Das seltsame Immunsystem der Tiefsee-Anglerfische

#NaNoWriMo22, Tag 5

Die Tiefsee – unendliche Weiten. Wir befinden uns in einer fernen Vergangenheit. Dies sind die Abenteuer eines Tiefseeangler-Weibchens, das viele Meilen von der Wasseroberfläche entfernt unterwegs ist, um fremde Männchen zu entdecken …

Im Ernst: Wie findet man da unten in der finsteren, kalten, erdrückenden Leere Partner? Die Tiefseeanglerfische (Ceratioidei) mussten sich nicht nur an den enormen Druck der auf ihnen lastenden Wassersäule anpassen, der normale Proteine in kürzester Zeit mit Wassermolekülen durchsetzen, verformen und funktionsuntüchtig machen würde, an die völlige Dunkelheit ihres Lebensraums und an den Mangel an Nahrung, sondern auch Mittel und Wege finden, um die Wahrscheinlichkeit von Begegnungen mit Artgenossen des anderen Geschlechts zu erhöhen.

Die Weibchen tragen am Ende eines angelförmigen Auswuchses an der Stirn Laternen, in denen symbiotische Leuchtbakterien etwas Licht für sie produzieren. Damit locken sie nicht nur Krebse und Fische an, die sie dann mit ihren riesigen Mäulern verschlingen, sondern senden auch den Männchen ein Zeichen. Das klappt aber nur, wenn diese schon in der Nähe sind.

Die Männchen sind winzig klein und haben, solange sie Junggesellen sind, große Augen und einen sehr empfindlichen Geruchssinn: Sie können noch kleinste Mengen der Sexuallockstoffe erschnuppern, die die Weibchen absondern, und stöbern ihre künftige Partnerin so auf. Den letzten Meter bewältigen sie dann mithilfe ihrer Augen und des Laternen-Leuchtfeuers. Bei vielen Tiefseeanglerfisch-Arten docken sie dann mit dem Mund an das Weibchen an, um es nicht wieder zu verlieren: manche nur vorübergehend, andere permanent; sie verwachsen regelrecht mit ihren und werden von da an über den Blutkreislauf des Weibchens mit Nährstoffen versorgt – bis dass der Tod sie scheidet. Ihre eigenen Organe verkümmern, bis auf die Hoden. Es gibt sogar einige Arten, bei denen mehrere Männchen mit einem Weibchen verwachsen; bis zu acht hat man schon entdeckt. So steht immer Sperma zur Verfügung, wenn das Weibchen ablaicht.

Aber wieso stößt sich das Gewebe des Weibchens und der Männchen nicht ab? Schließlich sind die Tiefseeangler Knochenfische, und diese haben – genau wie wir – neben der angeborenen eigentlich eine erworbene Abwehr. MHC-Klasse-I- und -II-Komplexe, auf denen Antigene präsentiert werden. Zytotoxische T-Zellen, die Eindringlinge töten. T-Helferzellen, die Zytokine ausscheiden. B-Zellen und von ihnen produzierte Antikörper verschiedener Klassen, die fremde Zellen und Fremdkörper markieren und bekämpfen. All diese Komponenten der erworbenen Abwehr sind bei uns Menschen an Abstoßungsreaktionen beteiligt, etwa nach Organtransplantationen.

Ein Forschungsteam um Thomas Boehm hat dieses Rätsel 2020 ansatzweise gelöst. Es hat das Genom von 13 Ceratioidei-Arten analysiert: 3 Arten, bei denen die Männchen nicht mit den Weibchen verwachsen (die Kontrollgruppe), 4 Arten, bei denen die Männchen vorübergehend an ihnen festmachen, 3 Arten, bei denen jeweils ein einzelnes Zwergmännchen permanent mit einem Weibchen verwächst, und schließlich 3 Arten, bei denen sich mehrere permanent festgewachsene Zwergmännchen ein Weibchen teilen.

To make a long story short: Das Immunsystem der Arten, bei denen die Geschlechter eigenständige Orgainsmen bleiben, verfügt über zytotoxische T-Zellen, T-Helferzellen und B-Zellen, die Antikörper herstellen und eine Affinitätsreifung durchlaufen, also bei der Bekämpfung ihrer spezifischen Feindbilder immer effizienter werden. Alles ganz normal für Wirbeltiere, die so Krankheitserreger, Tumorzellen usw. bekämpfen.

Die Arten, bei denen sich die Zwergmännchen phasenweise an die Weibchen anflanschen, haben ebenfalls beide T-Zell-Typen und Antikörper-produzierende B-Zellen; bei ihnen fällt aber die Affinitätsreifung aus, weil die dafür erforderlichen Enzyme mutiert sind. Vermutlich würde diese Optimierung die Antikörper so schlagkräftig machen, dass schon eine vorübergehendes Verwachsen zu Abstoßungsreaktionen führen könnte.

Arten, die permanente Gespanne aus einem Weibchen und einem Männchen bilden, haben ebenfalls keine Affinitätsreifung – und darüber hinaus keine zytotoxischen T-Zellen. Die polyandrischen („vielmännigen“) Tiefseeanglerfisch-Arten schließlich müssen auch ohne T-Helferzellen und ohne jeden Antikörper auskommen: Alle entsprechenden Gene sind durch Mutationen ausgefallen.

Weder in der Forschungsarbeit von 2020 noch in mehreren Kommentaren dazu oder einem Review von 2022 habe ich eine gute Erklärung dafür gefunden, dass T-Helferzellen und Antikörper offenbar beim Verschmelzen eines Weibchens mit einem einzigen Männchen nicht zu einer Abstoßungsreaktion führen, obwohl alle Zellen des Männchens für das Weibchen allograft, also fremdes Gewebe sind – und umgekehrt.

Womöglich sind sich die Männchen der polyandrischen Arten untereinander noch fremder, weil sie miteinander um die Befruchtung der Eier des Weibchens konkurrieren? Das Problem wäre dann gar nicht die drohende Abstoßung durch das Immunsystem des Weibchens, sondern die Abstoßung des einen Männchens durch das Immunsystem des anderen. Aber hier spekuliere ich; hoffentlich löst in den kommenden Jahren jemand dieses Rätsel.

