher sehr ineffizient.

Literatur: 

Kihong Lim et al.: Neutrophil trails guide influenza-specific CD8+ T cells in the airwaysScience, 4. September 2015, Vol. 349, no. 6252, DOI: 10.1126/science.aaa4352

 

„Deworm the World“: evidenzbasiert oder leichtsinnig?

Nach der im letzten Beitrag besprochenen Arbeit über fruchtbarkeitshemmende und -fördernde Darmparasiten habe ich zwei weitere Arbeiten desselben Forscherteams über Parasiten-Koinfektionen (Martin et al. 2013 PDF, Blackwell et al. 2013 sowie Begleittext) gelesen. Aus diesen geht hervor, dass ein Befall mit dem Wurm Ascaris lumbricoides oder anderen im Dünndarm ansässigen Würmern bei den bolivianischen Tsimane das Risiko eines Befalls mit dem ebenfalls im Dünndarm siedelnden Einzeller Giardia lamblia erheblich verringert und umgekehrt. Außerdem ging der Einsatz des Entwurmungsmittels Albendazol bei den Tsimane nicht nur mit keiner dauerhaften Reduktion, sondern sogar mit einer Zunahme der Infektionen mit dem Peitschenwurm Trichuris trichiura und dem Einzeller G. lamblia einher. Auch der Einsatz eines Anti-Protozoen-Mittels konnte die Giardien nur vorübergehend zurückdrängen.

The key finding in this study is that worms and giardia have antagonistic effects on one another, such that infection with one limits infection with the other. – Aaron Blackwell

Das heißt: Wer den bei leichtem Befall zumeist harmlosen Wurm A. lumbricoides medikamentös zu bekämpfen versucht, hat in einem Umfeld, in dem Reinfektionen recht wahrscheinlich sind, keinen Erfolg und schadet seinen Patienten unter Umständen sogar, weil sie sich stattdessen als Nächstes eine gefährlichere Infektion mit einem anderen Parasiten einhandeln können.

And if intestinal worms are protective against giardia, there’s a tradeoff, and then the question is, which of the two is worse? – Michael Gurven

Auch andere Parasiten wie der Malaria-Erreger Plasmodium oder der Pärchenegel Schistosoma können durch Wurminfektionen – je nach Wurmart positiv oder negativ – beeinflusst werden, wie andere Forscherteams herausgefunden haben. Ob die um eine ökologische Nische konkurrierenden Parasiten sich gegenseitig bekämpfen oder eine Immunreaktion, die gegen die bereits etablierte Infektion gerichtet ist, weitere Neuinfektionen verhindert, ist noch unklar.

Würmer scheinen zudem das Immunsystem so zu besänftigen oder zu polarisieren, dass Autoimmunerkrankungen – selbst bei einer entsprechenden genetischen Veranlagung – nur ganz selten zum Ausbruch kommen.

We see very minimal autoimmune disorder in the Tsimane. – Michael Gurven

Anschließend habe ich einen Artikel gelesen, in dem die Autoren der größten klinischen Studie der Welt (DEVTA) mit einigen Jahren Verspätung einräumen mussten, dass die jahrelange massenhafte Behandlung von über einer Million indischen Kindern im Vorschulalter mit achttausend Kilogramm (!) Albendazol weder die Kindersterblichkeit signifikant gesenkt noch das Körpergewicht nennenswert erhöht hat (Awasthi et al. 2013; dazu auch Garner et al. 2013).

Existing ICDS village staff can be organised to deliver simple pre-school interventions sustainably for many years at low cost, but regular deworming had little effect on mortality in this lightly infected pre-school population. – Awasthi et al. 2013

Belief disconfirmation bias is a recognised phenomenon … Undoubtedly, the fact that there was no apparent effect detected delayed publication. – Garner et al. 2013

Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit in der Cochrane Database of Systematic Reviews zum Einsatz von Entwurmungsmitteln gegen Würmer, die im Darm leben und sich über den Boden übertragen (Taylor-Robinson et al. 2015), kommt zu ähnlich ernüchternden Ergebnissen: Die pauschale Behandlung aller Kinder in einem Endemiegebiet erhöht weder deren Körpergewicht noch den Hämoglobingehalt ihres Blutes signifikant; ihre kognitiven Fähigkeiten und ihr schulischen Leistungen verbessern sich nicht merklich; ihre Sterblichkeit verringert sich nicht signifikant; lediglich die Häufigkeit der Schulbesuche scheint bei regelmäßiger Entwurmung geringfügig anzusteigen.

