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Abb. 48: Das Karelien-Rätsel

Karte: Im finnischen Teil Kareliens (linkes Wappen) tritt Typ-1-Diabetes fast sechsmal so häufig auf wie im russischen Teil (rechtes Wappen). Oberes Diagramm: Bei finnischen Kindern lag die Typ-1-Diabetes-Inzidenz 2006 bei gut 63/100.000 – höher als in jedem anderen Land der Welt. 1950 waren es noch 10/100.000. Unteres Diagramm: In der russischen Republik Karelien weisen Kinder mit Diabetes und Allergien deutlich seltener Antikörper gegen Hepatitis A auf als Kinder, die weder Diabetes noch Allergien haben. Das untermauert die Hygiene-Hypothese.

Sie dürfen diese Zeichnung gerne in Folien etc. übernehmen, sofern Sie die Quelle angeben: Dr. Andrea Kamphuis, https://autoimmunbuch.de

Vom Kaiserschnitt bis zur Erdnussbutter: Einflüsse auf das kindliche Immunsystem

Unter dem Titel Early-Life Microbiome wurden in The Scientist zwei Studien beschrieben, in denen – anders als in der gestern vorgestellten Mäuse-Studie – die Entwicklung des Mikrobioms von Kleinkindern untersucht wurde. (Die Fachartikel selbst stecken hinter Bezahlschranken.) Das erste Team hat Stuhlproben aus den ersten drei Lebensjahren von 39 finnische Kindern analysiert. Während in der Darmflora der meisten vaginal geborenen Kindern Bacteroides vorherrschten, fehlten diese Bakterien bei den per Kaiserschnitt zur Welt gekommenen und auch bei einigen vaginal geborenen Kindern in den ersten 6-18 Monaten. Nach einer frühen Antibiotika-Therapie wegen Atemwegs- oder Ohrinfekten fanden sich im Mikrobiom der Kinder Antibiotikaresistenz-Gene, von denen einige wenige noch lange nach der Behandlung nachzuweisen waren. Das andere Team hat die Entwicklung der Darmflora von 43 US-amerikanischen Kindern über die ersten beiden Lebensjahre verfolgt und festgestellt, dass neben der Geburtsmethode und Antibiotika auch die Muttermilch bzw. Muttermilchersatz die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflussen. Kausale Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren und später auftretenden Störungen des Immunsystems wie Allergien oder Autoimmunerkrankungen lassen sich mit solchen Studien allerdings nicht nachweisen.

Einen Schritt zur Aufklärung des Zusammenhangs zwischen früher Darmflora-Dysbiose und späterem Asthma hat das Team um K. E. Fujimura in seiner Arbeit „Neonatal gut microbiota associates with childhood multisensitized atopy and T cell differentiation“ unternommen, über die ebenfalls The Scientist berichtet: Neonatal Gut Bacteria Might Promote Asthma. Kinder, in deren Darmflora im Alter von einem Monat vier „gute“ Bakteriengruppen (Bifidobacteria, Lactobacillus, Faecalibacterium und Akkermansia) schwächer und zwei Pilze (darunter Candida) stärker vertreten waren als bei den meisten Gleichaltrigen, hatten im Alter von zwei Jahren ein dreimal höheres Allergierisiko und im Alter von vier Jahren ein deutlich erhöhtes Asthmarisiko. Diese Risiken werden offenbar durch Stoffwechselprodukte der Darmflora vermittelt, die die Entwicklung der T-Zellen beeinflussen. Den Allergie- und Asthma-anfälligen Kindern fehlten entzündungshemmende Fettsäuren und Oligosaccharide (Zucker), die die Darmflora aus der Muttermilch produziert. T-Zellen aus gesunden Erwachsenen, die Stoffwechselprodukten der Mikrobiome der Hochrisiko-Kinder ausgesetzt wurden, entwickelten sich bevorzugt zu Th2-Helferzellen, die mit Allergien in Verbindung gebracht werden. Zugleich bildeten sich weniger regulatorische T-Zellen (Tregs), die Allergien dämpfen können. Unter den Darmflora-Produkten fielt vor allem das Lipid 12,13-DiHOME auf, das alleine schon die Entwicklung von T-Zellen zu Tregs verhindern konnte.

