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Jack/Du Pasquier: Evolutionary Concepts in Immunology, Teil 3: erworbene Abwehr

Biomphalaria glabrata, Quelle: Fred A. Lewis, Yung-san Liang, Nithya Raghavan & Matty Knight, CC BY 2.5

Teil 1Teil 2

Aus dem dicken 4. Kapitel des Buchs notiere ich hier nur diejenigen Stellen, die für Band 2 des Autoimmunbuchs relevant werden könnten. Wie in den bisherigen Notizen zum Buch löse ich Abkürzungen nicht auf usw.; daher liest sich das Folgende nicht schön und bleibt für Leute, die sich mit der Biologie des Immunsystems nicht auskennen, kryptisch.

Somatische Evolution von Immunsystemen, die Protein-Sensoren verwenden: Wird die Schnecke Biomphalaria glabrata von parasitären Würmern angegriffen, sammeln die Rezeptorgene aus der FREP-Familie (fibrinogen-related protein) zufällige somatische Mutationen (Genkonversion sowie Punktmutationen) an, was offenbar hilft, die Parasiten abzuwehren, deren Antigene sich rasch ändern. [Adema C.M. 2015, Fibrinogen-Related Proteins (FREPs) in Mollusks: FREPs sind Plasma-Lektine, die auf Antigene reagieren und 1-2 Immunglobulin-Domänen enthalten. Sie sind sehr polymorph, jede Schnecke hat ein anderes, zudem dynamisches Repertoire. Da nichts auf eine Selektion besonders wirksamer Varianten oder ein immunologisches Gedächtnis hinwiest, verleiht die FREP-Diversifizierung der Schnecke wohl eine antizipative, aber nicht adaptive Immunität.] Dieser Mechanismus blieb eine Fußnote in der Geschichte des Immunsystems; echte proteinbasierte adaptive Abwehr kam erst bei den Wirbeltieren auf.

Toleranz bei Kieferlosen: Jedes hinreichend große Antigen-Repertoire, das durch zufällige Mutationen entsteht, geht zwangsläufig mit tödlichen Autoimmunreaktionen einher. Mit jeder adaptiven Abwehr muss also zugleich ein mächtiger Mechanismus entstehen, der Rezeptoren, die auf Elemente des Selbst reagieren, unterdrückt oder eliminiert. Auch bei den Neunaugen und Schleimaalen muss es einen solchen Toleranzmechanismus geben; er ist aber noch völlig unbekannt!

MHC-Polymorphismus: MHC Klasse I wird auf jeder Zelle mit Zellkern exprimiert, MHC Klasse II auf APC und weiteren Zelltypen -> massives Investment von Energie und Metaboliten. Die Zahl der MHC-Varianten in einem Individuum ist ein Trade-off zwischen diesem Ressourceneinsatz und dem Fitnessgewinn durch ein Peptid-erkennendes T-Zell-System. [Buch: siehe Fische, bei denen Weibchen durch die Partnerwahl die MHC-Diversität im Nachwuchs nicht zu maximieren, sondern auf ein optimales = mittleres Niveau zu bringen versuchen!]

Wechselwarme Wirbeltiere, die keine Keimzentren in den Lymphknoten haben, haben entsprechende Schwierigkeiten, ihre Immunantwort „reifen“ zu lassen (somatische Hypermutation usw.).

Vinuesa C. G. et al. 2016: „Immunity operates on the edge of autoimmunity. The more potent an immune response is, the greater the risk of auto-reactivity an self-harm.“

Gute Erklärung für Klassenwechsel in B-Zellen von Kiefermäulern: B-Zellen sammeln und analysieren Informationen über Zytokine u. a. Faktoren in ihrer direkten Umgebung und entscheiden anhand dessen, welches Effektorsystem  mit dem antigenbindenden Teil des BCR verknüpft wird: Aktivierung Komplementsystem, Phagozytose durch Makrophagen, Schleimhaut mit löslichen Rezeptoren = Antikörpern präparieren, AK durch Plazenta schicken … Das lässt sich am besten erreichen, wenn der ganze antigenbindende Teild es BCR als Modul auf eine Reihe verschiedener konstanter Regionen gepfropft wird, die die Effektorfunktion des Moleküls festlegen -> Klassenwechsel-Rekombination.