Ebenso rätselhaft ist, wie die Ceratioidei trotz des Verlusts eines großen Teils oder sogar ihrer gesamten erworbenen Abwehr überleben: Wie bekämpfen sie Krankheitserreger, wie handeln sie ohne regulatorische T-Zellen und deren friedlich stimmende Botenstoffe die Symbiose mit den Leuchtbakterien aus? Womöglich haben Teile der angeborenen Abwehr diese Aufgaben übernommen. Aber im Unterschied zu anderen Knochenfischfamilien, denen ebenfalls Teile des erworbenen Immunsystems abhanden gekommen sind, hat man im Genom der polyandrischen Tiefseeangler keine Kompensationsmaßnahmen entdeckt, etwa eine massive Ausweitung der MHC-Klasse-I-Gene. Im Gegenteil: Diese scheinen auch recht spärlich vertreten zu sein.

Offen ist auch die Reihenfolge der Ereignisse: Haben die Fische zuerst durch eine Art genetischen Großunfall Teile ihres Immunsystems eingebüßt – und dann in den folgenden Jahrhunderttausenden das Beste daraus gemacht, nämlich ihr Partnersuche-Problem durch Verschmelzen von Weibchen und Männchen gelöst? Oder war das ein schleichender Prozess der Annäherung der Geschlechter, bei dem immer nur diejenigen Paare überlebten, deren Immunsysteme auf das Gewebe der Partner so schwach wie irgend möglich reagierten? Ein echtes Henne-Ei-Problem, mit dem ich euch nun in die finstere, kalte Tiefseenacht entlasse.

Literatur:

J. B. Swann, S. J. Holland, M. Petersen, T. W. Pietsch, T. W., T. Boehm. The immunogenetics of sexual parasitism. Science. 10.1126/science.aaz9445 (2020)

Bordon, Y. Loss of immunity lets a sexual parasite hold on tight. Nat Rev Immunol 20, 590–591 (2020). https://doi.org/10.1038/s41577-020-00435-5

E. Gering. Anglerfish are not sexual parasites (Leserbrief zu Swann et al.)

N. Isakov. Histocompatibility and Reproduction: Lessons from the Anglerfish. Life 2022, 12(1), 113; https://doi.org/10.3390/life12010113

Selektion durch Pest-Epidemien hat Autoimmun-Risikoallele gefördert

Schwarzweißzeichnung eines Pestarztes #NaNoWriMo22, Tag 4

Der Zusammenhang an sich ist nicht neu, ich habe bereits 2014 etwas darüber geschrieben. Aber damals waren die Indizien für die Hypothese, dass einige Risikogenvarianten für Autoimmunerkrankungen heute relativ weit verbreitet sind, weil sie in der Vergangenheit einen gewissen Schutz vor verheerenden Epidemien boten, überwiegend noch sehr indirekt. Die Datenbasis ist inzwischen viel besser. Frisch erschienen ist eine Arbeit, in der DNA aus zahlreichen Skeletten aus London und aus Dänemark analysiert wurde, die aus der Zeit kurz vor, während oder nach der großen  europäischen Pestepidemie im 14. Jahrhundert stammen.

Das Team hat vier Genvarianten identifiziert, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Pest positiv selektiert wurden: Bei den damals gestorbenen 30-50 Prozent der Bevölkerung waren diese Varianten offenbar unterrepräsentiert, bei den Überlebenden und ihren Nachfahren dagegen viel häufiger. Keine der Varianten hat die Aminosäuresequenz eines Proteins verändert; alle dürften sich stattdessen auf die Stärke der Expression der Gene in bestimmten Zelltypen ausgewirkt haben – vor allem in Makrophagen, die bei einer Infektion Bakterien wie den Pest-Erreger Yersinia pestis „auffressen“ (Phagozytose), um dann den T-Zellen Bakterien-Bruchstücke zu präsentieren und so die spezifische Abwehr zu starten.

Am stärksten war die Pest-Selektions-Signatur beim Gen ERAP2, das die Fähigkeit der Makrophagen beeinflusst, die Vermehrung von Pestbakterien zu unterdrücken. Zugleich dämpft die positiv selektierte Genvariante die Ausschüttung von entzündungsfördernden Zytokinen, sodass das Gewebe rings um die Makrophagen im Falle einer Infektion nicht so stark geschädigt wird.

Die andere Seite der Medaille: Diese während Pestwellen nützliche, ja lebenswichtige Genvariante erhöht das Risiko, an Morbus Crohn zu erkranken. Eine weitere Pestschutz-Immungenvariante an einem anderen Ort in unserem Genom geht mit einem erhöhten Risiko einher, Rheuma oder Lupus zu bekommen. Salopp gesagt: Der Nachteil, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine schleichend voranschreitende Autoimmunerkrankung zu bekommen, ist an einen massiven Vorteil gekoppelt, die Pest zu überleben. Wir zahlen den Preis dafür, dass unserer Vorfahren nicht auf einem jener Pestfriedhöfe liegen, auf denen das Forschungsteam einen Teil seiner DNA-Proben gesucht hat.

(Einen kurzen Bericht über die Fachpublikation findet ihr bei The Scientist.)

Selbst-Erkenntnis auf dem Schneckenhaus

#NaNoWriMo22, Tag 3

Im Oktober berichtete Sophie Fessl in The Scientist von einer neu erschienenen Forschungsarbeit aus dem Team um Matthew L. Nicotra. Dem Bericht zufolge sind Immunglobuline wohl viel früher entstanden sind, als man bisher glaubte. Was  heißt das genau, warum interessiert mich das, und was ist daran wirklich neu?

Was sind Immunglobuline?

Immunglobuline im engeren Sinne sind Antikörper und B-Zell-Rezeptoren, die wiederum nichts anderes sind als Antikörper mit einem etwas längeren „Stiel“, der sie in der Zellmembran verankert. Diese Proteine dienen der hochspezifischen Erkennung von Antigenen (daher „Anti“), und sie sind kompakt, fast kugelig gebaut (daher „Globulin“, man denke an Globus). Sie enthalten mehrere Immunglobulin-Domänen: Aminosäuresequenzen oder Proteinstrangabschnitte, die sich zu zwei sandwichartig angeordneten blattartigen Strukturen zusammenlagern. Es gibt sogenannte konstante und variable Immunglobulin-Domänen. Die konstanten Domänen bilden zum Beispiel die Stiele der Antikörper, die variablen dagegen die Antigen-Erkennungsstellen (hier mit Pfeilen markiert).