However, in mass treatment of all children in endemic areas, there is now substantial evidence that this does not improve average nutritional status, haemoglobin, cognition, school performance, or survival. – Cochrane Review, 2015

Haben diese Erkenntnisse über die Zweischneidigkeit der isolierten Bekämpfung eines Parasiten-Typs unter Ausblendung des restlichen Ökosystems und über die geringe Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von breit angelegten Entwurmungskampagnen bereits Niederschlag gefunden in den Policies all der Stiftungen und Organisationen, die sich zum Teil nicht weniger als die Entwurmung der gesamten Menschheit auf die Fahnen geschrieben haben?

Bei der Bill & Melinda Gates Foundation ist im April 2014 noch nichts davon zu bemerken. In einer Ankündigung einer neuen Kooperation zur Bekämpfung von über den Boden verbreiteten Würmern heißt es:

CIFF is now committing an additional US$50 million over the next five years to implement large-scale systematic approaches to deworming in a number of countries, with the hope that, ultimately, we can break the transmission of worms and achieve the vision of: every child, everywhere, free from worms forever. – Jamie Cooper-Hohn, Chair of CIFF

Erreichen will man das unter anderem, indem man die Entwurmungsmittel systematisch unter die Schulspeisen mischt. Wie bei anderen großen Programmen auch werden die Kinder nämlich nicht auf Wurmbefall untersucht, sondern der Wirkstoff wird einfach allen verabreicht – weil das billiger ist, wie es in den Berichten ganz offen heißt. Dabei hat zum Beispiel Albendazol eine Reihe von Nebenwirkungen. Schwere Nebenwirkungen sind selten, aber wenn Abermillionen Kinder, darunter Millionen ohne Würmer und weitere Millionen mit einem schwachen, asymptomatischen Befall, das Medikament zum Teil mehrmals jährlich nehmen, summieren sich die seltenen Fälle – und das bei gleichzeitig starken Zweifeln an der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Maßnahme.

Wenn in Europa einfach mal prophylaktisch Antibiotika oder ähnliche Substanzen in Kindernahrung gemischt würden, wäre – zu Recht – der Teufel los. Denn dass es keine gute Idee ist, ohne Not das Mikrobiom junger Menschen zu destabilisieren, spricht sich allmählich herum.

Beim Giving What We Can Trust wird im Juli 2014 „The evidence for deworming“ zusammengefasst. Die aktuelle Studienlage wird als uneinheitlich bezeichnet. Eine Cochrane-Übersicht von 2012, die ähnlich ernüchternd ausgefallen war wie ihr aktueller Nachfolger (s. o.), wurde offenbar vor allem von Innovations for Poverty Action (IPA) wegen der Nichteinbeziehung einiger Studien mit positiven Ergebnissen scharf kritisiert. Auch die 2013 – acht Jahre nach ihrem Abschluss – endlich veröffentlichte DEVTA-Studie von Awasthi et al. (s. o.) musste viel Kritik einstecken, nicht nur wegen der langen Verzögerung. Ich habe allerdings den Eindruck, dass diese Kritik hier hervorgehoben wird, um ein Festhalten an der Unterstützung von Massenentwurmungskampagnen zu rechtfertigen. So heißt es dann auch:

To conclude, although some recent studies have shown no improvements to health and education after deworming, the data are not always reliable and the studies not always well-executed … Overall, it appears that there can be short-term and long-term health benefits to deworming … As a result, both GiveWell and Giving What We Can continue to recommend deworming and schistosomiasis treatment programs such as SCI and Deworm The World Initiative. – Olga Kuznetsova

Ein knappes Jahr später, im Mai 2015, veröffentlicht Giving What We Can ein ausführliches Update, das den allmählichen Einzug eines ökologischen und evolutionsbiologischen Denkens und zumindest leichte Kurskorrekturen erkennen lässt. So heißt es nun:

There are several reasons to believe that certain intensities of some STHs [soil-transmitted helminths, also über den Boden übertragene Würmer] actually protect people from malaria and thus there is a worry that deworming might make people more susceptible to malaria. … The default condition of the mammalian ancestral immune system was to be parasitized by gastrointestinal worms … Malaria is one the strongest known selective force on the human genome. Based on our knowledge about the human immune system, it is plausible to assume that malaria and helminths interact. – Hauke Hillebrandt

