Archiv der Kategorie: Aus der Fachliteratur

Cartoon eines Mitochondriums als Fabrik, die vor allem Energieträger erzeugt

Über Bande: Wie Glucocorticoide Entzündungen hemmen

Glucocorticoide sind Steroidhormone, die – neben vielen weiteren Wirkungen – Immunreaktionen und damit auch Entzündungen hemmen. In unserem Körper übernimmt vor allem das sogenannte Stresshormon Cortisol (umgangssprachlich: Kortison) diese Aufgabe, aber man hat etliche weitere dieser Hormone erzeugt, die stabiler sind und stärker wirken, unter anderem das neulich erwähnte Dexamethason oder auch Prednison. Ihren Namen verdanken die Glucocorticoide ihrem Einfluss auf den Glucose-Stoffwechsel, ihrem Entstehungsort, der Nebennierenrinde (lateinisch Cortex glandulae suprarenalis), und ihrer Zugehörigkeit zur Stoffklasse der Steroide.

Obwohl ihre entzündungshemmende Wirkung schon lange bekannt ist und therapeutisch bei zahlreichen Erkrankungen (etwa Autoimmunerkrankungen oder chronischen Entzündungen) und nach Operationen genutzt wird, hat die Wissenschaft lange nicht so recht verstanden, auf welchen Weg diese Hormone Entzündungen hemmen. Nachdem man Glucorticoid-Rezeptoren im Zytoplasma entdeckt und in den 1980er-Jahren kloniert hatte, hat man sie sehr gründlich in allerlei Experimenten untersucht und sich folgende Erklärung zurechtgelegt: Das Hormon dringt durch die Zellmembran ins Zytoplasma ein und trifft dort auf seinen Rezeptor, der mit verschiedenen weiteren Proteinen dort verankert und inaktiv gehalten wird. Sobald das Hormon nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip an seinen Rezeptor bindet, werden die Begleitproteine durch Konformationsänderungen abgetrennt, und der Rezeptor wacht gewissermaßen auf.

Als Monomer, also als einzelner aktivierter Rezeptor, interagiert er im Zytoplasma und in den Organellen mit allen möglichen Strukturen. Vor allem aber wandert er als sogenannter Liganden-aktivierter nukleärer Transkriptionsfaktor zusammen mit dem Glucocorticoid durch die Kernporen in den Zellkern ein und lagert sich dort paarweise (als sogenanntes Dimer) an spezifische DNA-Sequenzen an. Dadurch regt er entweder die Ablesung von Genen an, die entzündungshemmende Proteine wie Interleukin-10 codieren, oder er blockiert die Ablesung anderer Gene, deren Produkte proinflammatorisch wirken. Darüber hinaus kann er die Wechselwirkung der Histone (also der „DNA-Kabelspulen“) und anderer Proteine mit der DNA im Zellkern beeinflussen und so auch indirekt die Ablesung von Genen verändern. Die Lehrbücher und das Internet sind voll von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Schemazeichnungen, in denen diese Abläufe mehr oder weniger vereinfacht dargestellt sind, etwa in einer Übersichtsarbeit von 2024 oder als Adobe Stock Image.

Der Itaconat-Weg

Immer wieder sprachen aber Versuchsergebnisse dagegen, dass dies der einzige Mechanismus ist, über den Glucocorticoide im Zellkern die Ablesung entzündungsfördernder Gene hemmen und die Ablesung entzündungshemmener Gene fördern. 2024 gab es einen Durchbruch: Ein Forschungsteam um Jean-Philippe Auger und Gerhard Krönke (Nature-Publikation hinter Bezahlschranke) klärte einen weiteren Wirkungsweg auf, der auch unter Stoffwechsel- und Evolutionsaspekten ziemlich einleuchtend ist – und daher auch in Band 2 meines Buches eingeht. Er führt über die Mitochondrien aktivierter Makrophagen.

In diesen Organellen, die – siehe Titelbild! – gerne als Kraftwerke der Zellen bezeichnet werden, wird aus unserer Nahrung Energie generiert – vor allem in Form von ATP-Molekülen, die dann in der ganzen Zelle biochemische Reaktionen oder Transportprozesse befeuern, die eine Energiezufuhr benötigen. Diese Energiegewinnung verläuft über drei jeweils mehrschrittige Teilprozesse:

  1. Noch außerhalb der Mitochondrien, im Zytosol, findert die Glykolyse statt. Dabei wird Glucose (6 Kohlenstoffatome) zu 2 Pyruvat-Molekülen (3 Kohlenstoffatome) zerlegt, die von einem Enzymkomplex ins Innere der Mitochondrien transportiert werden.
  2. In den Mitochondrien wird Pyruvat zu Acetyl-CoA (2 Kohlenstoffatome) und Kohlendioxid zerlegt. Auch andere Stoffwechselvorgänge wie der Abbau von Fettsäuren können Acetyl-CoA liefern. Im Citrat- oder Tricarbonsäure-Zyklus wird dieses dann zu Kohlendioxid und Wasser abgebaut; dabei werden energiereiche Elektronen in den Molekülen NADH und FADH2 gebunden. (Dieser Zyklus kann unter bestimmten Umweltbedingungen auch rückwärts verlaufen.)
  3. In der Atmungskette, die in der inneren Mitochondrien-Membran abläuft, wird durch schrittweise Übertragung der energiereichen Elektronen aus NADH und FADH2 ein Protonengradient über die Membran aufgebaut, der schließlich zur Gewinnung von ATP genutzt wird – ein Vorgang, den man sich wie die Stromgenerierung an einem Kraftwerk in einer Staumauer vorstellen kann, bei der ja ebenfalls ein Gradient (Höhenunterschied des Wassers zu beiden Seiten der Mauer) zur Energiegewinnung ausgenutzt wird.