Diversität der V-, D-, J-Module, durch deren Rekombination BCR, AK und TCR entstehen: Je größer die Genfamilien werden, desto geringer ist der Selektionsdruck auf jede einzelne Variante -> Mutationen sammeln sich an -> Verfall zu Pseudogenen. Kaninchen und Hühner sowie weitere Wirbeltiere haben nur ein einziges intaktes V-Segment. Sie lösen das Problem der zu geringen Vielfalt mit der „Methode Neunauge“: Nachdem RAG-Rekombinase das letzte verbleibende V-Gensegment mit D und J verbunden hat, wird durch AID-vermittelte Genkonversion Information aus den Pseudogenen in das rearrangierte VDJ-Gensegment hineinkopiert.

Selektive Nische, in der mehrfach adaptive Abwehr entstand: Proteinbasiertes antizipatives adaptives IS erfordert sehr große Zahl unterschiedlicher Rezeptoren. Da jeder Lymphozyt nur 1 spezifischen Rezeptor trägt, müssen ständig sehr viele Lymphozyten produziert werden, von denen die meisten gleich wieder einkassiert werden und unter den Überlebenden die meisten nie dem passenden Antigen begegnen. Metabolisch kostspielig, lohnt sich nicht für kleine, kurzlebige Vielzeller mit wenigen Immunzellen wie Würmer oder Taufliegen. Erst zu Beginn der Wirbeltier-Evolution wurde die Generationslücke zwischen sich schnell reproduzierenden Pathogenen und immer größeren und langlebigeren Tieren groß genug, dass sich der Unterhalt eines adaptiven IS lohnte.

Evolutionäre Beziehung zwischen adaptiven Abwehrsystemen der Kieferlosen und der Kiefermäuler: Analogie oder Homologie? Vergleich mit Augen-Evolution als Bsp. für „tiefe“ Homologie: Strukturell sehr verschiedene Systeme bauen alle auf Pax6-Transkriptionsfaktor-Kaskade auf. TF-Netzwerke sind sehr schwer evolutionär zu ändern, wenn erst die passenden Erkennungssequenzen an den Anfang der von ihnen gesteuerten Gene eingebaut sind -> hochgradig konserviert. Zugleich gibt es so viele unterschiedliche TF, dass es schon ein arg unwahrscheinlicher Zufall wäre, wenn in 2 so unterschiedlichen adaptiven Immunsystemen dieselben TF auftauchen. B-Zellen sind die einzigen Blutzellen, in denen TF Pax5 zum Einsatz kommt; in den Neunaugen wird Pax5 nur in den VLRB-Zellen exprimiert, die – wie B-Zellen – nach ihrer Aktivierung eine lösliche Form ihres Rezeptors herstellen. Auf vergleichbare Weise ähneln die TF-Profile der VLRA- und VLRC-Zellen jenen der Alpha-beta- und der Gamma-delta-T-Zellen -> Homologie. Die 2. starke Homologie ist die Existenz von spezialisierten FOXN1- und DLL4-exprimierenden sekundären Lymphorganen, nämlich Thymus und „Thymoid“.

Evolution der AID-artigen Cytidin-Aminase-Funktionen: Zu Beginn der Wirbeltier-Evolution tauchte eine neue Familie von Cytidin-Deaminasen auf, die „aktivierungsinduzierten Deaminasen“ (AID). Im kieferlosen Neunauge spielen diese Enzyme die Schlüsselrolle bei der Genkonverson, die zum adaptiven Rezeptor-Repertoire führt. Bei den Kiefermäulern ist stattdessen die RAG-Rekombination dafür zuständig. Das sind zwei recht unterschiedliche Mechanismen; wie ist der Übergang gelaufen? Große Sprünge macht die Evolution nur selten. Es gibt tatsächlich Übergänge: Im Ammenhai, einem basalen Kiefermäuler, arbeiten RAG und AID offenbar noch zusammen, um das primäre Repertoire zu bilden. Auch später wurde diese Funktion der AID nicht völlig vergessen, wie das Bsp. der AID-vermittelten V-Genkonversion bei Hühnern und Kaninchen (s. o.) zeigt. Als RAG im Laufe der Kiefermäuler-Evolution die Rolle des primären Erzeugers der Rezeptordiversität zunehmend allein übernahm, wurde AID frei für neue Rollen wie die Initiation der Klassenwechsel-Rekombination und der somatischen Hypermutation bei B-Zellen in den Keimzentren, die bei den Kieferlosen kein Pendant haben.