Dass die große DEVTA-Studie keine signifikanten Gesundheits- oder Bildungseffekte einer Massenentwurmung von Kindern ergab, könnte laut Hillebrandt an einer unzureichenden Teststärke der Studie liegen – was bei fünf Jahren Beobachtungszeit und über einer Million Kindern schon ein wenig seltsam klingt, selbst wenn die Daten der Studienteilnehmer zu größeren Blöcken zusammengefasst wurden, was die Power reduziert hat.

Zur Fortführung der Massenmedikation ohne vorheriges Screening heißt es:

Crucially, screening followed by treatment of those children testing positive for worms is far less practical and more costly than mass treatment of infected and uninfected children without diagnostic testing.

Immerhin will man sich künftig auf Regionen mit starkem Wurmbefall konzentrieren:

In the light of this cost-benefit analysis for screening versus mass treatment, the case for mass deworming is still strong, but one might suggest that it is better to focus more on more heavily infected populations and improve trials.

Die Kooperation mit der Deworm The World Initiative soll fortgesetzt werden. Deren Website macht allerdings nach wie vor einen leicht schönfärberischen, undifferenzierten Eindruck. So heißt es dort:

… the drugs are very safe and has no side effects for the uninfected …

Über mögliche negative Auswirkungen einer Entwurmung auf andere Infektionsraten verliert die Initiative kein Wort; vielmehr werden nur positive Interaktionen vermerkt, etwa zwischen Entwurmung und Malaria-Abwehr. Aus der großen DEVTA-Studie wird auch hier lediglich abgeleitet, dass man sich künftig vorrangig in Gegenden mit stärkerem Wurmbefall engagieren will. Für eine Initiative, die von einer Organisation namens Evidence Action getragen wird, ist das ein schwaches Bild.

Im August 2015 hat Innovations for Poverty Action (IPA) – die Initiative, die die 2012er Cochrane-Übersicht so scharf kritisiert hat – unter dem Titel „Deworming: An informed debate requires a careful look at the data“ die Notwendigkeit betont, eine sehr positiv ausgegangene Studie über Entwurmungen in kenianischen Grundschulen von 2004 unabhängig zu reproduzieren, um Zweifel an den damaligen Ergebnissen zu klären. Bis dahin will man aber mit den Schul-Entwurmungskampagnen fortfahren wie bisher. Und „bisher“ heißt: gut 95 Millionen entwurmte Kinder.

Da wünscht man sich schon eine etwas bessere Evidenzbasierung – und ernsthaftere Diskussionen über die potenziellen Nebenwirkungen dieser Eingriffe ins Immunsystem, seien es nun Autoimmunerkrankungen, Asthma und Allergien oder die Zunahme anderer gefährlicher Infektionen.

 

Wurmbefall bei den Tsimane: Alte Freunde sorgen für Kindersegen

Ein neuer Aspekt der Alte-Freunde-Hypothese, der zufolge bestimmte Würmer aufgrund ihrer langen Koevolution mit dem Menschen und der partiellen Übereinstimmung der Interessen von Wirt und Parasit unser Immunsystem zu unserem Vorteil regulieren können: Manche Würmer steigern offenbar die Fruchtbarkeit von Frauen – vermutlich durch Toleranzinduktion, also eine Besänftigung des Immunsystems, die die Einnistung befruchteter Eizellen fördert.

Dies hat ein Forscherteam um Aaron D. Blackwell bei den Tsimane in Bolivien entdeckt, einem Volk von Subsistenz-Ackerbauern und Fischern, in dem Empfängnisverhütung noch keine große Rolle spielt. Etwa 70 Prozent der Frauen haben Parasiten, vor allem Hakenwürmer und Spulwürmer. Frauen ohne solche Parasiten bekommen im Durchschnitt 10 Kinder, Frauen mit Hakenwurmbefall 7 und solche mit Spulwurmbefall 12. Frauen mit Spulwürmern sind bei der ersten Geburt jünger, und der Abstand zwischen ihren Schwangerschaften ist kleiner. Die schwangerschaftsfördernde Wirkung der Spulwürmer nimmt mit den Jahren ab. Bei älteren Frauen hemmen die Spulwürmer weitere Schwangerschaften sogar, aber der positive Effekt in jungen Jahren überwiegt. Hakenwürmer wirken dagegen über die Jahre hinweg konstant schwangerschaftshemmend, obwohl die Frauen nicht unterernährt sind und auch sonst nicht offensichtlich unter ihrem Wurmbefall leiden.