Um Allergierisiken geht es auch in einem weiteren The-Scientist-Artikel: Study: Nail-Biters, Thumb-Suckers Have Fewer Allergies. In einer Längsschnittstudie haben Stephanie J. Lynch und ihre Kollegen gut 1000 Neuseeländer untersucht, die 1972 oder 1973 geboren wurden. Unter denjenigen, die als Kinder am Daumen gelutscht oder an ihren Nägeln geknabbert hatten, reagierten 39 Prozent in einem Allergietest positiv auf mindestens ein gängiges Allergen. Wer nichts davon getan hatte, kam auf 49 Prozent. Und nur bei 31 Prozent derer, die früher sowohl am Daumen gelutscht als auch an den Nägeln gekaut hatten, schlug der Allergietest an: eine Bestätigung der Hygiene-Hypothese, denn durch das Lutschen und Knabbern nehmen Kinder Mikroorganismen aus ihrer Umwelt auf. Bei Asthma oder Heuschnupfen zeigten sich dagegen keine Unterschiede zwischen den Gruppen.

Auch zur alten Streitfrage, ob eine frühe Allergen-Exposition spätere Überreaktionen des Immunsystems eher fördert oder hemmt, gibt es Neues. Unter dem Titel Further Support for Early-Life Allergen Exposure berichtet The Scientist über eine Metaanalyse von 146 Studien mit zusammen über 200.000 Kindern. Die Ergebnisse: Kleinkinder, die schon früh Eier oder Erdnüsse zu sich nehmen, haben ein geringeres Risiko, später allergisch auf diese Lebensmittel zu reagieren. Bei Milch, Fisch und Muscheln, Nüssen und Weizen gab es dagegen keine hinreichenden Indizien für eine Schutzwirkung durch frühe Aufnahme in den Speiseplan. Auch für einen Schutz vor Autoimmunerkrankungen wie Zöliakie durch eine frühe Konfrontation des Immunsystems mit Weizen oder anderen Gluten-Quellen fanden die Forscher keine Hinweise.

Neue Literatur, ungesichtet

Zum Wiedereinstieg nach erneut viel zu langer Pause verlinke ich hier einige neuer Artikel zum Immunsystem und angrenzenden Themen, die ich noch genauer sichten muss. Der Beitrag über Autoimmunerkrankungen als Folge einer erfolgreichen körpereigenen Krebs-Abwehr, der seit Wochen in der Blog-Pipeline hängt, folgt hoffentlich bald.

Kuhlwilm et al. (2016): Ancient gene flow from early modern humans into Eastern Neanderthals (Paywall)

Cornwall (2015): Study may explain mysterious cancer–day care connection – zu Swaminathan et al (2015): Mechanisms of clonal evolution in childhood acute lymphoblastic leukemia (Paywall)

Opas Essen macht unsere Darmflora arm Die Ernährung unserer Großeltern und Eltern beeinflusst auch unser Mikrobiom (2016) – zu Sonnenburg et al. (2015): Diet-induced extinctions in the gut microbiota compound over generations (Paywall)

Keener (2016): Cord Blood Cells Foretell Food Allergy. Scientists link an immune phenotype present at birth to the development of food allergies a year later – zu Zhang et al. (2016): Cord blood monocyte–derived inflammatory cytokines suppress IL-2 and induce nonclassic “TH2-type” immunity associated with development of food allergy (Paywall)

Taylor (2015): Absent Friends: How the Hygiene Hypothesis Explains Allergies and Autoimmune Diseases. Auszug aus dem Buch „Body by Darwin: How Evolution Shapes Our Health and Transforms Medicine“

Azvolinsky (2015): Long-Lived Immune Memories. Two types of memory T cells can preserve immunological memories for more than a decade, a study shows – zu Oliveira et al. (2015): Tracking genetically engineered lymphocytes long-term reveals the dynamics of T cell immunological memory (Paywall)

Sind Viren doch Lebewesen? Proteinvergleiche sprechen für zelluläre Vorläufer der modernen Viren (2015) – zu Nasir & Caetano-Anollés (2015): A phylogenomic data-driven exploration of viral origins and evolution (Open Access)

Azvolinsky (2015): B Cells Can Drive Inflammation in MS. Researchers identify a subset of proinflammatory cytokine-producing B cells that may spark multiple sclerosis-related inflammation – zu Li et al. (2015): Proinflammatory GM-CSF–producing B cells in multiple sclerosis and B cell depletion therapy (Paywall)

Yandell (20150: Fanning the Flames. Obesity triggers a fatty acid synthesis pathway, which in turn helps drive T cell differentiation and inflammation – zu Endo et al. (2015): Obesity Drives Th17 Cell Differentiation by Inducing the Lipid Metabolic Kinase, ACC1 (Open Access)

Scientists identify factor that may trigger type 1 diabetes (2016) – zu Delong et al. (2016): Pathogenic CD4 T cells in type 1 diabetes recognize epitopes formed by peptide fusion (Paywall)

Wurmbefall bei den Tsimane: Alte Freunde sorgen für Kindersegen

Ein neuer Aspekt der Alte-Freunde-Hypothese, der zufolge bestimmte Würmer aufgrund ihrer langen Koevolution mit dem Menschen und der partiellen Übereinstimmung der Interessen von Wirt und Parasit unser Immunsystem zu unserem Vorteil regulieren können: Manche Würmer steigern offenbar die Fruchtbarkeit von Frauen – vermutlich durch Toleranzinduktion, also eine Besänftigung des Immunsystems, die die Einnistung befruchteter Eizellen fördert.