Eigentümlichkeit bei den Knorpelfischen: nicht ein einziger großer Cluster von V, D, J, die dann rekombinieren, sondern mehrere Mini-Cluster, die jeweils wenige V-, D- und J-Segmente enthalten – oftmals schon in der Keimbahn rekombiniert zu D-J-, V-D- oder sogar V-D-J-Segmenten (Lee et al. 2000: Rearrangement of immunoglobuline genes in shark germ cells). Demnach muss RAG in den Vorfahren in der Keimbahn aktiv gewesen sein – evtl. eine Strategie, um neue keimbahncodierte Rezeptoren der angeborenen Abwehr zu erschaffen. Evtl. geht die RAG-basierte adaptive Abwehr in den Kiefermäulern also auf ein Versehen zurück, als RAG nicht in der Keimbahn, sondern in Lymphozyten-Vorläufern exprimiert wurde. Ähnliches kann mit der AID-Expression in den Kieferlosen geschehen sein.

Abb. 74: Promotoren und Transkriptionsfaktoren

Knapp vor jedem Gen liegt ein Promotor; dort landen die Transkriptasen. Transkriptionsfaktoren beeinflussen, wie gut die Transkriptasen das Gen ablesen können.

Sie dürfen diese Zeichnung gerne in Folien etc. übernehmen, sofern Sie die Quelle angeben: Dr. Andrea Kamphuis, https://autoimmunbuch.de

Sex bias im Immunsystem: Am Anfang war …?

Im letzten Beitrag habe ich ein Genregulierungsnetzwerk vorgestellt, das unter der Kontrolle des Transkriptionsfaktors VGLL3 steht. Es etabliert viele der Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Immunsystem, die zum hohen Frauenanteil unter den Patienten mit Autoimmunerkrankungen beitragen, aber auch zu höheren Krebs- und Infektionsrisiken von Männern.

Ein solches Netzwerk kann sich nach seiner Initialzündung rasch ausweiten, etwa wenn unter den Genen, deren Ablesung der erste Transkriptionsfaktor fördert, mindestens ein weiterer Transkriptionsfaktor ist, der wiederum die Expression zahlreicher Gene beeinflusst, und so weiter.

Geschlechtsspezifische Transkriptionskaskade: Transkriptionsfaktor 1 fördert die Ablesung vieler Immunsystem- (I) und Entzündungsprozess-Gene (E) auf etlichen Chromosomen - und auch die Expression von Transkriptionsfaktor 2, der zahlreiche weitere Gene reguliert, usw.

Geschlechtsspezifisches Regulierungsnetzwerk: Transkriptionsfaktor 1 fördert in weiblichen Zellen die Ablesung vieler Immunsystem- (I) und Entzündungsprozess-Gene (E) auf verschiedenen Chromosomen – und auch die Expression von Transkriptionsfaktor 2, der zahlreiche weitere Gene reguliert, usw. usf.

Eines allerdings blieb offen: Wie kommt der allererste Unterschied zustande, der wiederum für eine stärkere Expression von VGLL3 in weiblichen Zellen sorgt? Denn das Gen für diesen Transkriptionsfaktor sitzt nicht etwa auf dem X-Chromosom, sondern auf Chromosom 3, von dem sowohl weibliche als auch männliche Ungeborene zwei Exemplare haben.

Symmetriebrüche

Dieser Frage nach der Initialzündung gehe ich hier nach. Sie wird in der Fachliteratur auch unter der Bezeichnung „Symmetriebruch“ abgehandelt. Bis zu einem bestimmten Stadium verläuft die Entwicklung weiblicher und männlicher Embryonen gleich: Nachdem anfangs noch alle Zellen gleich aussehen und auch austauschbar sind, legen sich bestimmte Zellen auf ein „Schicksal“ fest und bilden bei ihren weiteren Teilungen Zellklone, aus denen die Anlagen eines Organs werden, etwa des Gehirns oder der Leber. Das ist der erste Symmetriebruch.

Schon bald danach entwickeln sich die Organanlagen je nach Geschlecht unterschiedlich weiter. Bei den Geschlechtsorganen ist das offenkundig, bei den meisten anderen Organen fällt der Unterschied viel subtiler aus. Das ist der zweite Symmetriebruch, der uns hier interessiert. Er betrifft auch die Bestandteile des Immunsystems, also etwa den Thymus oder die Vorläuferzellen der weißen Blutkörperchen – die sogenannten hämatopoetischen Stammzellen – in der embryonalen Leber und später im Knochenmark.