Für uns ist hier der zweite, zyklische Stoffwechselweg entscheidend. Eines seiner frühen Zwischenprodukte ist die Aconitsäure oder cis-Aconitat. Normalerweise wird dieses gleich weiter zu cis-Citrat umgewandelt. Anders in sogenannten aktivierten Makrophagen: Behandelt man diese Immunzellen mit Lipopolysacchariden oder LPS (einem hochwirksamen Antigen aus der Hülle gramnegativer Bakterien, das die antibakterielle Abwehr stimuliert) plus Gamma-Interferon (einem an Entzündungsdreaktionen, etwa nach einer Virusinfektion, beteiligten Zytokin), so wechseln die Makrophagen in den Kampfmodus. Unter anderem stellen sie das Enzym Aconitat-Decarboxylase 1 (ACOD1) her, das in ihre Mitochondrien einwandert. Dort wandelt es Aconitat zu einem Nebenprodukt des Citrat-Zyklus um: Itaconat. (Ja, der Entdecker dieser Reaktion hat das Reaktionsprodukt einfach durch Umstellen der Buchstaben von Aconitat benannt!)

Itaconat wirkt auf mehreren Wegen entzündungshemmend – was zunächst pradox wirkt, da aktivierte Makrophagen ja eigentlich Infektionen und andere Störungen bekämpfen sollen, wozu sie eine Entzündungsreaktion unterstützen sollten. Das tun sie auch; ich gehe im nächsten Artikel darauf ein. Aber damit die Entzündung rechtzeitig beendet wird, entsteht Itaconat. Dieses Molekül ist ein klassischer Imunmetabolit: ein Stoffwechselprodukt, das zugleich als Signal innerhalb des Immunsystems wirkt. Es ist immunmodulierend, und zwar auf vielfältige Weise. So blockiert es ein Enzym in den Makrophagen-Mitochondrien, dessen Aktivität die Produktion entzündungsfördernder Zytokine und reaktiver Sauerstoffspecies fördert, die als Stress-Signale ebenfalls Entzündungen anheizen. Und es blockiert ein anderes Enzym, das normalerweise im Zellkern die Ablesung von Genen beeinflusst; auch das bremst Entzündungen.

Itaconat kann die Makrophagen auch verlassen und sich im Serum ansammeln. Von dort aus können weitere immunzellen es aufnehmen. So hat man festgestellt, dass Itaconat (bzw. künstlich hergestellte Itaconat-Derivate, die leichter zu erforschen sind) die T-Zell-Differenzierung verschiebt: Es entstehen mehr entzündungshemmende regulatorische T-Zellen (Tregs) und weniger entzündungsfördernde Th17-Zellen.

Alternative zur Glucocorticoid-Therapie?

Und jetzt kommt’s: Neben LPS, Gamma-Interferon und anderen Entzündungstriggern wie Sport können auch Glucocorticoide die Itaconat-Produktion in den Mitochondrien von Makrophagen stark erhöhen – und zwar in bereits aktivierten Makrophagen. Die Steroidhormone binden an einen Rezeptor im Zytosol, der dort das Enzym Pyruvatdehydrogenase (PDH) festhält. Durch die Bindung des Hormons löst sich der Rezeptor vom Enzym, und dieses kann in die Mitochondrien einwandern, wo es den Citratzyklus beeinflusst und damit die Itaconat-Produktion erhöht.

Glucocorticoide rufen gerade bei längerer, systemischer Gabe viele Nebenwirkungen hervor, die zum Teil so schwer werden, dass die Therapie angebrochen werden muss. Daher hat der neu entdeckte Clucocorticoid-Wirkungsweg über das Itaconat aus den Mitochondrien aktivierter Makrophagen großes Interesse geweckt: Vielleicht lassen sich stabile Itaconat-Derivate entwickeln, die die entzündungshemmende Wirkung beibehalten, aber zugleich weniger schwere Nebenwirkungen mit sich bringen.

Aber Vorsicht: Itaconat ist gewiss kein Wundermittel. Während es bei chronischen Entzündungen und Autoimmunerkrankungen womöglich die überschießenden Immunreaktionen einhegen kann, scheint es bei Krebs und Sepsis eher zu schaden. Es behindert zum Beispiel Immunreaktionen, die Tumorzellen zum Absterben bringen sollen. Und bei einer Sepsis scheint es die aus dem Ruder gelaufene Entzündung sogar zu verstärken, statt sie zu beenden. Bis zu einem möglichen Einsatz wird daher noch viel Pyruvat den Citratzyklus hinunterfließen.

Literatur:

Studie in Nature entschlüsselt, wie Kortison Entzündungen dämpft (PM zu Auger et al., 2024)

Yin Luo et al. (2024): Metabolic Regulation of Inflammation: Exploring the Potential Benefits of Itaconate in Autoimmune Disorders

Eva M. Pålsson-McDermott, Luke A.J. O’Neill (2025): Gang of 3: How the Krebs cycle-linked metabolites itaconate, succinate, and fumarate regulate macrophages and inflammation

Maria Tada, Michihito Kono (2025): Metabolites as regulators of autoimmune diseases

Yifan Xie (2025): Itaconate: A Potential Therapeutic Strategy for Autoimmune Disease

 

 

Mensch, Maus, Tomate: verblüffende Unterschiede und Parallelen in der Regulierung von Entzündungen