Dies hat ein Forscherteam um Aaron D. Blackwell bei den Tsimane in Bolivien entdeckt, einem Volk von Subsistenz-Ackerbauern und Fischern, in dem Empfängnisverhütung noch keine große Rolle spielt. Etwa 70 Prozent der Frauen haben Parasiten, vor allem Hakenwürmer und Spulwürmer. Frauen ohne solche Parasiten bekommen im Durchschnitt 10 Kinder, Frauen mit Hakenwurmbefall 7 und solche mit Spulwurmbefall 12. Frauen mit Spulwürmern sind bei der ersten Geburt jünger, und der Abstand zwischen ihren Schwangerschaften ist kleiner. Die schwangerschaftsfördernde Wirkung der Spulwürmer nimmt mit den Jahren ab. Bei älteren Frauen hemmen die Spulwürmer weitere Schwangerschaften sogar, aber der positive Effekt in jungen Jahren überwiegt. Hakenwürmer wirken dagegen über die Jahre hinweg konstant schwangerschaftshemmend, obwohl die Frauen nicht unterernährt sind und auch sonst nicht offensichtlich unter ihrem Wurmbefall leiden.

Die Studie (eigentlich hinter einer Paywall, aber über einen „privaten“ Link von der Homepage des Hauptautors netterweise im Volltext zugänglich) ist Teil einer Langzeitbeobachtung der Tsimane (Projektseite), die bereits viele interessante Erkenntnisse – etwa über Koinfektionen mit mehreren Parasiten oder über Zusammenhänge zwischen Parasitenbefall und Depressionen – zutage gefördert hat. Die Autoren bedanken sich am Ende ihrer Studie bei den Tsimane für ihre geduldige Mitwirkung am Projekt. Von dieser Wertschätzung könnten sich die Herren Doctores, die sich beispielsweise bei DocCheck zu der hohen Kinderzahl der Tsimane äußern und dabei einen eklatanten Mangel an Bildung, Benimm, Reflexionsvermögen und Empathie zu erkennen geben, ruhig eine Scheibe abschneiden.

Hier noch zwei Dokumentationen, die Einblicke in das Leben der Tsimane geben – beide mit spanischen Untertiteln, aber man bekommt auch ohne Spanischkenntnisse eine Menge mit:

Porträt einer noch recht ursprünglich lebenden Familie; das süße Tier ist übrigens ein Paka

Das Leben von Tsimane, die bereits mehr Kontakt zur Moderne haben

 

Karelien

Eine Skizze fürs Buch:

Karelien_650Was darin noch fehlt, sind die Zahlen: Untersucht wurden Schulkinder in der finnischen Region Karelien (linkes Wappen) und in der russischen Republik Karelien (rechtes Wappen), Durchschnittsalter 11 Jahre.

Sie gehören überwiegend zur selben ethnischen Gruppe, sodass Risiko-Genorte für die Erkrankungen ungefähr gleich stark vertreten sind. Die Vitamin-D-Konzentrationen in ihrem Blut und im Blut ihrer Mütter sind nahezu gleich, und sie nehmen etwa gleich viele glutenhaltige Getreideprodukte zu sich – in Russland sogar etwas mehr und evtl. auch früher. Die finnischen Kinder werden im Durchschnitt erheblich länger gestillt als die russischen.

Im finnischen Teil Kareliens ist bei ihnen

  • die Prävalenz von Typ-1-Diabetes 6-mal so groß wie im russischen Teil,
  • die Prävalenz von Zöliakie 4,6-mal so groß wie im russischen Teil,
  • der Anteil mit Antikörpern gegen Schilddrüsen-Autoantigene 5,5- bis 6,5-mal so groß wie im russischen Teil,
  • die Prävalenz von Allergien deutlich höher als im russischen Teil.