Oben: Der erste Symmetriebruch in der Embryonalentwicklung sorgt dafür, dass aus einer anfangs gleichförmigen Zellkugel letztlich unterschiedliche Organe werden. Unten: Der zweite Symmetriebruch lässt die Entwicklung der einzelnen Organe bei Frauen und Männern leicht unterschiedlich verlaufen - hier die Entwicklung des Knochenmarks und damit der Zellen unserer erworbenen Abwehr.

Oben: Der erste Symmetriebruch in der Embryonalentwicklung sorgt dafür, dass aus einer anfangs gleichförmigen Zellkugel letztlich unterschiedliche Organe werden. Unten: Ein zweiter Symmetriebruch lässt die Entwicklung der einzelnen Organe bei Frauen und Männern leicht unterschiedlich verlaufen – hier die Entwicklung des Knochenmarks und damit der Zellen unserer erworbenen Abwehr.

Diese subtil auseinanderlaufenden embryonalen Entwicklungswege führen später zu Geschlechtsunterschieden (sex bias) in der Grundausstattung des weiblichen und des männlichen Immunsystems, in den Immunreaktionen von Frauen und Männern auf verschiedene Antigene und schließlich in der Inzidenz und Prävalenz zahlreicher Autoimmunerkrankungen, die ich hier im Blog schon mehrfach behandelt habe – besonders ausführlich in dem Artikel Noch einmal: Geschlecht, Hormone, Immunsystem.

Weibliches und männliches Immunsystem

Geschlechtliche Immunsystem-Differenzen gibt es nicht nur bei Mensch und Maus, sondern auch etwa bei Seeigeln, Taufliegen oder Meisen. Damit ist bereits klar, dass sie sich nicht auf die erworbene Abwehr mit ihren Lymphozyten beschränken, die es ja nur bei Wirbeltieren gibt, sondern auch die angeborene Abwehr umfassen.

Beim Menschen treten solche Unterschiede in allen Lebensphasen zutage. Um zunächst die evolutionär ältere angeborene Abwehr zu betrachten: Im Mutterleib zeigen männliche Feten stärkere Entzündungsreaktionen als das weibliche Ungeborene. Auch in vorpubertären Jungen laufen Entzündungen noch heftiger ab als in Mädchen. Nach der Pubertät verkehrt sich dies, weil Testosteron in den meisten Situationen entzündungshemmend wirkt. Sowohl vorpubertäre Jungen als auch erwachsene Männer haben mehr natürliche Killerzellen (NK-Zellen) als Mädchen und Frauen; Senioren haben dagegen weniger NK-Zellen als Seniorinnen, deren angeborene Immunzellen außerdem mehr Interleukin-10 produzieren. Und dass auch die Menge und der Aktivierungsgrad der Mikrogliazellen im Nervensystem je nach Geschlecht und Lebensphase unterschiedlich ausfallen, habe ich kürzlich gegen Ende meines langen Artikels über den Schmerz ausgeführt.

In der evolutionär jüngeren erworbenen Abwehr, bei der Lymphozyten dank ihrer antigenspezifischen Aktivierung präziser gegen Krankheitserreger vorgehen können, sind die Unterschiede noch vielfältiger. So produzieren neugeborene Jungen mehr Antikörper des Typs IgE als neugeborene Mädchen. Im Blut vorpubertärer Jungen findet man auch mehr Antikörper des Typs IgA und IgM sowie mehr regulatorische T-Zellen (Tregs) als im Blut von Mädchen; andere Konzentrationen wie die der CD4+- und der CD8+-T-Zellen, der B-Zellen sowie der Antikörper des Typs IgG sind dagegen noch gleich. Nach der Pubertät gibt es in Frauen mehr CD4+- Zellen und weniger CD8+-Zellen als in Männern; T-Zellen lassen sich in ihnen leichter aktivieren und vermehren sich dann stärker; auch B-Zellen und ihre Produkte, die Antikörper, kommen in Frauen in größerer Zahl vor. Deshalb sprechen Frauen auch auf Impfungen etwas stärker an als Männer. Männer verfügen dafür weiterhin über mehr immunreaktionshemmende Tregs. All diese Unterschiede bleiben bis ins hohe Alter bestehen.