Was ist die Immunglobulin-Superfamilie?

Die Immunglobuline haben eine weitläufige Verwandtschaft: Proteine, die ebenfalls Immunglobulin-Domänen enthalten und allesamt der Oberflächen-Erkennung dienen. Viele von ihnen sind in der Zellmembran verankert und suchen gewissermaßen das direkte Umfeld der Zelle nach passenden Bindungspartnern ab. Zu dieser Großfamilie, der sogenannten Immunglobulin-Superfamilie, zählen zum Beispiel die T-Zell-Rezeptoren, die Haupthistokompatibilitätskomplexe (MHC Klasse I und MHC Klasse II) und etliche Co-Rezeptoren wie CD-8, also viele Proteine, die Funktionen im Immunsystem haben.

Kein Wunder, geht es bei der Abwehr doch oft darum, ganz spezifisch an eine andere Zelle oder ein großes Molekül zu binden, um dieses im nächsten Schritt auszuschalten. Es gibt aber auch andere Gründe, hochspezifisch zwischen eigenen und fremden Zellen zu unterscheiden – eine Fähigkeit, die man Allorecognition, also Fremd-Erkennung nennt. Zum Beispiel kann ein Tier oder Pilz so geeignete Paarungspartner identifizieren, und Blütenpflanzen können eine Selbstbefruchtung, also eine Fusion einer Eizelle mit einer Samenzelle derselben Pflanze verhindern. In diesem Fall ist also – anders als bei der Immunabwehr – das Fremde das Gute und das Identische das Schlechte, denn die sexuelle Fortpflanzung dient ja gerade der genetischen Durchmischung.

Wie lebt das Nesseltier Hydractinia?

Das Forschungsteam um Nicotra untersucht seit längerem ein unscheinbares Nesseltier namens Hydractinia symbiolongicarpus, Die Nesseltiere, zu denen beispielsweise die Quallen und Korallen gehören, haben einen radiärsymmetrischen, z. B. glocken- oder schlauchförmigen Körperbau und nur zwei sogenannte Keimblätter, aus denen sich während der Embryonalentwicklung die Organe und Schichten des Organismus aufbauen. Sie unterscheiden sich also ganz grundlegend von den sogenannten Bilateria oder Zweiseitentieren, die aus drei Keimblättern aufgebaut sind und eine Rücken- und eine Bauchseite haben. Zu diesen zählen beispielsweise wir Säugetiere, aber auch Fische, Mollusken oder Manteltiere. Der letzte gemeinsame Vorfahr der Nessel- und der Zweiseitentiere lebte vor mindestens 600, vielleicht aber auch vor weit über 700 Millionen Jahren – und hatte vermutlich nur zwei Keimblätter.

Hydractinia symbiolongicarpus lebt im Meer und besteht aus einem Geflecht von Röhren, die auf dem Untergrund festgewachsen sind und eine Matte bilden, aus der einzelne sogenannte Hydranthen oder Polypen herausragen, die ein bisschen wie Mini-Seeanemonen aussehen oder wie die Süßwasserpolypen, die wir als Kinder aus Tümpeln gefischt und unter der Lupe beobachtet haben. (Kein Wunder: Beides sind ebenfalls Nesseltiere.) Wie auch bei den Korallen oder Anemonen hat Hydractinia frei schwimmende Larven, die sich in eine festsitzende, mattenbildende Form umwandeln, sobald sie einen passenden Untergrund gefunden haben.

Der Untergrund, auf dem die Matten wachsen, ist typischerweise ein Schneckenhaus – und zwar eines, in dem ein Einsiedlerkrebs lebt. Lebende Schnecken würden eine solche Besiedlung ihrer Gehäuse nicht dulden; den Krebsen ist das egal: Der Bewuchs wiegt nicht viel. Die Nesseltier-Kolonien lassen sich also von den Krebsen herumtragen, filtern mit ihren Tentakeln Nahrung aus dem Meerwasser und wachsen, indem sie am Rand der Matte weitere Röhrchen und Polypen aufbauen.

Dabei kann es passieren, dass ein Rand einem anderen begegnet – entweder, weil eine Matte einmal um das Schneckenhaus herumgewachsen ist (Skizze oben), oder weil sich zwei Organismen auf  demselben Schneckenhaus angesiedelt haben (Skizze unten).

Im ersten Fall verschmelzen die beiden Ränder, im zweiten Fall kommt es nach kurzem „Beschnuppern“ zu einer heftigen Abstoßungsreaktion, die einen der Ränder – wenn nicht gar den ganzen unterlegenen Organismus – zum Absterben bringt.

Wozu braucht es einen Gewebeverträglichkeits-Check?

Hier noch einmal die Abfolge der Ereignisse, bei denen Proteine mit Immunglobulin-Domänen eine Schlüsselrolle spielen, indem sie dem Organismus verraten, ob er da gerade sich selbst oder einem genetisch unterschiedlichen Artgenossen begegnet ist.

Zunächst die Begegnung auf einem noch nicht bewachsenen Teil des Schneckenhauses:

Dann die Reaktion: entweder Angriff …

… oder weitere Annäherung und Verschmelzung mit dem anderen Rand desselben Organismus:

Warum aber ist es den Hydractinien so wichtig, andere Organismen zu bekämpfen? Kann man sich nicht einfach das Schneckenhaus teilen und eine Grenze aushandeln, wie gute Nachbarn? Die Antwort heißt Stamm- oder Keimzellenparasitismus: Wenn sich die Gelegenheit bietet, schmarotzt einer der verschmelzenden Organismen auf den Beiträgen des anderen zum Stoffwechsel und zum Struktur-Aufbau. Er steckt seine Energie ganz in die Produktion von Keimzellen, um seine Gene in der nächsten Generation durchzusetzen – auf Kosten des anderen Organismus, der schuftet, aber kaum Nachwuchs hervorbringen kann. Nur wenn beide Ränder zur selben Kolonie gehören und ihre Zellen dieselben Gene in sich tragen, ist eine Fusion risikolos – ja vorteilhaft, um den begrenzten Platz auf dem Schneckenhaus voll auszuschöpfen.