Im russischen Teil Kareliens sind

  • Wurminfektionen, z. B. Spulwurminfektionen, erheblich häufiger als im finnischen Teil,
  • 73% der Kinder mit Helicobacter pylori infiziert, während es im finnischen Teil 5% sind,
  • Infektionen mit Hepatitis A, Toxoplasma gondii und Enteroviren erheblich häufiger als im finnischen Teil, und
  • prozentual erheblich mehr Kinder ohne Diabetes oder Allergien Hepatitis-A-seropositiv als Kinder, die an Diabetes und/oder Allergien leiden.

Das Bruttosozialprodukt beträgt in Finnland gut 40.000 US-$, in der russischen Republik Karelien 5780 US-$ pro Kopf. Alles in allem stützen diese Zahlen die Hygiene- oder Alte-Freunde-Hypothese.

Die Prävalenz von Typ-1-Diabetes ist in Finnland höher als in jedem anderen Land der Welt; 2006 hat sie 63 pro 100.000 erreicht.

Überblick: Typ-1-Diabetes

Langerhans-Insel, Foto: Wikipedia-User Polarlys

Langerhans-Insel, Foto: Wikipedia-User Polarlys

Diese Review-Sammlung der Zeitschrift Cold Spring Harbor Perspectives in Medicine umfasst 18 frei zugängliche Artikel aus dem Jahr 2012, von denen ich bisher fünf gelesen habe. Notizen zum Einführungsartikel:

Mark A. Atkinson, Pathogenese und Naturgeschichte von T1D: sehr guter Überblick, auch über ungeklärte Fragen.

Anteil T1D-Fälle, die erst bei Erwachsenen diagnostiziert werden: 35-50%. Etwa 5-15% der Erwachsenen mit T2D-Diagnose dürften tatsächlich T1D haben. 2 Gipfel: erster bei Kindern von 5-7 Jahren, zweiter nahe Pubertät. M und F etwa gleich oft betroffen, leichter Männerüberschuss. T1D-Diagosen im Herbst und Winter häufiger als im Frühjahr/Sommer -> evtl. Umweltfaktor an Symptomausbruch beteiligt. Studie SEARCH: Etwa 0,26% aller unter 20-Jährigen haben Diabetes (T1D oder T2D); bei unter 10-Jährigen 19,7/100.000 neue Fälle/Jahr, bei über 10-Jährigen 18,6/100.000; Ethnien: bei weißen Nicht-Latinos unter 10 Jahren höchste Inzidenz (24,8/100.000).

Bandbreite der Inzidenzen zwischen Ländern, aus denen Daten vorliegen: über 350-fach! I. A. positiv korreliert mit Breitengrad. Selten in Indien, China, Venezuela; sehr häufig in Finnland (> 60/100.000/Jahr) und Sardinien (etwa 40/100.000/Jahr); > 20/100.000/Jahr in Schweden, Norwegen, Portugal, GB, Kanada, Neuseeland. Estland: weniger als 75 Meilen von Finnland entfernt, aber T1D-Rate weniger als 1/3 der finnischen. Puerto Rico: selbe Rate wie Festland-USA, benachbartes Kuba dagegen weniger als 3/100.000/Jahr. Inzidenzen steigen weltweit seit Jahrzehnten, besonders stark bei den unter 5-Jährigen. In Schweden scheint Plateau erreicht zu sein. Anstieg viel zu schnell für Verschiebung der genetischen Empfänglichkeit. Anteil Betroffener mit Risikoallelen (v. a. im MHC-II-Komplex) scheint vielmehr gesunken zu sein.   Weiterlesen

Dringende Leseempfehlung: An Epidemic of Absence

Ich bin noch nicht durch, aber mein Urteil steht bereits fest. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Moises Velasquez-Manoff hat ein hervorragendes Sachbuch über die Hygiene- oder Alte-Freunde-Hypothese geschrieben: auf aktuellstem Wissensstand und gut lesbar – sofern man einigermaßen Englisch kann. (Hoffentlich wird es eine deutsche Fassung geben; einen Verlag habe ich schon neugierig gemacht.) In bester amerikanischer Manier wechseln sich erzählerische Intros mit verständlichen und dennoch informationsdichten Passagen über den wissenschaftlichen Background ab.

Die immense Zunahme von Allergien und Autoimmunerkrankungen in den letzten Jahrzehnten führt der Autor auf die allzu erfolgreiche Bekämpfung von Krankheitserregern, vor allem Würmern und anderen Eukaryoten, zurück: eine Hypothese, für die sich die Belege häufen und die mich hier im Blog schon öfter beschäftigt hat. (Einen Überblick bietet dieser Artikel, den ich ursprünglich für Spektrum.de geschrieben habe).

