Archiv der Kategorie: Aus der Fachliteratur

Multiple Sklerose: Zelldegeneration primär, chronische Entzündung und Autoimmunreaktion sekundär?

Axon mit Myelinscheide im Querschnitt, CC BY-SA 3.0, http://en.wikipedia.org/wiki/User:Roadnottaken

Ehrlich gesagt habe ich es aufgegeben, bei Multipler Sklerose (MS) den Überblick über die Fachliteratur und die Diskussionen zu ihren Ursachen und Mechanismen zu behalten: Nach meinem Eindruck wird alle paar Wochen eine neue Sau durchs Dorf getrieben, und oft wird mir nicht klar, welche Studienergebnisse nun mit welchen Theorien zusammenpassen und was sich gegenseitig ausschließt. Aber wenigstens diesen Meinungsbeitrag möchte ich vorstellen – wie immer noch nicht allgemeinverständlich zusammengefasst:

 

Peter K. Stys et al.: Will the real multiple sclerosis please stand up? Nature reviews Neuroscience 13, Juli 2012, 507-514; doi: 10.1038/nrn3275

Die Autoren legen dar, warum MS in ihren Augen eine Kombination aus einer primären neurodegenerativen Erkrankung und einer durch diese ausgelösten (und sie evtl. verstärkenden) Autoimmunreaktion bzw. chronischen Entzündung ist. Die nicht entzündliche primär progrediente Form der MS (PP-MS) ist ihres Erachtens die „eigentliche“ MS, die entzündlichen Formen wie die schubförmig remittierende MS (RR-MS) sind auf sekundäre (wenngleich sehr wichtige) Reaktionen zurückzuführen.

MS gilt ihnen zufolge traditionell als Autoimmunerkrankung, bei der wild gewordene T-Zellen Elemente des zentralen Nervensystems, insbesondere Myelin, angreifen. In der Zerebrospinalflüssigkeit der Patienten ist für gewöhnlich oligoklonales Immunglobulin G nachweisbar, und transiente Läsionen im Magnetresonanzscan weisen auf Entzündungen und Zusammenbrüche der Blut-Hirn-Schranke hin. Biopsien: Perivaskuläre Entzündungsinfiltrate bestehen überwiegend aus T-Zellen und Makrophagen; das Myelin wird abgebaut; die Axone degenerieren. Neuere Belege: nicht nur weiße, auch graue Substanz (Neuronen und Synapsen) betroffen.

Allgemein wird angenommen, dass die Pathophysiologie mit Immundysregulation beginnt, die das ZNS schädigt (Outside-in-Modell). Das passt aber nicht zu allen Befunden. Die Autoren vergleichen MS mit anderen neurodegenerativen Krankheiten, die wie Alzheimer oder Parkinson Stoffwechselursachen haben und nicht mit auffälligen Entzündungsphasen einhergehen. Sie schlagen ein alternatives Inside-out-Modell vor und untersuchen, welche molekularen Strukturen bei MS ohne primäre Beteiligung des Immunsystems gestört sein könnten.  Weiterlesen

Auch Bakterien haben eine erworbene Immunabwehr – und Autoimmunstörungen

Zwei Skizzen für den dritten Teil des Autoimmunbuchs, in dem ich die Evolution des Immunsystems erläutere. Bis vor wenigen Jahren hielt man die erworbene Immunabwehr für etwas Wirbeltierspezifisches. Inzwischen weiß man, dass auch Bakterien eine erworbene (und darüber hinaus erbliche) Immunabwehr haben: das CRISPR/Cas-System.*

Der entsprechende Abschnitt der Bakterien-DNA beginnt mit einigen Cas-Genen, hier vereinfacht durch zwei Pfeile mit einer Kanone und einer Schere dargestellt. Es folgt eine Erkennungssequenz, die den Anfang des CRISPR-Sektors markiert, hier als Posteingang symbolisiert. Unmittelbar hinter diesem sogenannten CRISPR-Leader werden DNA-Abschnitte aus Bakterienviren (Phagen) oder parasitären Plasmiden eingebaut, die das Bakterium infiziert haben – sogenannte Spacer (1). Sie werden von charakterisitischen, immer gleichen Repeats flankiert, die hier nicht abgebildet sind. Sammelt ein Bakterium zu viele Spacer an, kann es am hinteren Ende (also an der „Mülltonne“) alte Erinnerungen an sehr lang zurückliegende Infektionen entsorgen, damit sein Erbgut nicht zu umfangreich wird (2). Es handelt sich also um einen FIFO-Speicher (first in, first out). Die gesamte Sequenz wird zu einer einzigen Prä-crRNA transkribiert (3), die dann von Cas-Genprodukten in crRNAs zerlegt wird, die jeweils die Erinnerung an ein Infektionsereignis enthalten (4). Befällt derselbe Parasit die Bakterienzelle noch einmal, so lenkt die entsprechende crRNA den Abwehrkomplex (die Kanone) auf ihr spezifisches Ziel, woraufhin die DNA oder RNA des Parasiten auf noch nicht ganz verstandene Weise inaktiviert und abgebaut wird (5). Und was hat das mit Autoimmunerkrankungen zu tun?  Weiterlesen

Entwurmungen in Entwicklungsländern: weniger erfolgreich als bisher angenommen?