Haben unsere Gen-Datenbanken blinde Flecken?

Das Forschungsteam hat nun das Genom von Hydractinia symbiolongicarpus komplett sequenziert. Über zwei schon länger bekannte Vertreter der Immunglobulin-Superfamilie hinaus, die banalerweise Allorecognition 1 und Allorecognition 2 heißen, haben sie dabei zahlreiche weitere, ähnliche Gene gefunden. Zusammen bilden sie einen Allorekognitionskomplex (ARC), der an den Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) der Wirbeltiere erinnert. Und wie im MHC sind zumindest einige dieser Gene extrem polymorph; sie unterscheiden sich also von Individuum zu Individuum ein wenig. Zusammen bilden die Immunglobulin-Genvarianten eines Individuums so etwas wie eine eindeutige Personenkennung. Und so, wie diese unterschiedlichen Signaturen bei uns Menschen zu Abstoßungsreaktionen nach einer Organtransplantation führen, lösen sie bei den Hydractinien eine Abstoßung zwischen zwei Organismen aus, die sich auf einem Schneckenhaus begegnen.

Die Forscher*innen waren aber zunächst unsicher, ob die von ihnen entdeckten Proteine wirklich Immunglobulin-Domänen enthalten. Denn die DNA-Sequenzen im Genom und folglich auch die in ihnen codierten Aminosäuresequenzen hatten nur wenig mit den Immunglobulin-Domänen anderer Tiere in den großen Genomdatenbanken gemeinsam.

Erst als das Team von dem Google-Programm AlphaFold die Sequenzen in dreidimensionale Proteinknubbel umrechnen ließ, wurde klar: Ja, das sind wirklich Immunglobulin-Domänen. Wenn wir uns die Proteine als Schlüssel vorstellen, so sind die Datenbanken voll mit Schlüsseln nach dem oberen der beiden folgenden Baupläne:

Sieht man sich nur die jeweils vier Bestandteile der Schlüssel an, so erkennt man kaum eine Gemeinsamkeit. Erst wenn man die Teile richtig zusammensetzt (so, wie AlphaFold das mit den Nesseltier-Proteinen gemacht hat), erkennt man, dass beide Gebilde dieselbe Funktion haben: Beide haben vorne einen Bart, der in dasselbe Schloss passt.

Die Autor*innen  warnen daher davor, den Gen-Datenbanken blind zu vertrauen, wenn man nach entfernten Verwandten oder Vorformen bestimmter Gene und Proteine sucht: In den Daten sind Organismen, die uns selbst ähneln, stark überrepräsentiert. Spuckt ein Datenbank-Abgleich neu sequenzierter Gene aus nur sehr entfernten verwandten Lebensformen wie den Nesseltieren keinen Match aus, kann man daraus nicht ableiten, dass die Gene nicht auf eine gemeinsame Urform zurückgehen oder die Proteine nicht dieselbe Funktion haben.

Was heißt das für die Evolution des Immunsystems – und der Autoimmunstörungen?

Diese Wirbeltierlastigkeit der Datenbanken macht es schwer, das früheste Auftreten von Neuerungen im Immunsystem zu rekonstruieren. Hinzu kommt, dass Immunglobulin-Domänen unterschiedliche Funktionen übernehmen können, auch solche außerhalb des Immunsystems. Und vielleicht gibt es wirklich keinen gemeinsamen Urahn der Nesseltier- und Wirbeltier-Immunglobulin-Domänen, sondern diese wurden unabhängig voneinander zweimal „erfunden“, weil ihre Gestalt für die Aufgabe der raschen und genauen Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Zellen oder Zellprodukten unschlagbar gut geeignet ist.

Die meisten Vertreter der Immunglobulin-Superfamilie in unserem Körper übernehmen Aufgaben in der erworbenen oder adaptiven Abwehr, die erst mit den Fischen vor etwa 500 Millionen Jahren aufgekommen ist. Einige sind aber auch der stammesgeschichtlich älteren angeborenen Abwehr zuzurechnen, etwa Zytokin-Rezeptoren oder Rezeptoren der natürlichen Killerzellen. Insofern ist es nicht unplausibel, dass die Immunglobulin-Domäne schon vor der Aufspaltung zwischen den Nesseltieren und den Zweiseitentieren entstanden ist.

Mich hätte interessiert, ob den Nesseltieren bei der Allorekognition auch Fehler unterlaufen: Kommt es vor, dass eine Hydractnie sich selbst attackiert, weil ihre Immunglobulin-Domänen zum Beispiel falsch gefaltet sind und daher eigenes Gewebe irrtümlich für fremdes halten? Dazu habe ich keine Informationen gefunden. Allorekognitionssysteme sind bei Nicht-Wirbeltieren recht weit verbreitet, aber wie präzise sie arbeiten und ob es bei ihnen Störungen gibt, die unseren Autoimmunerkrankungen ähneln, ist wohl offen. Es kann schon sein, dass solche Pannen vorkommen, denn Nicotra und sein Team haben Indizien dafür gefunden, dass eine Abstoßung nach einer Begegnung zweier Kolonieränder gewissermaßen das Standardprogramm ist, das nur dann abgebrochen wird, wenn die Zellen einander als Teile desselben Organismus erkennen.

Wie tief reichen die Wurzeln?

Als ich mich gestern daran machte, diesen Blogartikel zu schreiben, hat mich eine Information aufgehalten, die die ganze Argumentation im eingangs erwähnten Bericht in The Scientist infrage zu stellen droht: Offenbar haben sogar Hefen, also wirklich nur ganz, ganz entfernt mit uns verwandte Lebewesen, die zu den Pilzen zählen, Erkennungsproteine mit Immunglobulin-Domänen – oder zumindest Domänen, die diesen sehr ähnlich sind. Die Proteine heißen Agglutinine und spielen eine Rolle beim Hefe-Sex, bei dem sich zwei unterschiedliche Fortpflanzungszellen finden müssen: solche, die a-Agglutinin an ihrer Oberfläche tragen, und solche, die α-Agglutinin exprimieren.