Anlass für die gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema (bis hin zum Selbstversuch, der Infektion mit dem Hakenwurm Necator americanus) war die eigene Erkrankung an Alopecia universalis und Asthma. Ich bin ein wenig neidisch auf den Autor, der im Grunde fast das Buch geschrieben hat, das mir vorschwebt. Zugleich bin ich froh, weil ich offenbar auf der richtigen Spur bin. Außerdem wird sich mein Buch im Aufbau und vor allem in der Aufmachung doch so sehr von „An Epidemic of Absence“ unterscheiden, dass die beiden Bücher sich keine Konkurrenz machen.

Dickdarmbakterien regulieren über kurzkettige Fettsäuren unser Immunsystem

J. K. Nicholson etl al: Host-Gut Microbiota Metabolic Interactions. Science 336, 08.06.2012, 1262-1267: Firmicutes wie Eubacterium, Roseburia, Faecalibacterium und Coprococcus zerlegen für den menschlichen Organismus unverdauliche Ballaststoffe wie Hemizellulosen im Dickdarm in kurzkettige Fettsäuren wie Buttersäure, Essigsäure oder Proprionsäure. Diese senken den pH-Wert im Dickdarm, hemmen durch die Ansäuerung das Wachstum von Pathogenen wie Salmonellen, stimulieren die Wasser- und Natriumabsorption, beteiligen sich an der Cholesterinsynthese, versorgen die Darmepithelzellen und einige Darmbakterien mit Energie und stimulieren die Leptinproduktion in Adipozyten (zumindest in Zellkulturen und Mäusen).   Weiterlesen

Literaturstudien

Heute habe ich wieder einmal nur gelesen, gelesen, gelesen … und es nimmt kein Ende: Jeden Tag erscheinen neue wichtige Arbeiten. Hier ein Screenshot meines Literaturverzeichnisses zum Thema „Darmflora, Mikrobiom, Hygiene-Hypothese, Alte-Freunde-Hypothese“. Dateien, die mit „A_“ beginnen (zufällig gerade genau die Hälfte), habe ich im Laufe der letzten 12 Monate ausgedruckt, gelesen, mit Anmerkungen versehen und zum Teil schon verbloggt oder zu Skizzen verarbeitet. Und es gibt noch zahlreiche weitere Unterverzeichnisse …

Immunologisches im neuen „Spektrum der Wissenschaft“

Auf S. 9 des Juni-Heftes von Spektrum der Wissenschaft werden die Ergebnisse zweier Fachartikel zum Thema Darmflora und Immunabwehr zusammengefasst. Beide unterstützen die sogenannte Hygiene-Hypothese, der zufolge die Zunahme von Allergien und Autoimmunerkrankungen in den Industriestaaten mit einem übermäßigen Schutz des frühkindlichen Darmtrakts vor Mikroben oder mit einem verfrühten Verschluss des anfangs durchlässigen Darmepithels zusammenhängt:

Torsten Olszak und sein Team haben in Tierversuchen nachgewiesen, dass es in der Kindheit (jedenfalls von Mäusen) ein Zeitfenster gibt, in dem eine natürliche Darmflora nötig ist, um die sogenannten natürlichen Killerzellen in Schach zu halten und überschießenden Immunreaktionen wie Asthma und Allergien (und vermutlich auch Autoimmunerkrankungen) vorzubeugen. Der im März 2012 in Science erschienene Fachartikel ist im Netz als PDF frei zugänglich.

Auch David Hill und seine Mitarbeiter haben junge Mäuse ihrer natürlichen Darmflora beraubt und festgestellt, dass die Tiere später zu viele der für Allergien typischen IgE-Antikörper im Blut hatten und ihr Immunsystem überempfindlich reagierte. Das PDF dieses Artikels aus Nature Medicine findet sich ebenfalls im Netz. Beide Forschergruppen vermuten, dass die Verhältnisse beim Menschen ähnlich sind.

Auf den Seiten 22 bis 29 berichten Edgardo D. Carosella und Nathalie Rouas-Freiss von den Ergebnissen ihrer langjährigen Erforschung der Immuntoleranz im Mutterleib, die dafür sorgt, dass das mütterliche Immunsystem das Gewebe des heranwachsenden Embryos (der ja zur Hälfte väterliche, also fremde Proteine exprimiert) im Normalfall nicht attackiert. Die embryonalen Zellen exprimieren ungewöhnliche Oberflächenmarker, die in den HLA-G-Genen codiert sind und die natürlichen Killerzellen an Angriffen hindern. Das Intro des Artikels findet sich auf den Seiten von Spektrum der Wissenschaft; Abonnenten können dort auch das PDF abrufen.