Krankheiten mit deutlichen sex bias

Unter den etwa 80 Autoimmunerkrankungen haben mehr als 20 einen starken und etwa 25 weitere einen moderaten Frauenüberhang. Deutlich mehr Frauen als Männer (bzw. Weibchen als Männchen) erkranken zum Beispiel an Morbus Basedow, Hashimoto-Thyreoiditis, Multipler Sklerose, rheumatoider Arthritis und systemischem Lupus erythematosus sowie an den Infektionserkrankungen, die durch HIV (AIDS), Influenza-Viren (Grippe), Zika-Viren, Legionellen oder Plasmodien (Malaria) ausgelöst werden.

Etwa 20 Autoimmunerkrankungen sind bei Männern häufiger als bei Frauen, etwa Morbus Bechterew. Die meisten dieser 20 Krankheiten sind aber so selten, dass in der Summe viel mehr Frauen von Autoimmunerkrankungen betroffen sind. Zu den Infektionen mit deutlichem Männerüberhang zählen Ebola, MERS, Hepatitis B, Tuberkulose, Leptospirose, Bilharziose oder Aspergilliose. Auch viele Krebserkrankungen sind bei Männern häufiger, etwa Leukämien oder Nieren-, Leber-, Lungen-, Speiseröhren-, Magen-, Darm- und Blasenkrebs. Krebserkrankungen der Geschlechtsorgane sind in dieser Geschlechterstatistik logischerweise ausgeklammert.

Eine Frage des Ressourceneinsatzes

Wahrscheinlich sind das deutlich höhere Risiko von Frauen, eine Autoimmunerkrankung zu bekommen, und das deutlich höhere Risiko von Männern, an bestimmten Krebs- oder Infektionserkrankungen zu sterben, der Preis für eine alles in allem evolutionär bewährte geschlechtsspezifische Optimierung von Ressourceneinsätzen. Über weite Strecken der Wirbeltier-, Säugetier- und schließlich Primaten-Evolution war Energie ein äußerst kostbares Gut.

Die Mütter sehr junger Kinder benötigen zum Beispiel ein besonders widerstandsfähiges Immunsystem – sonst raffen Infektionen nicht nur sie selbst, sondern in der Folge auch ihren Nachwuchs dahin. Im männlichen Organismus sind die mit der Nahrung aufgenommenen Kalorien unter Umständen besser in weitere Spermien und Paarungsakte investiert, zum Beispiel durch die Produktion von möglichst viel Testosteron – auch wenn das Immunreaktionen hemmt. Solche unterschiedlichen Life histories und trade-offs habe ich vor längerem schon einmal ausführlich erklärt.

Embryonen und Feten haben kein Gender

Zu einem gewissen Teil mögen Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen auch auf Umweltfaktoren, etwa eine unterschiedliche Ernährung, Kosmetik oder berufliche Schadstoff-Exposition zurückgehen. Aber je früher eine Erkrankung ausbricht oder sich zumindest anbahnt, bei Autoimmunstörungen oftmals viele Jahre vor der Diagnose, desto unwahrscheinlicher ist ein Gender-Unterschied als Ursache. Insbesondere männliche und weibliche Embryonen, Feten und Neugeborene leben in sehr ähnlichen Umwelten. (Zur Erinnerung: Beim Menschen spricht man bis zur 9. Schwangerschaftswoche von Embryonen und dann – wenn alle inneren Organe angelegt sind – von Feten.) Daher kann man bei den frühesten Abweichungen zwischen männlichem und weiblichem Immunsystem getrost von einer Ursache im biologischen Geschlecht ausgehen.

Am Anfang steht die befruchtete Eizelle. Sie enthält fast nur Zytoplasma aus der mütterlichen Eizelle, denn der Spermienkopf ist zu klein, um viel beizusteuern. Auch der Chromosomensatz, den die Eizelle beisteuert, ist immer gleich: Er enthält 22 Autosomen (also Nicht-Geschlechtschromosomen) und ein X-Chromosom. Das Spermium bringt ebenfalls 22 Autosomen mit, deren Informationsgehalt vom Geschlecht des künftigen Kindes unabhängig ist. Die ersten Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Embryonen können also eigentlich nur vom Geschlechtschromosom herrühren, das das Spermium mitbringt: entweder ein zweites X oder ein Y.