Gestern habe ich aufgegeben. Heute scheint mir, dass die Verwirrung nicht nur bei mir herrscht, sondern auch in der Wissenschaft: Was ist ein Immunglobulin im engeren Sinne? Was macht ein vollwertiges Mitglied der Immunglobulin-Superfamilie aus? Und was ist diesen Proteinen bzw. Proteindomänen nur homolog, also ähnlich, aber lediglich entfernt mit ihnen verwandt? Die Grenzen scheinen mir noch nicht endgültig ausgehandelt zu sein.

Und so bleibt bis auf Weiteres offen, ob die stammesgeschichtlichen Wurzeln der Immunglobuline, die sowohl an unserer intakten Abwehr als auch an unseren Autoimmunstörungen maßgeblich beteiligt sind, nun bei den frühen Wirbeltieren, bei den noch früheren ersten Chordatieren, bei den noch früheren ersten Zweiseitentieren, bei den uralten gemeinsamen Vorfahren der Nessel- und der Zweiseitentiere oder sogar ganz am Grunde des gesamten Eukaryoten-Stammbaums liegen.

November-Schreib- und Zeichen-Sprint, Tag 2

Wie gestern Abend schon befürchtet, war heute wenig Zeit und Kraft zum Schreiben. Lesen und um das Begreifen ringen zählt ja nicht. Um aber nicht gleich zu Beginn zu scheitern, habe ich wenigstens eine Zeichnung gemacht:

Die Beziehung zwischen Tiefseeanglerfischweibchen und Tiefseeanglerfischmännchen könnte bös ausgehen, wenn das Immunsystem des Weibchens das an ihm festgewachsene Zwergmännchen als fremdes Gewebe erkennen und abstoßen würde. Daher haben diese Tiere einfach mal einen großen Teil ihrer Immunsystem-Gene über Bord geworfen. Für die Liebe ist kein Preis zu hoch! <3

November-Schreib- und Zeichen-Sprint, Tag 1

Der National Novel Writing Month, kurz #NaNoWriMo, passt nicht so recht zu einem Sachbuch, zumal in deutscher Sprache. Wie andere Non-fiction-Autor*innen docke ich dieses Jahr aber an die Kampagne an, um trotz aller Belastungen und Ablenkungen im Broterwerb und im Privatleben endlich wieder „Strecke zu machen“.

Ich halte mich nicht an das Ziel der Kampagne (50.000 Wörter in einem Monat), sondern definiere es um: Ich möchte jeden Tag im November entweder eine neue Zeichnung für Band 2 anfertigen oder mindestens einen neuen Absatz im Manuskript schreiben, ohne mich im Redigieren und Recherchieren zu verlieren, oder einen neuen Blogeintrag hier im Friendly-Fire-Blog veröffentlichen.

Heute sind auf meinem frisch gereinigten Whiteboard diese drei Zeichnungen entstanden – im Grunde nur eine, die ich dann modifiziert habe. Was sie darstellen, löse ich demnächst in einem Blogbeitrag auf. Wenn ihr eine Vermutung habt, schreibt sie gerne schon in die Kommentare. (Hint: Es geht um die überraschend frühe Entstehung einer fürs Immunsystem wichtigen Genfamilie, die im Oktober durch die Fachpresse ging.)

Mein Eindruck von Clemens G. Arvays „Die Naturgeschichte des Immunsystems“

Wie die vorigen Beiträge ist auch ist dies keine echte Buchbesprechung. Nach abgeschlossener Lektüre möchte ich nur rasch ein paar Eindrücke festhalten.

Genau wie „Immun“ von Philipp Dettmer ist auch dieses Sachbuch sehr gut verständlich geschrieben; es richtet sich an interessierte Laien und ist deutlich weniger harte Kost als das Autoimmunbuch.

Mir sind die Illustrationen im Innenteil z. T. zu kitschig, aber das ist Geschmacksache. Und in der ersten Hälfte hatte ich lauter Déjà-vu-Erlebnisse, da ich unmittelbar zuvor das Büchlein von Robert Jack und Louis Du Pasquier gelesen hatte: Da kam mir doch einiges sehr, sehr bekannt vor, und das nicht nur an den Stellen, an denen Arvay die beiden tatsächlich zitiert. Es ist schon gut, dass auf diese Weise die wichtigen Überlegungen der beiden englisch schreibenden Fachautoren einem breiteren Publikum auf Deutsch vorgestellt werden – nur für mich war der Mehrwert hier praktisch Null.

Überrascht hat mich, dass Arvay den Rundmäulern, also den Neunaugen und Schleimaalen, an mehreren Stellen eine erworbene Abwehr abspricht. Das ist m. E. ein inhaltlicher Fehler, und kein kleiner. Denn dass die erworbene Abwehr nahe an der Wurzel des Wirbeltier-Stammbaums gleich zwei Mal entstanden ist, ist für die Naturgeschichte des Immunsystems ein Knackpunkt, weil es auf eine Zwangsläufigkeit dieser Neuerung hinweist.

Aber das ist der einzige inhaltliche Fehler, der mir auffiel. In der Summe: eine schöne, sympathisch geschriebene Einführung ins Thema, aus der ich persönlich aber nicht wahnsinnig viel mitgenommen habe.

Jack/Du Pasquier: Evolutionary Concepts in Immunology, Teil 4: der Rest

Methicillin-resistenter Stamm des Bakteriums Staphylococcus aureus

Teil 1Teil 2Teil 3

Notizen/Exzerpte

Kapitel 5: Die andere Seite des Wettrüstens

Strategien der Pathogene: per Mutation und Selektion die Abwehr der Wirte ausschalten, also den Rezeptoren entwischen, den Signalweg stören oder dem terminalen Effektor entkommen. Oft kann Pathogen seine Fitness durch Mäßigung der Virulenz erhöhen, damit es länger in einem Wirt bleiben kann. Bsp.: Myxomatose in australischen Kaninchen. Ursprünglich tötete eingeführtes Virus 99,5% der Kaninchen, im Mittel in 11 Tagen. Durchgesetzt hat sich Mutante, die zu 90% tötet und dafür im Mittel 23 Tage braucht. Bsp. für Kompromiss: Wasserfloh Daphia magna und im Verdauungstrakt lebendes pathogenes Bakterium Pasteuria ramosa: Polymorphe Resistenzallele und polymorphe Virulenzallele -> dynamisches Gleichgewicht = negativ häufigkeitsabhängige Selektion; kein Bakterienstamm kann alle Wasserflöhe in einer Population befallen, kein Wasserfloh ist gegen alle Stämme resistent. Bsp. für trojanische Pferde/Zombies, um Hauptwirte zu infizieren: Toxoplasma gondii manipuliert Mäuseverhalten, um in Katzen zu gelangen; auch viele Bsp. im Insektenreich (parasitoide Wespen machen mit Viren-Hilfe Raupen zu Wächter-Zombies …). Bsp. Amöben, domestiziertes Mavirus und Mimivirus: s. Teil 1.