Die Studie (eigentlich hinter einer Paywall, aber über einen „privaten“ Link von der Homepage des Hauptautors netterweise im Volltext zugänglich) ist Teil einer Langzeitbeobachtung der Tsimane (Projektseite), die bereits viele interessante Erkenntnisse – etwa über Koinfektionen mit mehreren Parasiten oder über Zusammenhänge zwischen Parasitenbefall und Depressionen – zutage gefördert hat. Die Autoren bedanken sich am Ende ihrer Studie bei den Tsimane für ihre geduldige Mitwirkung am Projekt. Von dieser Wertschätzung könnten sich die Herren Doctores, die sich beispielsweise bei DocCheck zu der hohen Kinderzahl der Tsimane äußern und dabei einen eklatanten Mangel an Bildung, Benimm, Reflexionsvermögen und Empathie zu erkennen geben, ruhig eine Scheibe abschneiden.

Hier noch zwei Dokumentationen, die Einblicke in das Leben der Tsimane geben – beide mit spanischen Untertiteln, aber man bekommt auch ohne Spanischkenntnisse eine Menge mit:

Porträt einer noch recht ursprünglich lebenden Familie; das süße Tier ist übrigens ein Paka

Das Leben von Tsimane, die bereits mehr Kontakt zur Moderne haben

 

Etablierung der Hautflora nach der Geburt: Ohne Tregs keine Toleranz

Eine aktuelle Arbeit, die genau zu dem Teil des Buches passt, den ich gerade schreibe, nämlich zur Entwicklung des Immunsystems rund um die Geburt:

T. C. Scharschmidt et al.: A Wave of Regulatory T Cells into Neonatal Skin
Mediates Tolerance to Commensal Microbes. Immunity 43, 1011–1021, November 17, 2015, doi: 10.1016/j.immuni.2015.10.016

Dazu auch Anna Azvolinsky: Birth of the Skin Microbiome

Unsere Haut ist eine der wichtigsten Barrieren zwischen der Außenwelt und unserem Körper und zugleich ein wichtiges Immunorgan. Ein Quadratzentimeter enthält über eine Million Lymphozyten und ist mit etwa einer Million Bakterien besiedelt. Das Mikrobiom der Haut unterscheidet sich grundlegend von der Flora etwa in unserem Darm oder in den Atemwegen, und die Ausbildung der Hautflora ist viel schlechter untersucht als die Etablierung der Darmflora. Unsere Haut ist vielschichtig und enthält zahlreiche Strukturen wie Haarfollikel oder schweiß- und Talgdrüsen, und sie wird im täglichen Leben häufig verletzt, wobei auch Bakterien in die tieferen Schichten eindringen – ohne dort normalerweise Entzündungen auszulösen.

Das kalifornische Forscherteam hat nun an Mäusen untersucht, wann und wie sich die Toleranz des Immunsystems gegenüber dem Bakterium Staphylococcus epidermis ausbildet, einem Kommensalen, der bei Mensch und Maus vorkommt. Bringt man die Bakterien auf die intakte Haut junger, aber ausgewachsener Mäuse auf, so kommt es zu einer gewissen T-Zell-Reaktion, aber nicht zu einer merklichen Entzündung. Kratzt man die Mäuse einige Wochen später und trägt erneut Bakterien auf die nunmehr verletzte Haut auf, so entzündet sie sich, es wandern viele Neutrophile (Zellen der angeborenen Abwehr) in die Haut ein, und die T-Zellen (Zellen der erworbenen Abwehr) reagieren stark auf die Eindringlinge. Das Immunsystem hat also durch den Erstkontakt keine Toleranz ausgebildet.