Drei Möglichkeiten

Erstens: Das kleine Y-Chromosom enthält neben einigen Genen, die in ähnlicher Form auch auf dem X-Chromosom vorkommen, 25 „Männergene“, zu denen es im weiblichen Genom keine Entsprechungen gibt – darunter Sry, das Gen, das die Entwicklung männlicher Geschlechtsorgane anstößt. In den entstehenden Hoden läuft dann in der 10. Schwangerschaftswoche die Produktion des männlichen Sexualhormons Testosteron an, das die Entwicklung der Lymphorgane, des Gehirns und weiterer Organe beeinflusst. Auch weitere „Männergene“ auf dem Y-Chromosom könnten an einer etwas anderen Entwicklung männlicher Embryonen und ihres Immunsystems beteiligt sein.

Zweitens: Einige Gene auf dem Y-Chromosom haben sich im Lauf der Evolution (zum Teil mehrfach) verdoppelt und kommen heute in variabler Anzahl vor. Die Kopienzahl dieser sogenannten Y-chromosomalen Multicopy-Gene beeinflusst zum einen die Funktionsfähigkeit von Spermien, die ein Y-Chromosom enthalten, bzw. die Lebensfähigkeit der mit ihnen gezeugten männlichen Embryonen und Feten, und zum anderen das Risiko der Töchter, bestimmte Autoimmunerkrankungen zu bekommen – obwohl diese Töchter ja gar kein Y-Chromosom vom Vater erben. So haben Frauen, die MS, SLE oder rheumatoide Arthritis haben, deutlich seltener männliche Geschwister als gesunde Frauen, aber auch als Frauen mit Autoimmunerkrankungen, die bei beiden Geschlechtern gleich häufig auftreten. Diesem höchst seltsamen und noch nicht erschöpfend erforschten Phänomen, das als paternaler Parent-of-origin-Effekt bezeichnet wird, widme ich den nächsten Beitrag. Vielleicht verändert die Y-chromosomale Genkopienzahl in den Spermien-Vorläuferzellen des Vaters die epigenetische Markierungen und damit die Ablesbarheit der Gene des X-Chromosoms, das er zum Genom seiner Töchter beiträgt. Das könnte das Immunsystem der Töchter prägen und ihm im Extremfall von Anfang an eine gefährliche Schlagseite geben.

Eine dritte Möglichkeit: Zwar werden am 16. Tag der Schwangerschaft in allen Zellkernen eines weiblichen Embryos weite Teile eines der beiden X-Chromosomen stillgelegt, damit die darauf liegenden Gene im weiblichen Embryo oder Fetus nicht doppelt so stark abgelesen werden wie im männlichen. Aber beim Menschen entgehen etwa 15 Prozent der Gene auf dem zweiten X-Chromosom dieser Inaktivierung, sodass auch die höhere Dosis der Produkte dieser Gene zur weiblichen Entwicklung des Immunsystems beitragen könnte. Die Hypothese, dass eine unvollständige oder instabile X-Chromosom-Inaktivierung Autoimmunerkrankungen bei Frauen begünstigen könnte, habe ich hier schon einmal vorgestellt.

Oben: Von den beiden X-Chromosomen in einem weiblichen Embryo bleibt eines aktiv (Xa), das andere wird inaktiviert (Xi). Unten: 15 Prozent der Gene auf dem Xi bleiben aber ablesbar.

Oben: Von den beiden X-Chromosomen in den Zellen eines weiblichen Embryos bleibt eines aktiv (Xa), das andere wird inaktiviert (Xi). Unten: 15 Prozent der Gene auf dem Xi bleiben aber ablesbar.

Die Vermittler: Transkriptionsfaktoren, DNA-Methylierung, Micro-RNA und Sexualhormone

Ob die allerersten das Immunsystem betreffenden Unterschiede nun vom X- oder vom Y-Chromosom ausgehen: Irgendwie müssen sie ein Schneeballsystem in Gang setzen, denn auf fast allen Chromosomen des Menschen sind Gene zu finden, die bei den Geschlechtern unterschiedlich stark abgelesen werden und etwas mit dem Immunsystem zu tun haben. Wie eingangs festgestellt, kann der Transkriptionsfaktor VGLL3 diese Kaskade nicht anstoßen, denn sein Gen sitzt auf Chromosom 3, nicht auf einem Geschlechtschromosom. Aber vielleicht gibt es auch X- oder Y-chromosomale Genprodukte, die als Transkriptionsfaktoren fungieren und ein geschlechtsspezifisches Genregulierungsnetzwerk in Gang setzen.