Strategien gg. angeborene Abwehr: 1. unsichtbar machen für Rezeptoren, z. B. durch Polysaccharidkapsel. Verlust der Kapsel beseitigt oder reduziert Pathogenität. Kapsel schränkt aber auch Virulenzmechanismen durch ggs. Abschirmung ein. Yersinia pestis verursacht Beulen- und Lungenpest mit sehr unterschiedlichem R0, hat zahlreiche Virulenzfaktoren, darunter strukturell verändertes Lipid-A in LPS durch temperaturabhängige Acyltransferase: Flöhe 26 °C -> normal -> Hexa-Acyl-Lipid A; Menschen 37 °C -> Enzym inaktiv -> Tetra-Acyl-Lipid-A, das TLR-4 nicht aktiviert -> Zeitgewinn. Auch Helicobacter pylori beherrscht den Trick, Hexa- in Tetra-A. umzuwandeln. 2. Praktisch alle Signalwege von Rezeptoren zu Effektoren wurden von irgendeinem Pathogen gehackt. 3. Effektoren ausschalten: z. B. Phagozytose: Listeria monocytogenes löst Endosom-Membran und flieht ins Cytosol, Salmonella manipuliert mit Mediatoren Zellskelett (MT) und repliziert in Endosomen; ist dort vor Lysosomen und Cytosol-Rezeptoren geschützt. Zellen versuchen die Bakterien auszuhungern, Salmonellen scheiden Siderophoren aus, um dennoch an divalente Metallionen heranzukommen.

Strategien gg. adaptive Abwehr: HIV, HCMV (Humanes Cytomegalovirus), Mycobacterium tuberculosis oder Trypanosoma brucei entkommen ihr durch 1. brute force, 2. Totstellen oder 3. ständige Veränderung. 1. HIV vernichtet direkt die aktivierten CD4+-T-Zellen, HCMV reduziert Wirksamkeit der CD8+-T-Killerzellen. NK-Zellen als Backup aus dr angeborenen Abwehr, Missing self – aber HCMV exprimiert auf Oberfläche infizierter Zellen Moleküle, die MHC-Klasse-I-Molekülen sehr ähnlich sehen – usw. usf. 2. Latente Infektionen, ebenfalls bei HIV und HCMV. Tuberkulose: größter bakterieller Killer der Menschheit; etwa 90% der Infizierten bleiben symptomfrei. Makrophagen können die Bakterien nicht vertilgen, kapseln sie zusammen mit T-Zellen in Granulomen aus Bindegewebe ein. In deren Mitte gibt es praktisch keinen Sauerstoff, fast nur tote Zellen. M. tuberculosis kann in äußerst feindseliger Umwelt „schlafend“ überleben; ein paar aktive Bakterien verlassen als Scouts die Granulome. Sobald Wirt z. B. durch HIV-Infektion geschwächt ist, erwachen sie.  3. HIV: Hypermutation während reverser Transkription. Schlafkrankheit: Trypanosomen von Tsetsefliegen übertragen, sind im Blut von variablen Oberflächen-Glycoproteinen (VSG) bedeckt. Immunsystem sieht nur Spitzen dieser Fäden, die schlechtes Ziel sind. Die VSG werden im Fließbandverfahren so schnell von vorne nach hinten transportiert und am Flagellum recycelt, dass jedes Molekül, das von einem angeborenen Rezeptor erkannt wurde, nach spätestens 120 Sekunden verschwunden ist. Zwar sind VSG hervorragende Antigene, sodass sie viele Antikörper hervorrufen, aber ein paar Bakterien entkommen aufgrund ihrer Variabilität und breiten sich dann aus. Trypanosomen haben 2000 VSG-Gene, die durch Genkonversion zu einer riesigen Vielfalt gemixt werden.

Kapitel 6: Nachwort

Bei Infektionen und Abwehr geht es ums Überleben, da zählt nicht die eleganteste Lösung, sondern alles, was funktioniert. Ständig werden alte Gene ausgeborgt und durch Mutation zurechtgebogen oder durch Exon-Shuffling neu zusammengewürfelt; permanente Umwälzung.

 

Jack/Du Pasquier: Evolutionary Concepts in Immunology, Teil 3: erworbene Abwehr

Biomphalaria glabrata, Quelle: Fred A. Lewis, Yung-san Liang, Nithya Raghavan & Matty Knight, CC BY 2.5

Teil 1Teil 2

Aus dem dicken 4. Kapitel des Buchs notiere ich hier nur diejenigen Stellen, die für Band 2 des Autoimmunbuchs relevant werden könnten. Wie in den bisherigen Notizen zum Buch löse ich Abkürzungen nicht auf usw.; daher liest sich das Folgende nicht schön und bleibt für Leute, die sich mit der Biologie des Immunsystems nicht auskennen, kryptisch.

Somatische Evolution von Immunsystemen, die Protein-Sensoren verwenden: Wird die Schnecke Biomphalaria glabrata von parasitären Würmern angegriffen, sammeln die Rezeptorgene aus der FREP-Familie (fibrinogen-related protein) zufällige somatische Mutationen (Genkonversion sowie Punktmutationen) an, was offenbar hilft, die Parasiten abzuwehren, deren Antigene sich rasch ändern. [Adema C.M. 2015, Fibrinogen-Related Proteins (FREPs) in Mollusks: FREPs sind Plasma-Lektine, die auf Antigene reagieren und 1-2 Immunglobulin-Domänen enthalten. Sie sind sehr polymorph, jede Schnecke hat ein anderes, zudem dynamisches Repertoire. Da nichts auf eine Selektion besonders wirksamer Varianten oder ein immunologisches Gedächtnis hinwiest, verleiht die FREP-Diversifizierung der Schnecke wohl eine antizipative, aber nicht adaptive Immunität.] Dieser Mechanismus blieb eine Fußnote in der Geschichte des Immunsystems; echte proteinbasierte adaptive Abwehr kam erst bei den Wirbeltieren auf.