Anders, wenn man das Experiment mit eine Woche alten Mäusen beginnt, die vier Wochen später gekratzt und erneut mit den Bakterien konfrontiert werden: Bei ihnen werden dann nur wenige T-Zellen aktiv, und die Entzündung fällt sehr schwach aus. Der Organismus ist offenbar gegen Staphylococcus epidermis tolerant geworden. Dafür sind offenbar spezifische regulatorische T-Zellen oder Tregs vonnöten, die vor allem während der zweiten Lebenswoche der Mäuse recht abrupt in die Haut einwandern. Tregs aus dem Thymus sind auch in der Darmschleimhaut notwendig, um das Immunsystem gegen die Darmflora milde zu stimmen. Anders als im Darm beeinflusst die Zahl der Keime auf der Haut aber nicht die Zahl der Tregs.

Über 80 Prozent der CD4+-T-Zellen in der Haut von 1-2 Wochen alten Mäusen sind Tregs, während es bei erwachsenen Mäusen etwa 50 Prozent sind. Ihre Dichte in der Haut ist bei den Baby-Mäusen doppelt so hoch wie bei den ausgewachsenen Tieren, und sie sind hochgradig aktiviert – wiederum im Unterschied zu den Haut-Tregs erwachsener Mäuse. In tiefer liegenden Gewebeschichten kommt es nach der Geburt nicht zu einer Treg-Akkumulation; diese ist also hautspezifisch.

Behandelt man die neugeborenen Mäuse kurz vor dem ersten Auftragen von Staphylococcus epidermis mit einem Rezeptorantagonisten, der spezifisch die Auswanderung von Tregs aus dem Thymus unterbindet, so werden die Mäuse nicht tolerant gegen den Keim: nach dem Aufkratzen der Haut und dem zweiten Kontakt mit den Bakterien reagieren sie mit einer starken Entzündungsreaktion – anders als die Kontrollgruppe, in der die Wanderung der Tregs aus dem Thymus in die Haut nicht unterbunden wurde.

Außerdem enthält die Haut der Tiere mehr für Staphylococcus-Antigene spezifische Effektor-T-Zellen und weiterhin nur wenige für Staphylococcus-Antigene spezifische Tregs, obwohl die migrationshemmende Wirkung des vier Wochen zuvor verabreichten Rezeptorantagoisten längst abgeklungen ist und andere Tregs durchaus in der Haut vorkommen. Die Antigen-spezifischen Tregs müssen also im richtigen Zeitfenster – ein bis zwei Wochen nach der Geburt der Mäuse – aus dem Thymus in die Haut gelangen, um eine Toleranz gegen Kommensalen aus der Hautflora aufzubauen.

Anders als im Darm, in dem sowohl angeborene, direkt aus dem Thymus stammende Tregs (nTregs oder tTregs) als auch in der Peripherie durch Antigen-Präsentation induzierte Tregs (iTregs) an der peripheren Toleranz beteiligt sind, scheinen iTregs in der Haut nicht an der Etablierung der Toleranz gegen Kommensalen beteiligt zu sein – zumindest nicht in diesem frühen Zeitfenster. Auch die Mechanismen, über die Tregs andere Immunzellen tolerant stimmen, unterscheiden sich offenbar: Im Darm spielt das von den Tregs ausgeschüttete, entzündungshemmende Zytokin IL-10 eine große Rolle, während ein IL-10-Mangel das Gleichgewicht in der Haut nicht weiter zu stören scheint.

Auch die abrupte, massive Einwanderung hoch aktiver Tregs und während der zweiten Lebenswoche der Mäuse scheint hautspezifisch zu sein: Im Darm kommt es gar nicht zu einer solchen Welle, und in der Lunge ist sie erstens viel schwächer (Tregs stellen dort höchstens 15 Prozent der CD4+-T-Zellen statt über 80 Prozent) und zweitens offenbar nicht für die Ausbildung der Toleranz gegen Atemwegs-Kommensalen zuständig.

Auffällig ist, dass die Haarfollikel in der Haut der jungen Mäuse genau zur Zeit der Treg-Einwanderung entstehen. Tregs halten sich in der Haut von Mäusen wie Menschen bevorzugt an den Haarfollikeln auf. Vielleicht sondern die entstehenden Follikel ein Chemokin ab, das die Tregs anzieht. Da sich an den Haarwurzeln besonders viele Kommensalen ansiedeln, wäre es evolutionär von Vorteil, wenn auch die periphere Toleranzausbildung vor allem dort stattfände.

