Zwei schnelle Skizzen an einem ansonsten leider unproduktiven Tag – Erläuterungen folgen im Buch.
Archiv der Kategorie: Neues vom Buch
Autoreaktive Plasmazellen als Hausbesetzer
Neue Skizzen fürs Buch:
Die Zahl der Nischen, in denen reife Plasmazellen (antikörperproduzierende B-Zellen) langfristig überleben können, ist im gesunden Körper begrenzt. Plasmazellen, die keine solche Nische im Knochenmark oder in der Milz ergattern können, sterben ab. So wird das Immunsystem nach einer Infektion wieder auf ein Normalmaß heruntergeregelt.
Bei einer Autoimmunattacke wird der Organismus von zahlreichen Plasmazellen überschwemmt, die autoreaktive Antikörper produzieren. Durch ihre schiere Überzahl können sie einer Hypothese zufolge alte Plasmazellen aus ihren Überlebensnischen verdrängen, so dem Zelltod entkommen und weiterhin Autoantikörper produzieren. Da sie sich in diesem Stadium nicht mehr vermehren, ist ihnen mit den üblichen Immunsuppressiva schwer beizukommen, denn diese Wirkstoffe setzen überwiegend an der Zellteilung an (Zytostastika).
Blinde Passagiere auf der Santa Maria
Kolumbus brachte aus der Neuen Welt reiche Beute mit – neben Treponema pallidum (dem Syphilis-Erreger) vermutlich auch irgendein Bakterium oder Virus oder Allergen, das bei Menschen mit entsprechender Veranlagung rheumatoide Arthritis auslöst.
Vor der „Entdeckung“ Amerikas war diese Autoimmunerkrankung in Europa unbekannt. Bei alten amerikanischen Skeletten lassen sich dagegen die typischen Gelenkdeformationen nachweisen. Im Gegenzug brachten die Europäer Masern-, Pocken- und Grippe-Erreger nach Amerika.
Die Sache mit dem Salz – und noch einmal Karelien
Vor einigen Monaten gingen die Ergebnisse zweier Studien durch die Presse, die die hohe Aufnahme von Speisesalz durch „westliche Kost“ – insbesondere Fast Food – mit der Zunahme von Autoimmunerkrankungen in Verbindung brachten. Markus Kleinewietfeld et al. und Chuan Wu et al. hatten sowohl Zellkulturen als auch Wildtyp- sowie EAE-Mäuse (Tiermodelle für Multiple Sklerose) Natriumchlorid ausgesetzt, festgestellt, dass dies die Entstehung pathologischer Th17-Zellen fördert, und die molekularen Mechanismen untersucht. Als Schlüsselelement machten sie das Enzym SGK1 aus, das unter anderem den Natriumpegel in Zellen reguliert. Eine erhöhte Salzaufnahme mit der Nahrung scheint eine starke SGK1-Expression zu induzieren und damit auch die Expression des IL-23-Rezeptors, was die Th17-Zelldifferenzierung steigert.
Auf den ersten Blick scheint das gut zum hohen Salzgehalt der modernen industriell gefertigten Kost in den westlichen Industrieländern zu passen. Im steinzeitlichen Afrika, in dem unser Immunsystem einen großen Teil seiner evolutionären Entwicklung durchlaufen hat, haben unsere Vorfahren sicherlich viel weniger Natriumchlorid aufgenommen, und die Zunahme vieler Autoimmunerkrankungen in den letzten 50 Jahren im Westen deckt sich zeitlich in etwa mit dem Siegeszug von McDonald’s & Co. Aber richten wir den Blick doch noch einmal nach Karelien, vor allem in den finnischen Teil: Wie im vorigen Beitrag festgestellt, sind viele Autoimmunerkrankungen dort viel häufiger als in der russischen Republik Karelien, direkt nebenan, und die Prävalenzen und Inzidenzen sind in den letzten Jahrzehnten zum Teil dramatisch angestiegen.
Aber: Seit den 1970er-Jahren gab es in Finnland massive Bemühungen, die Ernährung der Bevölkerung gesünder zu gestalten, um die unglaublich hohen Sterberaten durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verringern – mit großem Erfolg. Zwischen 1979 und 2002 sank die Natrium-Ausscheidung im Harn (ein gutes Maß für die Salzaufnahme) bei finnischen Männern von über 220 auf unter 170 mmol/Tag und bei finnischen Frauen von fast 180 auf unter 130 mmol/Tag. Eines der Gebiete, in denen Laatikainen et al. diese Messungen vornahmen, war Nordkarelien. Übrigens werden in Finnland heute auch Getreideprodukte, die ebenfalls oft mit der Zunahme der Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht werden, wesentlich weniger verzehrt als noch in den 1950er-Jahren.
Karelien
Eine Skizze fürs Buch:
Was darin noch fehlt, sind die Zahlen: Untersucht wurden Schulkinder in der finnischen Region Karelien (linkes Wappen) und in der russischen Republik Karelien (rechtes Wappen), Durchschnittsalter 11 Jahre.
Sie gehören überwiegend zur selben ethnischen Gruppe, sodass Risiko-Genorte für die Erkrankungen ungefähr gleich stark vertreten sind. Die Vitamin-D-Konzentrationen in ihrem Blut und im Blut ihrer Mütter sind nahezu gleich, und sie nehmen etwa gleich viele glutenhaltige Getreideprodukte zu sich – in Russland sogar etwas mehr und evtl. auch früher. Die finnischen Kinder werden im Durchschnitt erheblich länger gestillt als die russischen.