Toleranz bei Kieferlosen: Jedes hinreichend große Antigen-Repertoire, das durch zufällige Mutationen entsteht, geht zwangsläufig mit tödlichen Autoimmunreaktionen einher. Mit jeder adaptiven Abwehr muss also zugleich ein mächtiger Mechanismus entstehen, der Rezeptoren, die auf Elemente des Selbst reagieren, unterdrückt oder eliminiert. Auch bei den Neunaugen und Schleimaalen muss es einen solchen Toleranzmechanismus geben; er ist aber noch völlig unbekannt!

MHC-Polymorphismus: MHC Klasse I wird auf jeder Zelle mit Zellkern exprimiert, MHC Klasse II auf APC und weiteren Zelltypen -> massives Investment von Energie und Metaboliten. Die Zahl der MHC-Varianten in einem Individuum ist ein Trade-off zwischen diesem Ressourceneinsatz und dem Fitnessgewinn durch ein Peptid-erkennendes T-Zell-System. [Buch: siehe Fische, bei denen Weibchen durch die Partnerwahl die MHC-Diversität im Nachwuchs nicht zu maximieren, sondern auf ein optimales = mittleres Niveau zu bringen versuchen!]

Wechselwarme Wirbeltiere, die keine Keimzentren in den Lymphknoten haben, haben entsprechende Schwierigkeiten, ihre Immunantwort „reifen“ zu lassen (somatische Hypermutation usw.).

Vinuesa C. G. et al. 2016: „Immunity operates on the edge of autoimmunity. The more potent an immune response is, the greater the risk of auto-reactivity an self-harm.“

Gute Erklärung für Klassenwechsel in B-Zellen von Kiefermäulern: B-Zellen sammeln und analysieren Informationen über Zytokine u. a. Faktoren in ihrer direkten Umgebung und entscheiden anhand dessen, welches Effektorsystem  mit dem antigenbindenden Teil des BCR verknüpft wird: Aktivierung Komplementsystem, Phagozytose durch Makrophagen, Schleimhaut mit löslichen Rezeptoren = Antikörpern präparieren, AK durch Plazenta schicken … Das lässt sich am besten erreichen, wenn der ganze antigenbindende Teild es BCR als Modul auf eine Reihe verschiedener konstanter Regionen gepfropft wird, die die Effektorfunktion des Moleküls festlegen -> Klassenwechsel-Rekombination.

Diversität der V-, D-, J-Module, durch deren Rekombination BCR, AK und TCR entstehen: Je größer die Genfamilien werden, desto geringer ist der Selektionsdruck auf jede einzelne Variante -> Mutationen sammeln sich an -> Verfall zu Pseudogenen. Kaninchen und Hühner sowie weitere Wirbeltiere haben nur ein einziges intaktes V-Segment. Sie lösen das Problem der zu geringen Vielfalt mit der „Methode Neunauge“: Nachdem RAG-Rekombinase das letzte verbleibende V-Gensegment mit D und J verbunden hat, wird durch AID-vermittelte Genkonversion Information aus den Pseudogenen in das rearrangierte VDJ-Gensegment hineinkopiert.

Selektive Nische, in der mehrfach adaptive Abwehr entstand: Proteinbasiertes antizipatives adaptives IS erfordert sehr große Zahl unterschiedlicher Rezeptoren. Da jeder Lymphozyt nur 1 spezifischen Rezeptor trägt, müssen ständig sehr viele Lymphozyten produziert werden, von denen die meisten gleich wieder einkassiert werden und unter den Überlebenden die meisten nie dem passenden Antigen begegnen. Metabolisch kostspielig, lohnt sich nicht für kleine, kurzlebige Vielzeller mit wenigen Immunzellen wie Würmer oder Taufliegen. Erst zu Beginn der Wirbeltier-Evolution wurde die Generationslücke zwischen sich schnell reproduzierenden Pathogenen und immer größeren und langlebigeren Tieren groß genug, dass sich der Unterhalt eines adaptiven IS lohnte.

Evolutionäre Beziehung zwischen adaptiven Abwehrsystemen der Kieferlosen und der Kiefermäuler: Analogie oder Homologie? Vergleich mit Augen-Evolution als Bsp. für „tiefe“ Homologie: Strukturell sehr verschiedene Systeme bauen alle auf Pax6-Transkriptionsfaktor-Kaskade auf. TF-Netzwerke sind sehr schwer evolutionär zu ändern, wenn erst die passenden Erkennungssequenzen an den Anfang der von ihnen gesteuerten Gene eingebaut sind -> hochgradig konserviert. Zugleich gibt es so viele unterschiedliche TF, dass es schon ein arg unwahrscheinlicher Zufall wäre, wenn in 2 so unterschiedlichen adaptiven Immunsystemen dieselben TF auftauchen. B-Zellen sind die einzigen Blutzellen, in denen TF Pax5 zum Einsatz kommt; in den Neunaugen wird Pax5 nur in den VLRB-Zellen exprimiert, die – wie B-Zellen – nach ihrer Aktivierung eine lösliche Form ihres Rezeptors herstellen. Auf vergleichbare Weise ähneln die TF-Profile der VLRA- und VLRC-Zellen jenen der Alpha-beta- und der Gamma-delta-T-Zellen -> Homologie. Die 2. starke Homologie ist die Existenz von spezialisierten FOXN1- und DLL4-exprimierenden sekundären Lymphorganen, nämlich Thymus und „Thymoid“.