Da die Barrierefunktion der Haut nicht nur lokale, sondern (etwa bei der Entstehung von Asthma) auch systemische Auswirkungen hat, sollte man mit allem, was die Ausbildung einer normalen Hautflora und einer Toleranz des Immunsystems gegen diese Kommensalen beeinträchtigen könnte, sehr aufpassen – etwa mit Antibiotika-Behandlungen bei Neugeborenen.

Hunde, Vieh und Darmbakterien schützen vor Asthma

Die Durchsicht der seit Mitte September aufgelaufenen Wissenschafts-Newsletter hat ergeben: ausnahmsweise keine grundstürzenden Neuigkeiten auf dem Gebiet der Immunologie, insbesondere der Autoimmunerkrankungen. Zwei Arbeiten zum Asthma-Risiko haben Aufmerksamkeit erregt, obwohl sie nur bestätigen, was sich schon in den letzten Jahren abgezeichnet hat.

Bereits 2012 hatte ich hier kurz von einer finnischen Untersuchung berichtet, der zufolge Hun­de­hal­tung im länd­li­chen Raum für ein gesün­de­res ers­tes Lebens­jahr von Klein­kin­dern sorgt: weni­ger Ohr­ent­zün­dun­gen und Schnup­fen, weni­ger Anti­bio­ti­ka­be­hand­lun­gen. Wichtig war, dass die Haustiere genug Zeit an der frischen Luft verbrachten, um mit den nötigen Keimen in Berührung zu kommen.

Vermittelt wird die Schutzwirkung vermutlich – zumindest teilweise – über das Enzym A20 in unseren Schleimhäuten, dessen Aktivität durch Endotoxine (Lipopolysaccharide aus Bakterienzellwänden) angeregt wird.

Nun hat ein schwedisches Forscherteam in einer landesweiten Kohortenstudie über 600.000 zwischen 2001 und 2010 in Schweden geborene Kinder auf Zusammenhänge zwischen Asthma und Kontakt zu Hunden oder Vieh untersucht. Dabei zeigte sich: Kinder, die im ersten Lebensjahr Kontakt zu einem Hund hatten, hatten im Kindergarten- und Grundschulalter ein verringertes Asthma-Risiko. Kontakt zu Bauernhoftieren verringerte das Risiko, später an Asthma zu erkranken, noch stärker als Hundekontakt.

Doch nicht nur Bakterien aus der Tierhaltung, sondern auch solche aus unsere eigenen Darmflora können vor Asthma schützen. Kanadische Wissenschaftler haben die Bakterien im Kot von drei Monate alten Kindern analysiert und in den nächsten drei Jahren verfolgt, ob die Kinder Ekzeme oder Atemgeräusche entwickelten, die als erste Anzeichen von Asthma gelten. In der Darmflora von Säuglingen, die später diese Anzeichen zeigten, waren die Bakteriengattungen Faecalibacterium, Lachnospira, Veillonella und Rothia signifikant schwächer vertreten als bei den anderen Säuglingen, und ihr Kot enthielt weniger Acetat als normal – eine der kurzkettigen Fettsäuren (SCFA), von denen hier schon öfter die Rede war: Stoffwechselprodukte, mit denen bestimmte Darmbakterien unser Immunsystem beeinflussen. Diese Dysbiose war transient; später normalisierte sich die Zusammensetzung der Darmflora.

Im Tierversuch ließ sich das Asthma-Risiko durch Animpfen keimfrei geborener Mäuse mit Darmbakterien aus asthmatischen Artgenossen erhöhen, durch Übertragung der vier genannten Bakteriengattungen dagegen verringern. Ob das auch bei Menschen funktioniert, muss sich noch erweisen. Weiter untersucht werden sollte auch, ob neben dem Asthma-Risiko auch das Risiko von Autoimmunerkrankungen durch eine vorübergehende Dysbiose kurz nach der Geburt erhöht wird.