Im finnischen Teil Kareliens ist bei ihnen
- die Prävalenz von Typ-1-Diabetes 6-mal so groß wie im russischen Teil,
- die Prävalenz von Zöliakie 4,6-mal so groß wie im russischen Teil,
- der Anteil mit Antikörpern gegen Schilddrüsen-Autoantigene 5,5- bis 6,5-mal so groß wie im russischen Teil,
- die Prävalenz von Allergien deutlich höher als im russischen Teil.
Im russischen Teil Kareliens sind
- Wurminfektionen, z. B. Spulwurminfektionen, erheblich häufiger als im finnischen Teil,
- 73% der Kinder mit Helicobacter pylori infiziert, während es im finnischen Teil 5% sind,
- Infektionen mit Hepatitis A, Toxoplasma gondii und Enteroviren erheblich häufiger als im finnischen Teil, und
- prozentual erheblich mehr Kinder ohne Diabetes oder Allergien Hepatitis-A-seropositiv als Kinder, die an Diabetes und/oder Allergien leiden.
Das Bruttosozialprodukt beträgt in Finnland gut 40.000 US-$, in der russischen Republik Karelien 5780 US-$ pro Kopf. Alles in allem stützen diese Zahlen die Hygiene- oder Alte-Freunde-Hypothese.
Die Prävalenz von Typ-1-Diabetes ist in Finnland höher als in jedem anderen Land der Welt; 2006 hat sie 63 pro 100.000 erreicht.
Geoepidemiologie der Autoimmunerkrankungen
Prävalenzen und Inzidenzen
Eine Skizze für das epidemiologische Kapitel des Autoimmunbuchs:
In der epidemiologischen Fachliteratur ist von Prävalenzen und Inzidenzen die Rede. Die Prävalenz einer Krankheit ist ihre Häufigkeit, zum Beispiel in der Bevölkerung eines Landes, bei den Frauen einer Region oder bei den bis zu 6 Jahre alten Kindern auf einer Insel. Sie wird meist pro 100.000 Personen angegeben. Im Bild wäre die Prävalenz 4000 – oder 4 Prozent (4000/100.000). Die Bezeichnung leitet sich vom lateinischen praevalere = vorherrschen ab.
Die Inzidenz (vom lateinischen incidere = anfallen) gibt dagegen an, wie viele neue Fälle in einem Jahr auftreten. Im Bild betrüge die aktuelle Inzidenz der Beispielkrankheit 1000 pro 100.000 oder 1 Prozent. Prävalenzen und Inzidenzen sind ohne weitere Angaben kaum miteinander zu vergleichen. Klar ist, dass die Inzidenz bei chronischen Erkrankungen praktisch immer deutlich kleiner ist als die Prävalenz, da Letztere auch die in den vorangegangenen Jahren aufgetretenen Fälle umfasst, sofern die Betroffenen noch leben.
Wenn die Inzidenz im letzten Jahrzehnt größer ist als im Jahrzehnt zuvor oder die Inzidenz unter Kleinkindern größer als die unter Jugendlichen, deutet das darauf hin, dass die Krankheit häufiger wird. Das ist z. B. bei Typ-1-Diabetes in der westlichen Welt der Fall – und neuerdings auch in China. Auch beim Vergleich von Prävalenzen, beispielsweise zwischen mehreren Ländern oder Breitengrad-Gürteln der Erde, muss man aufpassen: Wurden sie ungefähr zur selben Zeit erhoben? Und sind sie wirklich unterschiedlich – oder wird die Krankheit in einem Land womöglich nur weniger sorgfältig oder nach anderen Kriterien diagnostiziert?
Hokuspokus im Thymus
Endlich eine neue Skizze fürs Buch: Medulläre Thymus-Epithelzellen (mTEC) exprimieren das Gen AIRE, das einen universellen Transkriptionsfaktor codiert. Dieser dockt an beliebige Gene in den Zellkernen an und sorgt für die ektopische (d. h. nicht am üblichen Ort erfolgende) Herstellung aller möglicher eigentlich gewebe- und organspezifischer Proteine im Thymus. Auf diese Weise präsentieren die Thymus-Epithelzellen (hier als Illusionskünstler dargestellt) den jungen T-Zellen nahezu alle körpereigenen Proteine.
Immunzellen, die stark auf eines dieser Proteine ansprechen (Sprechblasen), würden später zu Autoimmunreaktionen neigen und müssen daher ausgeschaltet werden. Das Ergebnis dieses Selektionsvorgangs nennt man „zentrale Toleranz“, da fast nur solche Immunzellen übrig bleiben, die körpereigene Antigene in Ruhe lassen. Ergänzt wird er später im Körper durch weitere Selektions- und Umpolungsvorgänge, die peripheren Toleranzmechanismen. Mutationen im Gen AIRE oder andere Störungen der Selektion im Thymus führen bereits im Kindesalter zu schweren, oft gegen eine Vielzahl körpereigener Antigene gerichteten Autoimmunreaktionen.
Proximate und ultimate Ursachen
Noch eine Skizze fürs Buch. Der niederländische Verhaltensforscher Nikolaas Tinbergen (1907-1988) vertrat den Standpunkt, eine biologische Erklärung müsse vier Fragen beantworten, um vollständig zu sein:
- Welcher Mechanismus steckt hinter dem Phänomen?
- Wie entwickelt sich das Phänomen ontogenetisch, also im Lauf eines Lebens?
- Welchen Anpassungsvorteil hat es mit sich gebracht?
- Wie ist es phylogenetisch, also im Lauf der Stammesgeschichte entstanden?