Evolution der AID-artigen Cytidin-Aminase-Funktionen: Zu Beginn der Wirbeltier-Evolution tauchte eine neue Familie von Cytidin-Deaminasen auf, die „aktivierungsinduzierten Deaminasen“ (AID). Im kieferlosen Neunauge spielen diese Enzyme die Schlüsselrolle bei der Genkonverson, die zum adaptiven Rezeptor-Repertoire führt. Bei den Kiefermäulern ist stattdessen die RAG-Rekombination dafür zuständig. Das sind zwei recht unterschiedliche Mechanismen; wie ist der Übergang gelaufen? Große Sprünge macht die Evolution nur selten. Es gibt tatsächlich Übergänge: Im Ammenhai, einem basalen Kiefermäuler, arbeiten RAG und AID offenbar noch zusammen, um das primäre Repertoire zu bilden. Auch später wurde diese Funktion der AID nicht völlig vergessen, wie das Bsp. der AID-vermittelten V-Genkonversion bei Hühnern und Kaninchen (s. o.) zeigt. Als RAG im Laufe der Kiefermäuler-Evolution die Rolle des primären Erzeugers der Rezeptordiversität zunehmend allein übernahm, wurde AID frei für neue Rollen wie die Initiation der Klassenwechsel-Rekombination und der somatischen Hypermutation bei B-Zellen in den Keimzentren, die bei den Kieferlosen kein Pendant haben.

Eigentümlichkeit bei den Knorpelfischen: nicht ein einziger großer Cluster von V, D, J, die dann rekombinieren, sondern mehrere Mini-Cluster, die jeweils wenige V-, D- und J-Segmente enthalten – oftmals schon in der Keimbahn rekombiniert zu D-J-, V-D- oder sogar V-D-J-Segmenten (Lee et al. 2000: Rearrangement of immunoglobuline genes in shark germ cells). Demnach muss RAG in den Vorfahren in der Keimbahn aktiv gewesen sein – evtl. eine Strategie, um neue keimbahncodierte Rezeptoren der angeborenen Abwehr zu erschaffen. Evtl. geht die RAG-basierte adaptive Abwehr in den Kiefermäulern also auf ein Versehen zurück, als RAG nicht in der Keimbahn, sondern in Lymphozyten-Vorläufern exprimiert wurde. Ähnliches kann mit der AID-Expression in den Kieferlosen geschehen sein.

Update: Long COVID und das Immunsystem

Vor gut zwei Jahren bin ich meinem Vorsatz untreu geworden und habe mich im Blog zu COVID-19 geäußert – weil die Schnittmenge dieses Themas zu meinem, der Biologie der Autoimmunerkrankungen, nicht mehr zu übersehen war.

Zeit für ein kurzes Update! Kurz, weil ich einfach auf eine gute Übersicht in The Scientist verweisen kann, die diese Woche erschienen ist. In ihrem Artikel stellt Natalia Mesa die wichtigsten Mechanismen vor, die zu anhaltenden Symptomen unterschiedlichster Natur noch lange nach der akuten Infektion mit Sars-CoV-2 führen könnten: chronische Entzündungen, durch die Konfrontation mit dem Virus ausgelöste Autoimmunreaktionen, persistierende, also irgendwo im Körper weiterbestehende Viren, Veränderungen im Endothel, also der Auskleidung der Blutgefäße, und schließlich Mikrothrombosen: kleine Klumpen im Blut.

Diese Erklärungsansätze schließen einander nicht aus. Beispielsweise gehen chronische Entzündungen (fehlgeleitete angeborene Abwehr) und Autoimmunreaktionen (fehlgeleitete erworbene Abwehr) oft miteinander einher, wobei die Richtung der Verursachung unklar bleiben kann. Es kann auch sein, dass Long COVID ein grob gezimmertes Dach ist, unter das die Medizin derzeit mehrere Teilpopulationen von Betroffenen setzt, bei denen unterschiedliche Mechanismen zugeschlagen haben. Die Zukunft wird es zeigen.

In einer noch nicht begutachteten Übersichtsarbeit über gut 50 typische Long-COVID-Symptome von Lopez-Leon et al. führt übrigens ein Symptom mit großem Abstand: Fatigue.

Quelle: Lopez-Leon et al. 2021, https://doi.org/10.21203/rs.3.rs-266574/v, CC BY 4.0

Wie neulich schon in Sachen Stammhirn- und Hypothalamus-Neuronen geschrieben, stellt sich die Frage, auf welchem Wege die SARS-Cov-2-Infektion bzw. die Immunreaktion darauf eine Veränderung im zentralen Nervensystem auslöst. Mesa nennt ein mögliches Bindeglied: Die zu den Immunzellen zählenden Mikrogliazellen, die unsere Nervenzellen beschützen sollen, könnten durch Botenstoffe in einen überaktiven Zustand versetzt werden, in dem sie den Nervenzellen Schaden zufügen.

CRISPR-Cas: weit mehr als die erworbene Abwehr der Prokaryoten

Vor gut 10 Jahren habe ich hier die Funktionsweise von CRISPR-Cas erklärt, dem erworbenen oder adaptiven Immunsystem der Bakterien und Archäen. Schon damals war bekannt, dass  Prokaryoten-Zellen beim versehentlichen Einbau von Sequenzen aus dem eigenen Erbgut anstelle von Viren-Sequenzen an Autoimmunreaktionen sterben können. Und schon damals wurde die Frage gestellt, ob der Einbau eigener Sequenzen nicht auch andere Folgen, ja regelrechte Funktionen haben kann, etwa die Regulierung der Ablesung eigener Gene.

Heute ist in nature microbiology eine Arbeit erschienen, in der dies am Beispiel des Typ-IV-CRISPR-Cas-Systems des Bakteriums Pseudomonas oleovorans nachgewiesen wird. Der Artikel steckt hinter einer Bezahlschranke, aber das Manuskript ist an anderer Stelle frei zugänglich. Die Funktion der Typ-IV-Systeme waren der Forschung lange ein Rätsel, denn sie können fremde Nukleinsäuren, also virale Eindringlinge gar nicht zerschneiden. Nun zeigt sich, dass die spezifischen Erkennungssequenzen an bakterieneigene Gene binden und so deren Transkription unterdrücken – siehe Pressemitteilung beim idw.

Einen guten Überblick über die Vielfalt möglicher CRISPR-Cas-Funktionen jenseits der erworbenen Viren-Abwehr bietet eine frei zugängliche und mit anschaulichen Schemazeichnungen ausgestattete Übersichtsarbeit von Devi et al. (2022): CRISPR-Cas systems: role in cellular processes beyond adaptive immunity.