Literatur:

T. Fall et al.: Early Exposure to Dogs and Farm Animals and the Risk of Childhood AsthmaJAMA Pediatr. 2015;169(11):e153219. doi:10.1001/jamapediatrics.2015.3219 (nur Abstract frei);

dazu auch: Hunde senken Asthmarisiko. Früher Kontakt mit Hunden schützt Kinder gegen die Überreaktion des Immunsystems

M.-C. Arrieta et al.: Early infancy microbial and metabolic alterations affect risk of childhood asthmaScience Translational Medicine 30 Sep 2015: Vol. 7, Issue 307, pp. 307ra152, DOI: 10.1126/scitranslmed.aab2271 (nur Abstract frei);

dazu auch: Jef Akst: Gut Bacteria Linked to Asthma Risk. Four types of gut bacteria found in babies’ stool may help researchers predict the future development of asthma und Mit vier Bakterien gegen Asthma. Darmflora bei Säuglingen liefert vielversprechenden Ansatz für eine vorbeugende Therapie

Aus dem Bauch heraus: Mikrobiom beeinflusst Immunzellen im Gehirn

Unser Gehirn ist ein immunologisch privilegiertes Organ, in dem Immunreaktionen besonders strikt reguliert werden, um Kollateralschäden zu vermeiden. Dennoch enthält es Immunzellen, vor allem solche der angeborenen Abwehr – insbesondere Mikroglia.

Zu deren Aufgaben gehört das Pruning: das Wegschneiden überflüssiger Verbindungen (Synapsen) zwischen Nervenzellen, vor allem während der Kindheit und Adoleszenz. Mikroglia sind gewissermaßen die Gärtner des Gehirns, die die Sträucher regelmäßig zurückschneiden, bevor sie zu einem undurchdringlichen, dysfunktionalen Gestrüpp zusammenwuchern. Krankhaft überaktive Mikroglia übertreiben das Stutzen; sie zerstören auch Verbindungen zwischen Neuronen, die für die Gehirnfunktion notwendig sind. Andererseits sind auch erschöpfte, nicht hinreichend aktive Mikroglia schädlich, denn sie kommen mit dem Aufräumen, dem Entsorgen von Krankheitskeimen oder toten oder erkrankten Nervenbestandteilen nicht mehr hinterher. Abnorme Mikroglia werden unter anderem mit Multipler Sklerose, aber auch mit Alzheimer-Demenz und Schizophrenie in Verbindung gebracht.

Offenbar wird ihre Aktivität unter anderem von unserer Darmflora reguliert. Vermittelt wird diese Fernwirkung vermutlich über sogenannte kurzkettige Fettsäuren (short-chained fetty acids = SCFA), also Gärungsprodukte wie Essig-, Propion- und Buttersäure, die die Darmbakterien aus unserer Nahrung gewinnen. Diese durchdringen das Darmepithel und gelangen dann entweder selbst über das Blut ins Gehirn, oder sie regen in unserem Darmgewebe Zellen zur Ausschüttung von Botenstoffen an, die dann ihrerseits über die Adern ins Gehirn kommen.

Im Gehirn von Menschen, die ein hohes Schizophrenie-Risiko haben oder sich bereits in der Frühphase der Erkrankung befinden, ist die Konzentration von Zytokinen erhöht; ihre graue Materie geht zurück, und ihre Mikroglia sind überaktiv: Anzeichen für eine Entzündung. Je stärker ihre Mikroglia aktiviert sind, desto stärker sind die Schizophrenie-Symptome, wenn die Erkrankung schließlich ausbricht. Die zeitliche Abfolge lässt vermuten, dass die Mikroglia-Aktivierung nicht lediglich eine Folge einer bereits eingetretenen Störung im Gehirn ist, sondern diese mit verursacht. Dazu passt auch das Lebensalter, in dem Schizophrenie und weitere psychische Erkrankungen besonders häufig ausbrechen: während oder kurz nach der Adoleszenz – genau dann, wenn die Mikroglia im Frontalkortex viel Pruning betreiben.

Literatur:

D. Erny et al.: Host microbiota constantly control maturation and function of microglia in the CNSNature Neuroscience 18, 965–977 (2015), doi:10.1038/nn.4030 (nur Abstract frei)

Dazu auch Katrin Zöfel: Bakterien für ein gesundes Gehirn (09.10.2015)

P. S. Bloomfield et al.: Microglial Activity in People at Ultra High Risk of Psychosis and in Schizophrenia: An [11C]PBR28 PET Brain Imaging StudyAmerican Journal of Psychiatry, http://dx.doi.org/10.1176/appi.ajp.2015.14101358 (nur Abstract frei)

Dazu auch Mo Costandi: Brain’s immune cells hyperactive in schizophrenia (16.10.2015)