Interleukin-1 (IL-1) ist ein proinflammatorisches Cytokin, also ein Botenstoff, der Entzündungsreaktionen auslöst oder fördert. Er wird in allen möglichen Zellen unseres Körpers produziert und liegt zunächst als inaktive Vorform im Zytoplasma, also im Zellinneren vor. Erst wenn die Zelle ein Alarmsignal an ihre Umgebung aussenden will, etwa weil sie eine Verletzung oder Infektion spürt, die eine Immunreaktion erfordert, bearbeitet sie das Protein so, dass es aus der Zelle austreten kann. Im Zwischenzellraum kann IL-1 dann an einen IL-1-Rezeptor auf der Außenseite einer anderen Zelle binden, etwa einer Immunzelle, die dadurch aktiviert wird und eine Signalkette auslöst, die zu Entzündungsreaktionen beiträgt. So können zum Beispiel weitere proinflammatorische Interleukin-Gene im Zellkern der Immunzelle abgelesen werden, oder die Immunzelle schüttet bereits produzierte Substanzen aus, die zur Anschwellung und Erwärmung des Gewebes, Gefäßweitung, Anlockung weiterer Immunzellen usw. führen.

Das darf natürlich nicht ständig passieren, sonst würde jede kleine Störung und jeder Irrtum der ersten Zelle in dieser Reaktionskette zu Entzündungen führen, die dann womöglich einen Teufelskreis auslösen, wie es bei autoinflammatorischen Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen der Fall ist. Daher gibt es einen Antagonisten: einen Botenstoff, der dem Interleukin-1 ähnelt und ebenfalls an den IL-1-Rezeptor binden kann, dort aber keine Signalkette auslöst, sondern den Rezeptor blockiert. Dieser IL-1-Rezeptorantagonist (IL-1RA) gehört ebenfalls zur Grundausstattung fast aller unserer Zellen und legt im Normalfall den Großteil der Rezeptoren lahm. Erst wenn wirklich viel IL-1 im Zellzwischenraum unterwegs ist, weil zum Beispiel gleich mehrere Zellen in der Umgebung kräftig Alarm geben und IL-1 ausschütten, verdrängt das proinflammatorische IL-1 den antiinflammatorischen Antagonisten IL-1RA von den Rezeptor-Bindungsstellen.

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Viren, die menschliche Proteine imitieren, sind häufiger als gedacht – und können Autoimmunerkrankungen auslösen

Nach langer Pause fange ich wieder an mit kleinen Hinweisen auf von Fachartikeln oder Sekundärliteratur rund um Autoimmunerkrankungen, Evolution des immunsystems usw. Dabei bleibe ich an der Oberfläche, denn diese Beiträge sollen so schnell entstehen, dass sie das Weiterschreiben an Band 2 nicht beeinträchtigen.

Von diesen Zusammenfassungen erhoffe ich mir, dass neu entdeckte Fachliteratur, die nicht direkt zu dem Buchkapitel passt, an dem ich gerade schreibe, mir so besser im Gedächtnis bleibt. Und dem Blog tun neue Inhalte sicher auch ganz gut – obwohl die Zugriffszahlen in den letzten Jahren, in denen hier wenig passiert ist, mich immer wieder positiv überraschen. (Es sind derzeit über 40.000 Zugriffe im Monat.) Los geht’s!

Im März 2025 hat Shelby Bradford in The Scientist eine Arbeit des Teams um Esther Melamed an der Universität von Texas zusammengefasst, die ein Thema aufgreift, das auch hier im Blog schon öfter Thema war: molekulare Mimikry. Viren können Aminosäuresequenzen oder die dreidimensionale Gestalt von Proteinen ihrer Wirte nachahmen, um von deren Immunsystem nicht als fremd erkannt und bekämpft zu werden. Manchmal schlägt unser Immunsystem aber doch Alarm. Und das kann Autoimmunstörungen auslösen, weil dann nicht nur die fremden Eindringlinge bekämpft werden, sondern auch unsere eigenen Zellen, die ja die nachgeahmten Vorbild-Proteine enthalten. Das Prinzip ist lang bekannt, aber es gab nur wenige eindeutige Belege – im Grunde nur die Korrelation von bestimmten Herpesviren (EBV) mit Multipler Sklerose.

In der Zeit der Corona-Maßnahmen war an Forschung in Präsenz, etwa im Labor, phasenweise nicht zu denken – also hat sich das Team auf die Remote-Auswertung von Datenbanken gestürzt. Die Grundidee: Während man früher vor allem die dreidimensionale Gestalt von Proteinen aus Viren und ihren Wirten verglichen hat, weil Antikörper nun mal an räumliche Strukturen binden, lohnt sich auch die Suche nach linearen Sequenzen von 8 bis 18 Aminosäuren Länge. Denn T-Zellen erkennen solche linearen Proteinschnipsel – und können, wenn sie autoreaktiv sind, ebenso Autoimmunstörungen auslösen wie autoreaktive B-Zellen.

Das Resultat: Viele Viren, die Menschen chronisch infizieren, vor allem aus den Familien Herpesviridae und Poxviridae, enthalten solche Mimikry-Sequenzen. Die nachgeahmten Proteine sind in unseren Zellen vor allem für Zellteilung und für Entzündungsreaktionen zuständig, und ihre Gene liegen auf allen möglichen Chromosomen – aber nur selten auf dem Y-Chromosom. Offenbar gab es einen Selektionsdruck auf die Viren, Proteine nachzuahmen, die in möglichst vielen Zelltypen vorkommen, und zwar bei allen Menschen, nicht nur bei Männern.