Vor dem Hintergrund des Schutzes vor Autoimmunerkrankungen und Asthma, den verschiedene parasitische Würmer vor allem bei Infektionen während der Kindheit zu vermitteln scheinen, fand ich das ernüchternde Ergebnis dieses Cochrane-Reviews interessant:

David C. Taylor-Robinson et al.: Deworming drugs for soil-transmitted intestinal worms in children: effects on nutritional indicators, haemoglobin and school performance. The Cochrane Library, 11. Juli 2012, DOI: 10.1002/14651858.CD000371.pub4

(Berichte/Kommentare dazu hier und hier)

Übersetzung der allgemeinverständlichen Zusammenfassung:

„Die wichtigsten über Böden übertragenen Würmer sind Fadenwürmer, Hakenwürmer und Peitschenwürmer. In den Tropen und Subtropen sind sie vor allem in Kindern aus armen Gegenden mit schlechter/fehlender Kanalisation, hoher Bevölkerungsdichte, schlechter Bildung und schlechtem Zugang zum Gesundheitswesen weit verbreitet. Die Infektionen verursachen bei Kindern manchmal Unterernährung, Wachstumsstörungen und Anämie, und einige Experten glauben, sie würden auch die schulische Leistung beeinträchtigen. Neben Verbesserungen der Kanalisation und der Hygiene werden auch Medikamente gegen Würmer eingesetzt.

Ein Ansatz besteht darin, nur diejenigen Individuen zu behandeln, die sich bei Massentests als infiziert erwiesen haben. Indizien deuten darauf hin, dass dies das Gewicht und evtl. auch die Hämoglobinwerte verbessert, aber die Belegbasis ist klein. Bei einem anderen, derzeit von der WHO empfohlenen und viel besser untersuchten Ansatz werden alle Schulkinder mit Wurmmitteln behandelt.

Nach Untersuchungen nach einer einzelnen Wurmmittelgabe oder nach mehreren Dosen bleibt ungewiss, ob solche Programme Ernährungsindikatoren wie Gewicht oder Körpergröße, die kognitiven Fähigkeiten, die Unterrichtsteilnahme oder die schulischen Leistungen positiv beeinflussen. Es sieht so aus, als hätten sie keine Auswirkung auf den Hämoglobingehalt des Blutes. Einer Untersuchung an einer Million Schulkindern, bei der Todesfälle untersucht wurden, wurde bereits 2005 abgeschlossen, aber die Forscher haben ihre Ergebnisse noch nicht veröffentlicht.“

Würmer im Darm regen IL-10-Ausschüttung an und verhindern so bei Mäusen Typ-1-Diabetes

P. K. Mishra et al.: Prevention of type 1 diabetes through infection with an intestinal nematode parasite requires IL-10 in the absence of a Th2-type response. Mucosal Immunology, 18. Juli 2012, doi: 10.1038/mi.2012.7

Notizen noch nicht allgemeinverständlich zusammengefasst

Abstract: Wurminfektionen können Typ-1-Diabetes verhindert; Mechanismen noch unklar. Hier wurden NOD-Mäuse (Tiermodell für Typ-1-Diabetes), die kein Interleukin 4 produzieren können (IL-4-/-), im Alter von 5-7 Wochen mit dem Darmparasiten Heligmosomoides polygyrus infiziert und anschließend entwurmt. Im Unterschied zu den nicht infizierten Tieren entwickelten die meisten von ihnen bis zur 40. Lebenswoche keinerlei Anzeichen für Typ-1-Diabetes oder eine Schädigung der Betazellen in der Bauchspeicheldrüse. Die CD4+-STAT6-Phosphorylierung (also der IL-4/IL-13-Signalweg) war unterbunden, die CD4+-STAT1-Phosphorylierung (also die IFN-γ-Produktion) nicht. In FoxP3-CD4+-T-Zellen war die IL-10-Produktion stark erhöht.