Zur Etablierung der ersten geschlechtlichen Unterschiede im Immunsystem können neben solchen Transkriptionsfaktoren drei weitere Mechanismen beitragen:

  • Epigenetische Markierungen wie Methylgruppen an der DNA beeinflussen die Ablesbarkeit von Genen. Die Gesamtheit aller Methylierungen eines Genoms, das sogenannte Methylom, weist schon bei der Geburt eines Menschen geschlechtsspezifische Unterschiede auf.
  • Geschlechtshormone aktivieren Transkriptionsfaktoren und steuern so ebenfalls die Ablesestärke von Genen. Da Testosteron nicht etwa erst in der Pubertät produziert wird, sondern bereits vor der Geburt eines Jungen und in seiner ersten Lebensphase, kann dieses Hormon durchaus an der Ausbildung des frühen sex bias im Immunsystem mitwirken.
  • Kurze RNA-Stränge, sogenannte Micro-RNAs oder miRNAs, binden an die Transkriptionsprodukte von Genen – die Messenger-RNA – und blockieren so die Proteinherstellung – auch die Herstellung von Immunsystem-Komponenten. Die Produktion der miRNAs wiederum wird von den Geschlechtschromosomen und -hormonen gesteuert.

Diese drei Mechanismen schließen einander also nicht aus, sondern greifen ineinander. In den folgenden Beiträgen stelle ich sie genauer vor.

Literatur

L. K. Case et al. (2015): Copy Number Variation in Y Chromosome Multicopy Genes Is Linked to a Paternal Parent-Of-Origin Effect on CNS Autoimmune Disease in Female Offspring

R. C. Chiaroni-Clarke et al. (2016): Sex bias in paediatric autoimmune diseases – Not just about sex hormones? (Bezahlschranke)

R. Dai, S. A. Ahmed (2014): Sexual dimorphism of miRNA expression: a new perspective in understanding the sex bias of autoimmune diseases

S. L. Klein, K. L. Flanagan (2016): Sex differences in immune responses

H. Lee et al. (2014): Reprogramming the Methylome: Reprogramming the Methylome: Erasing Memory and Creating Diversity

M. Suderman et al. (2017): Sex-associated autosomal DNA methylation differences are wide-spread and stable throughout childhood

J. Wang et al. (2016): Unusual maintenance of X chromosome inactivation predisposes female lymphocytes for increased expression from the inactive X

Hokuspokus im Thymus

Endlich eine neue Skizze fürs Buch: Medulläre Thymus-Epithelzellen (mTEC) exprimieren das Gen AIRE, das einen universellen Transkriptionsfaktor codiert. Dieser dockt an beliebige Gene in den Zellkernen an und sorgt für die ektopische (d. h. nicht am üblichen Ort erfolgende) Herstellung aller möglicher eigentlich gewebe- und organspezifischer Proteine im Thymus. Auf diese Weise präsentieren die Thymus-Epithelzellen (hier als Illusionskünstler dargestellt) den jungen T-Zellen nahezu alle körpereigenen Proteine.P1110584_Thymus_AIRE_zentrale_Toleranz_Zauberer_650

Immunzellen, die stark auf eines dieser Proteine ansprechen (Sprechblasen), würden später zu Autoimmunreaktionen neigen und müssen daher ausgeschaltet werden. Das Ergebnis dieses Selektionsvorgangs nennt man „zentrale Toleranz“, da fast nur solche Immunzellen übrig bleiben, die körpereigene Antigene in Ruhe lassen. Ergänzt wird er später im Körper durch weitere Selektions- und Umpolungsvorgänge, die peripheren Toleranzmechanismen. Mutationen im Gen AIRE oder andere Störungen der Selektion im Thymus führen bereits im Kindesalter zu schweren, oft gegen eine Vielzahl körpereigener Antigene gerichteten Autoimmunreaktionen.