Das Team hat diese Mimikry-Sequenzen auch mit den menschlichen Genen verglichen, die in unseren Thymuszellen exprimiert werden, um dort autoreaktive T-Zellen auszusortieren. Die Überlappung ist groß, sodass T-Zellen, deren Rezeptoren auf die Erkennung dieser körpereigenen und zugleich von Viren nachgeahmten Sequenzen spezialisiert sind, eigentlich eliminiert werden sollten. Allerdings verläuft der Sortierprozess bekanntlich unvollkommen, sodass zahlreiche potenziell autoreaktive T-Zellen übrig bleiben. Bei einer Infektion mit einem Virus, das diese Sequenzen enthält, können sie aktiviert werden und Autoimmunerkrankungen auslösen.

(Die Originalarbeit habe ich nicht gelesen; mir reicht vorerst die Darstellung in The Scientist.)

 

Cartoon von 1931: Ein Mann lässt sich von einerm Automaten den Mund abwischen

Die Evolution ist ein Bastler, und manchmal baut sie Rube-Goldberg-Maschinen

Im Manuskript für den 2. Band stelle ich gerade dar, wie das Leben schwimmen lernte. LUCA, der letzte gemeinsame Urahn aller Lebensformen, hatte zwar vermutlich schon die Komplexität heutiger Bakterien und verfügte über ein ausgefeiltes Immunsystem (sogar mit einer erworbenen Abwehr, also einem Gedächtnis für frühere Infektionen). Aber er konnte sich wohl noch nicht fortbewegen und war daher an jenen hydrothermalen Schlot am Meeresgrund oder einen ähnlichen Ort gebunden, an dem er aus präbiotischen Makromolekülen entstanden war.

Sowohl Archaeen als auch Bakterien, die beiden Hauptäste des Stammbaums allen Lebens, können sich mit rotierenden Zellanhängen durchs Wasser schrauben, aber kurioserweise sind diese ähnlich funktionierenden Anhänge komplett unterschiedlich konstruiert, was auf eine Entstehung erst nach der ersten Aufspaltung des Lebensbaums hinweist. Beide Apparaturen, die Flagellen der Bakterien und die Archaellen der Archaeen, sind zudem unglaublich kompliziert aufgebaut, und sie scheinen vom Himmel gefallen zu sein: Man kennt keine einfacheren Vorformen.

Solche Fälle von „irreduzibler Komplexität“ werden von Kreationisten gerne als Belege für intelligent design angeführt, also für das zielgerichtete, planmäßige Wirken eines Schöpfers. Aber das ist Unsinn. Vielmehr geht eine solche irreduzible Komplexität auf ein Grundprinzip der darwinistischen Evolution zurück: die Exaptation, die „Zweckentfremdung“ bestehender Eigenschaften von Lebewesen.

Dieses Prinzip hat der Molekularbiologe François Jacob bereits in den frühen 1980ern in seinem Essay „Die Bastelei der Evolution“ dargestellt: „Die Evolution schafft ihre Neuheiten, anders als der Ingenieur, nicht aus dem Nichts. Sie arbeitet mit dem, was bereits vorhanden ist, sei es, daß sie ein älteres System abändert und ihm eine neue Funktion zuweist, sei es, daß sie mehrere Systeme zu einem komplexeren zusammenfaßt. […] kurz, wie ein Bastler, der das, was er um sich herum findet, benutzt, um daraus einen brauchbaren Gegenstand zu machen. […] Wenn aus einem Teil der Speiseröhre eine Lunge wird, dann ist das etwas ganz Ähnliches, wie wenn aus Omas Gardine ein Rock wird.“

Diese Wiederverwendung alter Strukturen in neuen Zusammenhängen führt zwangläufig dazu, dass die so entstandenen Organe oder Zellstrukturen teils unlogisch wirken und teils irreduzibel komplex: Sie tragen ihre gesamte Entstehungsgeschichte mit sich herum, ihre Anpassung an die ehemalige Funktion. Ihre weitere Entwicklung verläuft in vorgebahnten, tief ausgewaschenen Tälern der Evolutionslandschaft. Sie haben wilde Steampunk-Schnörkel und arbeiten mit zehn Zahnrädern, wo ein Ingenieur sich auf zwei beschränken würde.

In einem Einführungsartikel zu einer Forschungsarbeit hat Morgan Beeby die Archaellen und mit ihnen verwandte fädige Zellanhänge bei den Archaeen und Bakterien 2019 mit den allseits beliebten Rube-Goldberg-Maschinen verglichen: Die Proteingruppe, zu der sie gehören, die sogenannte TFF-Superfamilie, wurde im Lauf der Evolution zu einem abenteuerlichen Maschinenpark, in dem wir Injektionspumpen, Saugroboter, Enterhaken, rotierende Peitschen und allerlei andere Geräte finden. Alle gehen sie vermutlich auf einen ein- und ausfahrbaren Stab zurück, mit dem unser Urahn LUCA DNA aus seiner Umgebung eingesammelt hat.

Dieses Gefühl, eine unnötig komplizierte Maschinerie vor sich zu haben, kennen vermutlich alle, die sich mit dem menschlichen Immunsystem auseinandersetzen. Auch das lässt sich nur durch die Bastelei der Evolution erklären, die im ewigen Pingpong der Angriffe von Parasiten und der Abwehr seitens ihrer Wirte zu allem gegriffen hat, was sie finden konnte. Aus Streichhölzern und Gummibändern hat sie in gut vier Milliarden Jahren trojanische Pferde gebaut, die in trojanischen Pferden stecken, die in trojanischen Pferden stecken.