Blockierte man die IL-10-Signalgebung in den NOD-IL-4-/--Mäusen, so wurden die Betazellen zerstört, und die Tiere bekamen Typ-1-Diabetes. NOD-Mäuse, die IL-4 herstellen konnten, blieben dagegen auch bei einer IL-10-Signalblockade gesund. Ein Transfer jener CD4+-T-Zellen aus infizierten NOD-IL-4-/--Mäusen, die offenbar primär für die erhöhte IL-10-Produktion verantwortlich sind, in nicht infizierte NOD-IL-4-/--Mäuse verhinderte deren Erkrankung. Diese Zellen sind keine klassischen regulatorischen T-Zellen oder Tregs (kaum FoxP3).  Weiterlesen

Die Evolution der Sialinsäure-Gene beim Menschen

Hintergrund/Ergänzungen zum vorigen Artikel über eine Säugetier-Sialinsäure als Xenoautoantigen:

Ajit Varki, Pascal Gagneux: Human-specific evolution of sialic acid targets: Explaining the malignant malaria mystery? PNAS 106(35), 2009, 14739-14740

Plasmodium falciparum verursacht schwere Malaria beim Menschen; nächster Verwandter,  P. reichenowi, infiziert Schimpansen und Gorillas, richtet bei ihnen aber weniger Schaden an. Übertragung P. falciparum durch Anopheles-Mücken. Nach Mückenstich infizieren die injizierten Sporozoiten Leberzellen -> Merozoiten, die in die zirkulierenden roten Blutkörperchen (RBCs) eindringen und deren zyklische asexuelle Vermehrung Schübe hohen Fiebers auslösen. P. falciparum exprimiert mehrere Bindungsproteine, die spezifische Ziele auf den RBCs erkennen – vor allem die Sialinsäuren an den Enden der Glykanketten an den Glycophorinen (den häufigsten Oberflächenglykoproteinen) der RBCs.

Das „Sialom“ oder Sialinsäure-Repertoire des Wirts muss sich ständig weiterentwickeln, da die Pathogene schnell evolvieren. Z. B. kam es vor etwa 2-3 Mio. Jahren zu einer Alu-vermittelten Deletion im CMAH-Gen unserer Vorfahren -> keine Biosynthese von Neu5Gc mehr, dafür Akkumulation des Ausgangsstoffes Neu5Ac. Bei den übrigen Menschenaffen kommen beide Sialinsäuren vor. Das wichtigste RBC-Bindungsprotein der Merozoiten von P. falciparum bindet bevorzugt Neu5Ac, das von P. reichenowi bevorzugt Neu5Gc. Der Verlust von Neu5Gc könnte unsere Vorfahren kurzfristig von schwerer Malaria befreit haben. Demnach wäre P. falciparum später entstanden, als das Erkennungsprotein EBA-175 so mutierte, dass es Neu5Ac auf den Erythrozyten erkannte. Vermutlich gab es ein Zwischenstadium, indem EBA-175 beide Formen binden konnte.  Weiterlesen

Sialinsäure aus rotem Fleisch: ein Xenoautoantigen

Notizen zu zwei Artikeln der Arbeitsgruppe um Ajit Varki (Menschwerdung, Coevolution mit Malaria-Erregern usw.), v. a.

Tho Pham et al.: Evidence for a novel human-specific xeno-auto-antibody response against vascular endothelium. Blood 114(25), 2009, doi: 10.1182/blood-2009-05-220400

Varki 2012: Eine Sialinsäure, die vor allem in rotem Fleisch vorkommt und vom Menschen aufgrund einer Mutation nach der Abspaltung vom Schimpansen-Ast des Stammbaums nicht mehr hergestellt wird, wird bei Fleisch essenden Menschen ins Gewebe (genauer: in die Glycoproteine der Zellmembranen) eingebaut und ruft die Bildung von Xenoautoantikörpern („Fremd-Selbst-Antikörpern“) hervor, die Entzündungen verstärken können.

[Sialinsäuren = N– und O-Derivate der Neuraminsäure (Acylneuraminsäure), bilden oft die Endglieder der Zuckerreste der Glykoproteine auf allen Wirbeltier-Zellmembranen]   Weiterlesen

Mikrobiom und Autoimmunerkrankungen, V

Lora V. Hooper et al.: Interactions Between the Microbiota and the Immune System. Science 336(6086), 1268-1273, DOI: 10.1126/science.1223490

(Notizen nur zu den Teilen, in denen es um AIE geht)

In Tiermodellen, in denen Tregs fehlen, fördern Th1- und Th17-Zellen sowie IL-23-abhängige lymphoide Zellen der angeborenen Immunabwehr (innate lymphoid cells = ILCs) Colitis. Vermutlich werden auch beim Menschen CEDs durch ein Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Immunzelltypen ausgelöst, das wiederum von den Kommensalen beeinflusst wird. Dafür sprechen z. B. die starke Kopplung von Morbus Crohn an IL23R-Polymorphismen und von schwerer Enterocolitis an IL10– und IL10R-Mutationen.