DNA-Schleifen und Steuerungssequenzen mit Fernwirkung

Neue Skizzen fürs Buch; Erläuterungen folgen dort:

DNA-Schleifen: Introns mit risikoassoziierten SNPs als Enhancer für benachbarte Autoimmun-Risikogene

Wie im letzten Beitrag angedeutet, wird durch die Daten des gigantischen ENCODE-Projekts (Encyclopedia of DNA Elements) und neue Techniken wie 3C (chromosome conformation capture), mit denen sich Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Teilen des Erbguts analysieren lassen, nun endlich klar, warum die bisherigen Versuche, Risikogene für Autoimmunerkrankungen dingfest zu machen, so bescheidene Ergebnisse erbracht haben. Jahrelang wurden mit Hilfe von genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) alle möglichen sogenannten Einzelnukleotid-Polymorphismen oder SNPs (single nucleotide polymorphisms) identifiziert, die irgendwie mit einem erhöhten Risiko verbunden waren, bestimmte Autoimmunerkrankungen zu bekommen. Manchmal lagen diese Hochrisiko-SNPs tatsächlich in oder direkt neben Genen, von denen man weiß, dass ihre Proteine etwas mit dem Immunsystem zu tun haben. Oft blieb der Zusammenhang aber völlig rätselhaft.

Jetzt zeigt sich: Man sollte immer auch untersuchen, ob die Sequenzen, in denen die SNPs liegen, womöglich gar keine Immunsystem-Proteine codieren, sondern als Steuerungselemente die Intensität der Ablesung anderer Gene in der weiteren Umgebung beeinflussen. Im Folgenden stelle ich eine Arbeit vor, in der auf diese Weise ein völlig neues Risikogen für Typ-1-Diabetes identifiziert wurde, dessen Funktion noch nicht bekannt ist. Die Autoren haben auch ein Modell entwickelt, das die „Fernwirkung“ der Sequenz mit den SNPs auf das Risikogen erklären kann.

Meine Notizen sind – wie immer – noch nicht allgemein verständlich aufbereitet.

Lucy J. Davison et al.: Long-range DNA looping and gene expression analyses identify DEXI as an autoimmune disease candidate gene. Human Molecular Genetics 21/2, 2012,  322-333; doi:10.1093/hmg/ddr468 (Open Access)   Weiterlesen

The Epigenetics of Autoimmune Diseases, Kap. 17: Sexualhormone

Für die DNA-Transkription müssen die Nukleosomen umgebaut werden.

Notizen zum 17. Kapitel des Buches von Moncef Zouali (Hg.); noch nicht allgemein verständlich aufbereitet

Virginia Rider und Nabih I. Abdou, “Hormones: epigenetic contributors to gender-biased autoimunity”, in M. Zouali (Hg.), “The Epigenetics of Autoimmune Diseases”, Wiley-Blackwell 2009

Einführung

Zwar werden die Grundlagen für die immunologische Selbsterkennung schon früh in der Entwicklung gelegt, aber bei Erwachsenen muss diese Selbsttoleranz durch bestimmte Schlüsselfaktoren aufrecht erhalten werden. Denn autoreaktive T-Zellen mit schwachen Antigenrezeptoren können der klonalen Selektion entgehen, und somatische Mutationen könnten B-Zellen mit autoreaktiven Antigenrezeptoren erzeugen. Ein Verlust der Selbsttoleranz tritt bei Frauen erheblich häufiger auf als bei Männern. Systemischer Lupus erythematodes (SLE) trifft Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter 9 mal öfter als Männer.   Weiterlesen

The Epigenetics of Autoimmune Diseases, Kap. 1: Transkriptionsregulierung der T-Zell-Toleranz

Notizen zum 1. Kapitel des Buches von Moncef Zouali (Hg.), Autoren: Brian T. Abe et al.; noch nicht allgemein verständlich aufbereitet

Einführung

Im Körper entstehen gelegentlich Lymphozyten (T-Zellen, B-Zellen und natürliche Killerzellen; Untergruppe der Leukozyten), die auf körpereigenes Gewebe reagieren. Diese Selbstreaktivität kann zu Autoimmunkrankheiten führen. Ihre Eindämmung erfolgt auf zwei Ebenen: zentrale und periphere Toleranz. Sowohl selbstreaktive B-Zellen als auch selbstreaktive T-Zellen können eliminiert oder tolerant gemacht werden. Schwerpunkt dieses Kapitels sind die T-Zellen.   Weiterlesen