 

Literatur:

François Jacob: „Le jeu des possibles. Essai sur la diversité du vivant“, Fayard 1981. Zitat aus der deutschen Übersetzung von Friedrich Griese, Taschenbuch-Ausgabe 1984 unter dem Titel „Das Spiel der Möglichkeiten“ bei Piper; dort auf S. 50ff.

Morgan Beeby (2019): Evolution of a family of molecular Rube Goldberg contraptions

Jahreszeitliche Schwankungen der Schilddrüsenhormonwerte

Was für ein Zufall: Vorgestern habe ich beim Hausarzt endlich den TSH-Wert erfragt, der im Januar erhoben worden war. Ich hatte das bisher nicht getan, da ich mich im Winter und auch seither gut eingestellt fühlte. Das ist nur in einem recht schmalen TSH-Werte-Korridor der Fall – viel schmaler jedenfalls als das Spektrum normaler Werte bei Gesunden, das bei „meinem“ Labor von 0,55 bis 4,80 mIU/L reicht.

Als Faustregel habe ich mir gemerkt, dass der Wert bei mir nicht unter 0,8, aber auch nicht über 1,5 mIU/L liegen sollte. Darunter werde ich extrem hibbelig und fahrig, darüber werde ich nicht richtig wach. Daher wunderte es mich, dass die TSH-Konzentration in meinem Serum im Januar bei 1,68 mIU/L lag, obwohl ich nicht total schlapp, verfröstelt und langsam war.

Zack: Gestern gab es bei DocCheck eine mögliche Erklärung. Die mittleren Konzentrationen des Thyroxins (insbesondere FT3) und des Thyreoidea-stimulierenden Hormons schwanken einer neuen japanischen Studie zufolge bei Gesunden im Jahresverlauf erheblich. Während der mediane TSH-Wert der 7000 Probandinnen und Probanden im Mai nur 1,16 betrug, waren es im Januar 1,61 – also fast genauso viel wie bei mir.

Zwar lassen sich die jahreszeitlichen Schwankungen bei Gesunden nicht eins zu eins auf Menschen mit Hashimoto-Thyreoiditis übertragen, die – wie ich – rund ums Jahr dieselbe Thyroxin-Menge einnehmen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass der Thyroxin-Bedarf des Körpers auch bei mir im Jahresverlauf ein wenig schwankt, was wiederum systematische Änderungen des TSH-Werts nach sich zieht, der ja den aktuellen Thyroxin-Bedarf des Körpers signalisiert. Zum Beispiel wiege ich im Winter meist etwas mehr; es muss also schlicht mehr Gewebe versorgt werden; außerdem greift gerade Fettgewebe in die Hormonkreisläufe ein. Auch muss der Körper im Winter mehr heizen, und die Körpertemepratur wird ebenfalls über Thyroxin reguliert.

Der Mehrbedarf war aber offenbar nicht groß genug, um sich auf mein Wohlbefinden auszuwirken. Daher bleibe ich bis auf weiteres bei dem übers Jahr konstanten Einnahmeschema. Ich verstehe aber jetzt besser, warum manche Menschen mit Hashimoto-Thyreoiditis berichten, dass sie im Urlaub weniger Thyroxin brauchen und daher die Einnahmemenge reduzieren – vorausgesetzt, sie reden vom Sommerurlaub!

Cartoon eines Mitochondriums als Fabrik, die vor allem Energieträger erzeugt

Die Rolle der Mitochondrien in systemischen Autoimmunerkrankungen

Mein Text über T-Zellen mit Stoffwechselproblemen ist gut sieben Jahre alt. Höchste Zeit für ein Update: Welche Rolle spielt der Zellstoffwechsel bei der Entstehung und der Bekämpfung von systemischen Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Lupus (SLE)? Was geschieht mit den Zellen und Regelkreisläufen des Immunsystems, wenn unsere Mitochodrien nicht so funktionieren, wie sie es sollten? Der aktuellen Kenntnisstand dazu ist in einem Review nachzulesen (Open Access):

Blanco LP, Kaplan MJ (2023): Metabolic alterations of the immune system in the pathogenesis of autoimmune diseases. PLoS Biol 21(4): e3002084. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3002084

Der Artikel enthält ein Glossar mit den wichtigsten Grundbegriffen und einige mittelprächtige Abbildungen. Viele Aussagen sind – wie so oft in narrativen Reviews – recht vage, nach dem Schema: X könnte Y bewirken. Und man verliert sich leicht in den zahlreichen Details der dargestellten Signalketten und Stoffwechselwege, die ich im Folgenden weglasse.

Bevor ich die Arbeit zusammenfasse: ein Wort zur sogenannten Mitochondrien-Medizin. Ich reagiere etwas allergisch auf den Ausdruck, da mir dieser alternativmedizinische Ansatz arg esoterisch erscheint, wie ein Glaubenssystem, dessen Anhänger ab und zu auch mich zu bekehren versucht haben oder in mir eine Verbündete zu sehen meinten. Insofern passt es, dass dieser Text nach dem über die Just-so-Stories erscheint: Die Hypothese, auf der Mitochondrien-Medizin fußt, klingt furchtbar einleuchtend, aber das Ganze ist nicht gerade evidenzbasiert. Dysfunktionale Mitochondrien sind tatsächlich an (zumindest einigen) Autoimmunerkrankungen beteiligt. Aber die Zusammenhänge sind komplex und vermutlich nicht bei allen Autoimmunerkrankungen gleich, und die entsprechenden Therapieansätze sind so unausgereift, dass gegenüber schlichten Ernährungsregeln oder anderen Formen der Selbsttherapie zur Mitochondrien-„Heilung“ vorerst gehörige Skepsis angebracht ist. Jetzt aber zu Blanco und Kaplan:

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Eine Impfung gegen Rheuma?