Bei keimfrei aufgezogenen Mäusen ist der Verlauf von Arthritis, EAE (MS-Modell) oder Colitis i. A. schwerer als bei Mäusen mit normalem Mikrobiom. Bei Tiermodellen für Th17-abhängige Arthritis und EAE reicht eine Assoziation mit segmentierten filamentösen Bakterien (SFB) aus, um die Krankheit auszulösen. In all diesen Modellen hat die Vermehrung der Th17-Zellen im Darmschleimhaut-Immunsystem systemische Auswirkungen. Die Antigenspezifität dieser Zellen muss noch geklärt werden.   Weiterlesen

Mikrobiom und Autoimmunerkrankungen, IV

Noch nicht allgemeinverständlich aufbereitete Notizen:

Tianyi Zhang et al.: Host Genes Related to Paneth Cells and Xenobiotic Metabolism Are Associated with Shifts in Human Ileum-Associated Microbial Composition. PLoS ONE 7(6): e30044. doi: 10.1371/journal.pone.0030044

(selbes Team und ähnliches Thema wie bei dieser bereits zusammengefassten Arbeit; wenig Neues)

Abstract: Sequenzdaten usw. von 84 Personen mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa oder ohne CED; Fragestellung: Wie sind die Wirt-Mikrobiom-Beziehungen bei CED gestört? Ergebnis stützt die Hypothese, dass die Wirtsgene für die Paneth-Zellen in der Darmschleimhaut sowie für den Xenobiotika-Stoffwechsel bei der Wechselwirkung zwischen Wirt und Darmflora eine wichtige Rolle spielen.   Weiterlesen

Mikrobiom und Autoimmunerkrankungen, III

Noch nicht allgemeinverständlich aufbereitete Notizen

Li et al.: Inflammatory Bowel Diseases Phenotype, C. difficile and NOD2 Genotype Are Associated with Shifts in Human Ileum Associated Microbial Composition. PLoS ONE 7(6): e26284. doi: 10.1371/journal.pone.0026284

Test der Hypothese, dass Polymorphismen in Genen der angeborenen Immunabwehr, die mit Morbus Crohn in Verbindung stehen, mit Verschiebungen in der Zusammensetzung der Darmflora im Ileum (Krumm- oder Hüftdarm) assoziiert sind, also mit Dysbiose. Sequenzierung von 16S-rRNA aus Stuhlproben, die bei Biopsien aus makroskopisch nicht von der Krankheit betroffenen Regionen des Ileums von 52 Morbus-Crohn-, 58 Colitis-ulcerosa-Patienten und 60 Kontrollpersonen ohne CED gewonnen wurde. Drei verschiedene Sequenzierungsmethoden führten zum selben Resultat: CED-Phänotyp, Clostridium difficile und NOD2-Genotyp waren assoziiert; die Gesamtzusammensetzung des Mikrobioms war verändert. CED-Phänotyp und NOD2-Genotyp waren auch mit einer veränderten relativen Häufigkeit der Gruppe C. coccoides/E. rectales assoziiert. CED-Phänotyp, Rauchen und CED-Medikation gingen mit einer veränderten relativen Häufigkeit von F.-prausnitzii-Unterarten einher. -> Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Auswirkungen von genetischen Faktoren und Umweltfaktoren auf CED zumindest teilweise durch die Darmflora vermittelt werden.    Weiterlesen

Mikrobiom und Autoimmunerkrankungen, I

Zusammenfassung des AIE-Aspekts der Arbeit:

Yun Kyung Lee und Sarkis K. Mazmanian: Has the microbiota played a critical role in the evolution of the adaptive immune system? Science 330(6012), 2010, doi: 10.1126/science.1195568

Außer den natürlichen Tregs (CD4+Foxp3+-T-Zellen aus dem Thymus) entstehen imVerdauungstrakt auch induzierbare Tregs aus naiven T-Zellen; einige davon produzieren entzündungshemmendes IL-10. Darmbakterien können an der Differenzierung einiger dieser Tregs beteiligt sein. Kommensalen wie Bifidobacterium infantis und Faecalibacerium prausnitzii können auch Foxp3+-Tregs und die IL-10-Produktion im Darm anregen – vermutlich, um in der Schleimhaut Toleranz zu induzieren.   Weiterlesen