Eine kurze Literaturnotiz, die zudem nur auf dem Abstract eines Fachartikels beruht, da ich an den Volltext nicht herankomme:

Vilma Urbonaviciute et al. (2023): Therapy targeting antigen-specific T cells by a peptide-based tolerizing vaccine against autoimmune arthritis. In: PNAS, 12. Juni 2023, 120 (25) e2218668120

Bisherige Therapien bei Autoimmunerkrankungen bekämpfen meist recht unspezifisch die Entzündungen oder einzelne Symptome wie Schmerzen, oder man versucht das Immunsystem komplett „zurückzusetzen“, also z. B. alle B-Zellen (und damit auch die autoreaktiven B-Zell-Klone) zu eliminieren. All das geht mit erheblichen Nebenwirkungen einher.

Nun hat ein Forschungsteam an Mäusen einen spezifischeren und zudem vorbeugenden Ansatz erprobt: Ein MHC-Klasse-II-Protein (also ein „Antigen-Präsentationsteller“, wie man ihn normalerweise auf Makrophagen, Monozyten, dendritischen Zellen oder B-Zellen findet) wurde mit einem galatolysierten Kollagen-Typ-II-Peptid (kurz COL2) beladen. Diese Makromolekül-Kombination wurde Mäusen eines Zuchtstamms injiziert, der zu einer Autoimmun-Arthritis neigt, also einem Tiermodell einer rheumatoiden Arthritis.

Das Konstrukt ist positiv geladen und kann so direkt mit dem passenden antigenspezifischen T-Zell-Rezeptor interagieren, was zur Vermehrung eines bestimmten, sonst seltenen Typs von regulatorischen T-Zellen (Tregs) führt. Diese Tregs unterdrücken spezifisch die Autoimmunreaktionen auf den Collagen-Schnipsel, und zwar so stark, dass die Tiere trotz ihrer Veranlagung keine Arthritis bekommen. Überträgt man die Tregs auf andere Mäuse, so bekommen auch diese keine Autoimmun-Arthritis; damit ist der Beweis erbracht, dass wirklich diese regulatorischen T-Zellen die Toleranz des Immunsystems gegenüber dem körpereigenen Kollagen wiederherstellen.

Die Autor*innen hoffen, dass diese Form der Toleranz-Induktion durch Impfung auch beim Menschen funktioniert und bei Individuen mit entsprechender genetischer Prädisposition den Ausbruch von Rheuma und womöglich auch anderen Autoimmunerkrankungen verhindern kann. Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg – wenn es überhaupt klappt und sich als sicher erweist.

Fische sind cool: Eine Just-so-Story über die Konsequenzen der Warmblütigkeit

Vor gut 120 Jahren, im Jahr 1902, veröffentlichte der britische Autor Rudyard Kipling eine Geschichtensammlung mit dem Titel „Just So Stories for Little Children“: logisch klingende, aber frei erfundene Erklärungen dafür, wie Tiere zu ihren auffälligsten Merkmalen gekommen sind, etwa das Kamel zu seinem Höcker oder der Elefant zu seinem Rüssel. Ihren Titel verdankt die Sammlung der Forderung seiner jungen Tochter, dass er die Geschichten „genau so“ erzählen oder vorlesen müsse, jeden Abend exakt gleich. In Anlehnung an Kipling bezeichnen Evolutionsbiologen schwer überprüfbare (oder zumindest noch nicht überprüfte), aber verführerisch einleuchtend klingende Erklärungen für die evolutionäre Herausbildung von tierischen Merkmalen oder menschlichen Eigenschaften als Just-so-Stories.

Die roten Blutkörperchen oder Erythrozyten der Säugetiere sind scheibenförmig und in der Mitte dünner als am Rand, denn sie enthalten keinen Zellkern und keine Organellen, dafür aber viel Hämoglobin, um Sauerstoff aus den Lungen über die Blutbahn in die Organe zu transportieren:

In Fischen, Amphibien und Reptilien haben die Erythrozyten dagegen einen Kern, und sie übernehmen wichtige Aufgaben im Immunsystem. So helfen sie bei der Bekämpfung von Viren-, Bakterien- und Pilz-Infektionen, etwa durch die Ausschüttung von Botenstoffen und reaktiven Sauerstoffspezies oder durch die Bindung, Aufnahme, Verarbeitung und Präsentation von Antigenen. Zwar enthalten sie auch Hämoglobin und dienen dem Sauerstofftransport, aber daneben sind sie vollwertige, wehrhafte Immunzellen:

Dass die roten Blutkörperchen der Säugetiere ihre Kerne kurz nach der Entstehung im Knochenmark abstoßen, klingt zunächst nach einem Rückschritt. Denn da sie ohne Kerne und Organelle keine Proteine mehr produzieren können, spielen sie im Immunsystem der Säuger eine so untergeordnete Rolle, dass sie in Listen der Zelltypen des Immunsystems meist gar nicht aufgeführt werden. Stattdessen konzentrieren sich die abgeflachten Zellen ganz auf den Sauerstofftransport; das Hämoglobin macht 90 Prozent ihres Trockengewichts aus.

Über den Grund für den Verlust des Zellkerns der Säugetier-Erythrozyten kursiert eine Just-so-Story: Fische, Amphibien und Reptilien sind wechselwarme (poikilotherme oder ektotherme) Tiere, deren Körpertemperatur von der Umgebungstemperatur abhängt. Säugetiere sind dagegen gleichwarme (homoiotherme oder endotherme) Tiere, umgangssprachlich auch Warmblüter genannt. In dem meisten Lebenslagen müssen sie viel Energie aufwenden, um ihren Körper aufzuheizen. Dadurch sind sie weniger abhängig vom Wetter, können beispielsweise ihre Jungen im Leib austragen und vielfach auch im Winter aktiv bleiben. Um die Wärme zu generieren, braucht ihr Gewebe viel Energie, und um Energieträgermoleküle wie ATP aufzubauen, braucht es sehr viel Sauerstoff. Den schaffen die roten Blutkörperchen herbei. Also weg mit deren Zellkernen, her mit Unmengen an Hämoglobin, um den Körper mit Sauerstoff zu versorgen!

Klingt logisch – zumal Säugetiere ja zumeist an Land leben und nicht ständig in einer Bakterien- und Virensuppe herumschwimmen, während Fische und auch Amphibienlarven das Wasser sogar durch ihre Kiemen filtern, also ständig sehr eng mit vielen Krankheitserregern in Berührung kommen.

Aber … Moment mal! Was ist denn mit den Vögeln? Auch sie sind gleichwarm, brauchen also meistens viel Energie, um sich gegenüber der Umgebung aufzuheizen. Und ihre roten Blutkörperchen?

Tja: Die haben trotzdem Zellkerne. Damit fällt die einleuchtende Erklärung für den Kernverlust der Säugetier-Erythrozyten in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Nicht immer sind Just-so-Stories so leicht zu erkennen. Wir Menschen haben das Bedürfnis, Dinge zu begreifen, und verspüren oft eine tiefe Befriedigung, wenn wir auf eine nachvollziehbare Erklärung für ein Phänomen stoßen. Im Autoimmunbuch und im Friendly-Fire-Blog bin ich besonders anfällig für Just-so-Stories, denn ich schreibe dies alles ja in erster Linie, um mir selbst und anderen Interessierten unser Immunsystem und die Entstehung von Autoimmunerkrankungen begreiflich zu machen. Denn je besser ich die unheimlichen Entgleisungen meines Immunsystems verstehe, desto weniger ängstigen sie mich. Auch wenn ich skeptisch und wachsam zu bleiben versuche, wird bestimmt die eine oder andere evolutionsbiologische oder ökologische Herleitung im Buch und im Blog schlecht altern. Aber das nehme ich in Kauf.

Asthma ist mit rheumatoider Arthritis assoziiert

Vor elf Jahren habe ich hier drei Texte zum Verhältnis zwischen Allergien bzw. Asthma und Autoimmunerkrankungen veröffentlicht:

Schließen Autoimmunerkrankungen und Allergien einander aus? Teil 1

Schließen Autoimmunerkrankungen und Allergien einander aus? Teil 2

Schließen Autoimmunerkrankungen und Allergien einander aus? Teil 3

Das durchwachsene Fazit: Einige Autoimmunerkrankungen könnten bei Menschen mit (bestimmten Formen von) Asthma seltener auftreten als bei Menschen ohne Asthma. Andere Studien fanden keine positive oder negative Assoziationen zwischen Asthma oder Allergien auf der einen und verschiedenen Autoimmunerkrankungen auf der anderen Seite.

Die Vorstellung, dass Asthma oder Allergien vor Autoimmunerkrankungen „schützen“, wurde durch das schon damals veraltete Konzept einer einseitigen Dominanz Th1- oder des Th2-Wegs im Immunsystem gefördert, dem zufolge entweder die zelluläre Abwehr (über)aktiv wird oder aber die humorale Abwehr, also die Antikörperproduktuion. Asthma und Allergien wurden mehrheitlich dem Th2-Arm zugeordnet, Autoimmunerkrankungen dem Th1-Arm. Schon 2012 war aber klar, dass Th17-Zellen und regulatorische T-Zellen bei vielen Erkrankungen ebenfalls wichtig sind und dass der Th1- und Th2-Arm einander keineswegs vollständig hemmen: Bei vielen Autoimmunstörungen, die primär durch überaktive T-Effektorzellen (also durch den Th1-Arm) geprägt sind, lassen sich auch hohe Konzentrationen von Autoantikörpern (Th2-Arm) nachweisen – nur ist oft nicht klar, ob sie zum Erkrankungsmechanismus beitragen oder ein reines Epiphänomen darstellen.

Zeit für ein Update! Der Anlass ist eine neue koreanische Studie, in der das Verhältnis von rheumatoider Arthritis (RA), einer von Th1- und Th17-Zellen geprägten Autoimmunerkrankung, zu Asthma bronchiale und anderen chronischen entzündlichen Atemwegserkrankungen untersucht wurde, bei denen Th2-Zellen dominieren:

Kim et al. (2023): Association of rheumatoid arthritis with bronchial asthma and asthma-related comorbidities: A population-based national surveillance study

An der Studie beteiligten sich gut 14.000 Personen über 40 Jahren. Bei ihnen war RA signifikant mit Asthma, allergischer Rhinitis und Sinusitis assoziiert. Die Korrelation war also nicht negativ im Sinne einer Schutzwirkung, sondern positiv: Menschen mit Asthma hatten z. B. mit einer gut doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit auch RA wie Menschen ohne Asthma. Das Studiendesign erlaubte zwar keine Aussagen über die Richtung des Zusammenhangs, aber da Asthma und Allergien oft bereits in jungen Jahren auftreten, Rheuma aber erst spät im Leben, liegt es nahe, dass Asthma und Allergien Risikofaktoren für Rheuma sind und nicht umgekehrt. Es gibt auch Längsschnittstudien, die darauf hindeuten.

Neu gegenüber den Untersuchungen, die ich 2012 vorgestellt habe, ist der vorgeschlagene Mechanismus hinter diesem Zusammenhang: Schleimhautentzündungen in den Atemwegen erhöhen die sogenannte Citrullinierung. Bei dieser enzymatischen Reaktion wird die Aminosäure Arginin, die in unseren Proteinen vorkommt, in die ähnliche Aminosäure Citrullin umgewandelt, die der menschliche Körper normalerweise nicht herstellt. Diese kleine Modifikation kann dazu führen, dass ein Protein eine etwas andere Faltungskonfiguration einnimmt und daher dem Immunsystem fremd vorkommt. So kann eine Autoimmunreaktion ausgelöst werden, die sich gegen ein körpereigenes Protein richtet. Das scheint bei seropositivem Rheuma der Fall zu sein – siehe Abbildung 111 und Abbildung 231 aus Band 1 des Autoimmunbuchs sowie meine Zusammenfassungen der Arbeiten von Wegner et al. und Routsias et al. Auch Asthma verstärkt die Citrullinierung, und Asthma-Patient*innen haben mehr Antikörper gegen citrullinierte Proteine im Blut als Menchen ohne Asthma.

Wo ich schon dabei war, habe ich auch noch die Abstracts zweier weiterer Veröffentlichungen ausgewertet:

Charoenngam et al. (2020): Patients with asthma have a higher risk of rheumatoid arthritis: A systematic review and meta-analysis

Eine Metaanalyse von Kohortenstudien zeigt, dass Patient*innen mit Asthma ein etwa um den Faktor 1,4 (signifikant) erhöhtes Risiko haben, an RA zu erkranken. Auch eine Metaanalyse von Fall-Kontroll-Studien zeigt ein etwa um den Faktor 1,3 erhöhtes Risiko.

Williams et al. (2023): The uni-directional association of atopic dermatitis and rheumatoid arthritis: a systematic review and meta-analysis

Atopische Dermatitis oder Neurodermitis ist ein gutes Beispiel für die Unzulänglichkeit des alten Th1-versus-Th2-Paradigmas: Die Erkrankung beginnt mit einer Dominanz von Th2-Helferzellen, die die IgE-Antikörper-Produktion fördern, und geht dann zu einer Th1-Dominanz über.

In dieser Studie ist die Richtung klar: Patient*innen mit Rheuma haben kein signifikant erhöhtes Risiko, auch atopische Dermatitis zu bekommen. Umgekehrt geht eine atopische Dermatitis aber wohl mit einem höheren Risik einher, auch an Rheuma zu erkranken. Bei anderen Formen von Arthritis zeigten sich keine klaren Zusammenhänge.

Da die atopische Dermatitis durch häufige Entzündungen der Haut geprägt ist, könnte auch hier die Citrullinierung eines Proteins in der Haut das Bindeglied zum Rheuma sein. Das ist aber Spekulation meinerseits; es geht nicht aus dem Abstract hervor.

Multiple Sklerose und das Epstein-Barr-Virus: MS wegimpfen?

Kürzlich tauchte auf der tagesschau-Website eine Meldung auf: „Epstein-Barr-Virus: Impfung bald möglich?“ Berichtet wurde über die Forschung von Professor Wolfgang Hammerschmidt vom Helmholtz Zentrum in München: Dieser habe „gemeinsam mit anderen Forschenden einen Impfstoff gegen das Virus entwickelt, um das Pfeiffersche Drüsenfieber zu verhindern, das wissenschaftlich infektiöse Mononukleose genannt wird. Der Impfstoff, der bereits von einem Pharmaunternehmen produziert wird, soll nächstes Jahr in eine klinische Prüfung gehen, also am Menschen getestet werden.“

Und weiter: „Auch Professor Nicholas Schwab von der Uniklinik in Münster hält eine Impfung gegen das Epstein-Barr-Virus für ausgesprochen wünschenswert. Denn mit seinen jüngsten Forschungen konnte er bestätigen, was andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermutet hatten: Dass EBV eine entscheidende Rolle spielen kann bei der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose, kurz MS.“

Da fiel mir wieder ein, dass ich im Frühjahr kurz überlegt hatte, zu zwei viel diskutierten neuen Forschungsarbeiten über Multiple Sklerose und Epstein-Barr-Viren zu bloggen. Ich hatte mich dann dagegen entschieden, weil mir die zum Teil überzogenen Erwartungen, die Vielzahl der vorgeschlagenen Wirkmechanismen bei der Entstehung von MS und die Überhöhung von Indizien zu Beweisen oder von Korrelationen zu kausalen Zusammenhängen bei diesem Thema seit Jahren auf den Zeiger gehen.

Schon vor 10 Jahren schrieb ich hier im Blog: „Ehrlich gesagt habe ich es aufgegeben, bei Multipler Sklerose den Überblick über die Fachliteratur und die Diskussionen zu ihren Ursachen und Mechanismen zu behalten: Nach meinem Eindruck wird alle paar Wochen eine neue Sau durchs Dorf getrieben, und oft wird mir nicht klar, welche Studienergebnisse nun mit welchen Theorien zusammenpassen und was sich gegenseitig ausschließt.“ Daran hat sich nichts geändert.

Nun schreibe ich doch über das verhasste Thema, denn die Impfungen, die hier in Aussicht gestellt werden, möchte ich ein wenig einordnen. Viele Details lasse ich weg; wer mag, kann sie in den unten verlinkten Artikeln nachlesen.

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